Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IV 185



99 IV 185

41. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 30. November 1973
i.S. Stocker gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern. Regeste

    Art. 20 StGB. Begriff des Rechtsirrtums.

Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Nach ständiger Rechtsprechung zu Art. 20 StGB kann sich auf
Rechtsirrtum nur berufen, wer zureichende Gründe zur Annahme hatte, er tue
überhaupt nichts Unrechtes, und nicht schon, wer die Tat bloss für straflos
hielt (BGE 98 I 303 mit Verweisungen). Kommt aber auf das Bewusstsein
der Straflosigkeit nichts an, genügt vielmehr für den Ausschluss eines
Rechtsirrtums schon das unbestimmte Empfinden, dass das in Aussicht
genommene Verhalten gegen das verstösst, was recht ist (BGE 60 I 418, 66 I
113, 70 IV 100, 72 IV 155, 80 IV 21), so ist damit aber auch gesagt, dass
der Täter nicht nur im Bereich des Vorsatzes, sondern auch in demjenigen
des Unrechtsbewusstseins sein Verhalten nicht juristisch exakt würdigen
muss, wie es der Richter tut (BGE 80 IV 21), sondern dass er dieses bloss
in der ihm als Laien zugänglichen Art an den rechtlichen Wertvorstellungen
zu messen hat, die vom durchschnittlichen Bürger der Gemeinschaft getragen
werden, der er angehört. Ob er dessen Anschauungen über das, was recht oder
unrecht ist, selber teilt oder sie aus irgendwelchen ausserrechtlichen
Gründen ablehnt, ist nicht massgebend (BGH Str. 4 S. 3/5; RUDOLPHI,
Unrechtsbewusstsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums,
S. 187 mit weiteren Hinweisen). Im Bewusstsein der Rechtswidrigkeit
seines Tuns handelt deshalb, wer weiss, dass sein Verhalten den
Rechtsvorstellungen seiner Rechtsgemeinschaft widerspricht. Im
allgemeinen entspricht die Rechtsordnung den vorherrschenden ethischen
Wertvorstellungen in dem Sinne, dass jedenfalls erhebliche Verstösse
gegen diese regelmässig auch rechtlich verpönt sind. Das Empfinden
des Täters, seine Handlung widerspreche den herrschenden sittlichen
Vorstellungen über die sozialen Beziehungen, stellt einen gewichtigen
Hinweis auf sein Unrechtsbewusstsein dar. Nimmt der Täter ausnahmsweise
an, seine Handlung sei, obwohl nach vorherrschender sittlicher Anschauung
verpönt, dennoch gemäss geltender Rechtsordnung erlaubt, so handelt er
rechtsirrtümlich. Doch wird alsdann besonders sorgfältig zu prüfen sein,
ob der Täter zu seiner rechtsirrtümlichen Annahme zureichende Gründe
hatte. Zureichend ist ein Grund, wenn dem Täter aus seinem Rechtsirrtum
kein Vorwurf gemacht werden kann, weil er auf Tatsachen beruht, durch
die sich auch ein gewissenhafter Mensch hätte in die Irre führen lassen
(BGE 98 IV 303 mit Verweisungen). Das Gesetz verlangt damit vom Täter eine
Gewissensanspannung, eine gewissenhafte Überlegung oder ein Erkundigen bei
Behörden oder vertrauenswürdigen Personen (s. BGE 75 IV 153, 78 IV 181,
81 IV 242, 82 IV 17, 86 IV 196, 91 IV 30 Nr. 9). Hat er von einer ihm
objektiv gegebenen Gelegenheit, die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens
durch eigenes Nachdenken zu erkennen oder durch Einholung von Auskünften zu
erfahren, keinen Gebrauch gemacht, obgleich dazu für ihn Anlass bestand,
so handelt es sich um einen vermeidbaren und damit nach Art. 20 StGB
unerheblichen Rechtsirrtum (S. RUDOLPHI, op.cit. S. 207).

    Was Filmvorführungen anbelangt, verweist die Staatsanwaltschaft
zutreffend auf die bundesgerichtliche Praxis zur Frage, welche Gründe
im Sinne von Art. 20 StGB zureichend sind. So kann sich nach mehreren
Entscheiden ein Kinobesitzer nicht schon deshalb auf Rechtsirrtum
berufen, weil ein Film an einem anderen Ort unbeanstandet vorgeführt
wurde, da hiefür verschiedenartige Gründe massgebend sein können
(BGE 99 IV 62). Der Kassationshofverlangt zuverlässigere Unterlagen,
z.B. Auskünfte von Behörden oder vertrauenswürdigen Personen (BGE 92 IV
73, 82 IV 17, 81 IV 196). Ausreichend ist z.B. ein früherer Freispruch
durch den zuständigen Richter bei gleichem Sachverhalt, selbst wenn der
Staatsanwalt vor der zweiten Tatbegehung den Täter ausdrücklich darauf
aufmerksam macht, dass er selbst und die zuständige Verwaltungsbehörde
den Freispruch als Fehlentscheid betrachteten (BGE 91 IV 165).