Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IV 222



99 IV 222

51. Urteil des Kassationshofes vom 2. November 1973 i.S. Polizeiamt der
Stadt Winterthur gegen Suter Regeste

    Art. 1 Abs. 8 Satz 2 VRV. Strassenverzweigung.

    Eine aus unbebautem Land führende, keinen Durchgangsverkehr aufweisende
und als Sackgasse gekennzeichnete Strasse bildet beim Zusammentreffen
mit einer Quartierstrasse keine Verzweigung.

Sachverhalt

    A.- Im sog. Grüzefeld in Winterthur mündet auf der Höhe der
Wingertlistrasse die 5, 1 m breite und geteerte alte Seenerstrasse über ein
auf die Fahrbahn abgesenktes Trottoir in die 7,1 m breite Etzbergstrasse.
Bei der Zufahrt zur alten Seenerstrasse steht am rechten Strassenrand
ein Signal Nr. 201 (allgemeines Fahrverbot) mit dem ergänzenden Vermerk
"Zubringerdienst gestattet". Darunter ist das Zeichen "Sackgasse"
(Signal Nr. 315) angebracht.

    Suter führte am 24. Juli 1972, ca. 15.50 Uhr, einen Sattelschlepper auf
der alten Seenerstrasse gegen die Etzbergstrasse. Als er diese überquerte,
um in die Wingertlistrasse einzufahren, wurde er von dem von links auf
der Etzbergstrasse herannahenden Personenwagen des Kupper gerammt. An
beiden Fahrzeugen entstand Sachschaden.

    B.- Das Polizeiamt der Stadt Winterthur verurteilte Suter am
19. Oktober 1972 u.a. wegen Widerhandlung gegen die Art. 31 Abs. 1,
36 Abs. 4 SVG und 15 Abs. 3 VRV zu einer Busse von Fr. 60.-.

    Mit Urteil vom 25. Januar 1973 sprach ihn das Bezirksgericht Winterthur
frei. Eine gegen diesen Entscheid vom Polizeiamt der Stadt Winterthur
gerichtete Nichtigkeitsbeschwerde wies das Obergericht des Kantons Zürich
am 11. September 1973 ab.

    C.- Das Polizeiamt der Stadt Winterthur führt eidg.
Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt Schuldigsprechung des Suter im Sinne
der am 19. Oktober 1972 erlassenen Strafverfügung.

    D.- Suter trägt auf Abweisung der Beschwerde an.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerde macht geltend, die alte Seenerstrasse stelle im
Verhältnis zur Etzbergstrasse bloss eine Ausfahrt im Sinne von Art. 1
Abs. 8 Satz 2 VRV dar, weshalb Suter gemäss Art. 15 Abs. 3 VRV zur
Gewährung des Vortritts gegenüber Kupper verpflichtet gewesen wäre.

Erwägung 2

    2.- Eine mit dem Signal "allgemeines Fahrverbot" (Nr. 201) belegte
Verkehrsfläche bildet an der Stelle, wo sie mit einer dem Fahrverkehr
geöffneten Strasse zusammentrifft, keine Verzweigung im Sinne von
Art. 1 Abs. 8 VRV (BGE 91 IV 145 Erw. 2). Im vorliegenden Fall galt
das allgemeine Fahrverbot aber nicht uneingeschränkt. Das Signal war
vielmehr mit dem Zusatz "Zubringerdienst gestattet" versehen. Dadurch
wurde das Befahren der alten Seenerstrasse für bestimmte Zwecke allgemein
erlaubt. Dieser Umstand konnte aber auf die Anwendung der Verkehrsregeln
über das Vortrittsrecht nur Einfluss haben, wenn die beschränkt befahrbare
Strasse für den allgemeinen Fahrverkehr eine derart untergeordnete
Bedeutung hatte, dass sie im Vergleich mit der Strasse, mit der sie
zusammentraf, einer blossen Ausfahrt im Sinne des Art. 1 Abs. 8 Satz 2
VRV gleichzustellen war (BGE 91 IV 41, 146).

    Das trifft im vorliegenden Falle zu. Nach der Feststellung der
Vorinstanz handelt es sich bei der alten Seenerstrasse nur noch
um ein Reststück der früheren Seenerstrasse, das in unbebautes und
grösstenteils landwirtschaftlich genutztes Land führt. Ein Teil davon
wird als Kiesdeponie verwendet; am Unfalltag wurde mit einer Erdmaschine
Humus geschürft und mit Lastwagen weggeführt.

    Schon deshalb hat die fragliche Strasse für den Fahrverkehr praktisch
keine Bedeutung mehr. Dazu kommt, dass sie als Sackgasse gar nicht für
den Durchgangsverkehr bestimmt ist. Sodann spricht die bauliche Anlage
der alten Seenerstrasse dafür, dass sie im Verhältnis zur Etzbergstrasse
eine ganz untergeordnete Verkehrsbedeutung hat. Denn im Gebiet, wo sie
mit dieser zusammentrifft, ist das der Etzbergstrasse entlangführende
Trottoir nicht unterbrochen, sondern bloss abgesenkt. Zudem ist die alte
Seenerstrasse an dieser Stelle nicht verbreitert. Es handelt sich also
um eine Ausfahrt, deren Verkehrsbedeutung nicht grösser ist als die
eines Feldweges (Art. 15 Abs. 3 VRV). Dass die alte Seenerstrasse 5,l
m breit und geteert ist, ändert daran nichts, ebensowenig der Umstand,
dass die Etzbergstrasse keinen starken Verkehr aufweist und bloss eine
Quartierstrasse darstellt. Gilt demnach deren Zusammentreffen mit der alten
Seenerstrasse nicht als Verzweigung, so stand Suter, der am betreffenden
Tag das Gebiet mehrmals zum Wegführen von Humus befahren hat und somit
die untergeordnete Verkehrsbedeutung der fraglichen Sackgasse erkennen
konnte, gegenüber dem auf der Etzbergstrasse verkehrenden Kupper kein
Vortrittsrecht zu. Die Sache ist daher an die Vorinstanz zurückzuweisen,
damit sie Suter wegen Widerhandlung gegen Art. 36 Abs. 4 SVG (in Verbindung
mit Art. 14 Abs. 1 und 15 Abs. 3 VRV) verurteile.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Zürich - I. Strafkammer - vom 11. September 1973
aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen
an die Vorinstanz zurückgewiesen.