Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IV 18



99 IV 18

6. Urteil des Kassationshofes vom 18. April 1973 i.S. Locher gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft. Regeste

    Art. 35 SVG; Kreuzen, Überholen.

    Auf einer Strasse, die ihrer Breite nach drei nebeneinanderliegende
Fahrspuren zulässt, darf mit der nötigen Vorsicht auch bei Gegenverkehr
überholt und die Leitlinie dabei überfahren werden, sofern der Platz
für ein ungefährdetes Überholmanöver und Kreuzen ausreicht und keine
konkreten Anzeichen bestehen, dass sowohl der zu Überholende als auch
ein aus der Gegenrichtung nahender, bereits sichtbarer Strassenbenützer
die eingeschlagene korrekte Fahrweise überraschend aufgeben werde.

Sachverhalt

    A.- Locher fuhr am 16. Dezember 1971 um 06.55 Uhr bei trockenem
Wetter mit dem Personenwagen "Vauxhall" von Zullwil herkommend Richtung
Basel. Im Gebiet der Gemeinde Aesch befand er sich als Vierter in einer
Wagenkolonne. Nachdem sich im lockeren Gegenverkehr eine grosse Lücke
gezeigt hatte, setzte er zum Überholen an. Als er sich auf der Höhe
des zu überholenden "VW" des Schmidlin befand, stiess er mit dem in der
Gegenrichtung daherfahrenden Personenwagen "Opel" des Kühni zusammen. Der
"Vauxhall" wurde nach rechts abgedrängt, kollidierte zunächst seitlich
mit dem "VW" und überquerte dann in weitem Bogen die Strasse, wo er am
linken Rand zum Stehen kam. Den "Opel" trieb es nach der Kollision mit dem
"Vauxhall" auf die Gegenfahrbahn. Dort stiess er frontal gegen den hinter
Locher fahrenden Personenwagen des Fluri; er wurde durch den Aufprall auf
das Trottoir geworfen und kam auf das Dach zu liegen. Kühni wurde sofort
getötet; Fluri erlitt leichte bis mittelschwere Verletzungen.

    B.- Das Strafgericht des Kantons Basel-Landschaft verurteilte Locher am
8. November 1972 wegen fahrlässiger Tötung, fahrlässiger Körperverletzung
und grober Verletzung von Verkehrsregeln zu einer Gefängnisstrafe von 6
Monaten sowie einer Busse von Fr. 1000. -. Es gewährte dem Verurteilten
für die Freiheitsstrafe den bedingten Strafvollzug und setzte die Probezeit
auf 2 Jahre fest.

    Die gegen diesen Entscheid gerichteten Appellationen von Locher und
der Staatsanwaltschaft wies das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft
am 20. Februar 1973 ab und bestätigte das erstmstanzliche Urteil.

    C.- Locher führt eidg. Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt
Freisprechung von Schuld und Strafe.

    D.- Die Staatsanwaltschaft trägt auf Abweisung der Beschwerde an.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Am Unfallort ist die Strasse eben, gerade und auf ein bis zwei
Kilometer Entfernung klar zu überblicken. Die vier ersten Wagen der
in Richtung Basel fahrenden Kolonne fuhren mit ca. 70 km/h, hinter
ihnen fielen ein Lastwagen und ein Personenwagen langsam zurück. Auf
der Strasse befanden sich weder Fussgänger noch Velofahrer. Die
Autos fuhren mit Abblendlicht. Die Strasse war zudem durch Lampen,
die in Abständen von 40 m angebracht sind, gut ausgeleuchtet. Eine
Geschwindigkeitsbeschränkung bestand am 16. Dezember 1971 nicht. Keines
der vor dem Beschwerdeführer fahrenden Automobile hatte den Blinker
betätigt oder gegen die Strassenmitte eingespurt. Locher war somit an
sich berechtigt, die Kolonne mit ca. 90 km/h zu überholen. Die Vorinstanz
macht ihm diesbezüglich mit Recht keinen Vorwurf.

    Sie legt ihm indes einen Verstoss gegen Art. 35 Abs. 2 SVG zur Last
mit der Begründung, er habe trotz Gegenverkehr überholt und dabei mit
der linken Seite seines Wagens die Leitlinie um ca. 60 cm überschritten;
dadurch sei er ca. 30 cm links von der Strassenmitte gefahren. Das
Überholen bei Gegenverkehr sei nur zulässig, wenn der Überholende während
des Manövers mit seiner ganzen Wagenbreite auf der rechten Strassenhälfte
bleiben könne.

    Dieser Auffassung kann nicht zugestimmt werden.

Erwägung 2

    2.- Das Überholen ist nur gestattet, wenn der nötige Raum übersichtlich
und frei ist und der Gegenverkehr nicht behindert wird (Art. 35 Abs. 2
SVG). Dabei ist auf die übrigen Strassenbenützer, namentlich auf die zu
überholenden Fahrzeuge Rücksicht zu nehmen, insbesondere durch Einhaltung
eines genügenden seitlichen Abstandes (Art. 35 Abs. 3 SVG). Die gleiche
Pflicht zur Einhaltung eines ausreichenden seitlichen Abstandes trifft
kreuzende Fahrzeuge (Art. 34 Abs. 4 SVG). Leitlinien dürfen beim Überholen
mit der gebotenen Vorsicht überfahren werden (Art. 52 Abs. 3 SSV).

    Nach diesen Bestimmungen beurteilt sich für die verschiedenen
Verkehrslagen die Frage, ob überholt werden darf oder nicht, insbesondere
bei Gegenverkehr.

    a) Erlaubt die Breite einer Strasse das Kreuzen von zwei
Fahrzeugen in genügendem seitlichem Abstand, so darf überholt werden,
wenn das überholende Fahrzeug ohne Behinderung des überholten und des
entgegenkommenden Verkehrsteilnehmers rechtzeitig von der Gegenfahrbahn
wieder auf seine eigene Fahrbahn einschwenken kann. Ob der Fahrer
rechtzeitig einschwenken kann, bemisst sich nach der verfügbaren freien
Strecke und der Geschwindigkeit der beteiligten Fahrzeuge.

    b) Ist eine Strasse derart breit, dass das überholende Fahrzeug in
genügendem seitlichen Abstand ein anderes Fahrzeug überholen kann, ohne
die linke Strassenhälfte zu beanspruchen, dann darf auch bei Gegenverkehr
überholt werden, solange keine Anzeichen dafür sprechen, dass Fahrzeuge
aus der Gegenrichtung ihre eigene Fahrbahn verlassen werden.

    c) Strassen, die ihrer Breite nach drei nebeneinanderliegende
Fahrspuren zulassen, erlauben das gleichzeitige Überholen und
Kreuzen. Indes ist auf dreispurig markierten Strassen das Überholen auf dem
äussersten linken Streifen untersagt (Art. 11 Abs. 1 VRV). Bewegt sich das
zu überholende oder ein entgegenkommendes Fahrzeug nahe der Strassenmitte,
dann liegen die Verhältnisse ähnlich, wie im Falle einer zweispurigen
Strecke. Der Überholende darf sich nicht in jedem Fall darauf verlassen,
dass die übrigen Verkehrsteilnehmer während seines Manövers gegen die
Fahrbahnränder ausweichen werden, um ihm den gefahrlosen Abschluss
seines Vorhabens zu ermöglichen. Er darf auch nicht mehr zum Überholen
ansetzen, wenn ein aus der Gegenrichtung kommendes Fahrzeug bereits in
die Strassenmitte fährt, um seinerseits ein vorausfahrendes Fahrzeug
zu überholen.

    d) Im Übrigen gilt in allen diesen Fällen das sogenannte
Vertrauensprinzip (Art. 26 Abs. 2 SVG), wonach ein Verkehrsteilnehmer,
der sich verkehrsgemäss verhält, damit rechnen kann, dass ein anderer
Verkehrsteilnehmer den Verkehr nicht durch pflichtwidriges Verhalten
gefährdet, sofern nicht besondere Umstände ein solches Verhalten erwarten
lassen (BGE 97 IV 127 E. 4 a; 243/244; 96 IV 132 E. 2 mit Hinweisen). Mit
anderen Worten, der Überholende darf mangels gegenteiliger Anzeichen
daraufvertrauen, dass sowohl der zu Überholende als auch ein aus
der Gegenrichtung nahender, bereits sichtbarer Strassenbenützer die
eingeschlagene korrekte Fahrweise nicht überraschend aufgeben werde.

    Auch wo der gefahrlose Ablauf des Überholmanövers vom Verhalten
eines noch nicht sichtbaren Verkehrsteilnehmers abhängt, darf
sich der Überholende grundsätzlich darauf verlassen, dass dieser
sich pflichtgemäss verhalten werde. Beispielsweise wird er bei der
Abschätzung des erforderlichen Überholweges nicht mit Fahrzeugen aus der
Gegenrichtung rechnen müssen, die mit vorschriftswidriger, weit übersetzter
Geschwindigkeit aus der Kurve auftauchen könnten.

Erwägung 3

    3.- Entgegen der von der Vorinstanz vertretenen Auffassung ist es für
die Frage der Zulässigkeit eines Überholmanövers bedeutungslos, ob die
betreffende Strasse mit einer Leitlinie versehen ist oder nicht. In beiden
Fällen sind die in Ziff. 2 oben dargelegten Grundsätze gleichermassen
anwendbar. Namentlich ist auch auf einer mit einer mittleren Leitlinie
markierten Strasse das Überholen rechts der Leitlinie unzulässig, wenn
dadurch der Gegenverkehr gefährdet werden könnte (z.B. weil aus der
Gegenrichtung ein Lastwagen heranfährt, der in der Strassenmitte von einem
Fahrzeug überholt wird); umgekehrt darf mit der nötigen Vorsicht auch
bei Gegenverkehr die Leitlinie zum Überholen überfahren werden, sofern
der Platz für ein ungefährdetes Überholmanöver und Kreuzen ausreicht und
nichts darauf hindeutet, dass ein mitbeteiligter Verkehrsteilnehmer sich
verkehrswidrig verhalten werde.

    Zwingende Bedeutung hat die Leitlinie nur dort, wo Fahrspuren
abgegrenzt werden, namentlich gemäss Art. 11 Abs. 1 VRV, Art. 34 Abs. 3,
39 Abs. 1 und 44 SVG. Handelt es sich dagegen um eine Mittellinie auf
breiter Strasse, so kommt jener nur die Wirksamkeit einer optischen Führung
zu. Sie zeigt dem Verkehrsteilnehmer in erster Linie die Strassenmitte
bzw. die Grenze der beiden Hauptverkehrsströme an und erleichtert ihm
damit die richtige Lenkung, insbesondere während der Nacht, bei Nebel
und starken Niederschlägen. Ferner zeigt sie ihm an, dass er noch nicht
mit dem Übergang zu einer Sicherheitslinie rechnen muss, da diese durch
gedrängtere Ausführung angekündigt wird (Art. 52 Abs. 3 SSV).

    Zu Unrecht beruft sich die Vorinstanz zur Stützung ihrer Begründung
auf die unter der Herrschaft des MFG gefällten BGE 82 IV 26 und 87 IV
136. Im ersten Fall erklärte das Bundesgericht das Überholen in einer
Kurve auf der rechten Seite einer 4-Spur-Strasse für erlaubt; es äusserte
sich nicht zu der Frage, ob auf einer 3-spurigen Strasse gleichzeitig
gekreuzt und überholt werden dürfe. Im zweiten Urteil hat der Kassationshof
erneut festgestellt, dass ein Überholen auf der rechten Strassenhälfte
bei Gegenverkehr erlaubt ist und der Überholende damit rechnen darf,
dass der Entgegenkommende, der kein Hindernis vor sich hat, innerhalb
seiner eigenen Fahrbahn bleiben und seinerseits einen genügenden Abstand
von der Strassenmitte wahren werde. Der Kassationshof hat also nicht etwa
erklärt, auf einer für 3 Fahrspuren ausreichend breiten Strasse dürfe bei
Gegenverkehr die Strassenmitte nicht zum Überholen benutzt, also auch nicht
teilweise über die Leitlinie hinausgefahren werden. Dagegen wird in diesem
Urteil mit Recht darauf verwiesen, dass nachts bei ungenügender Beleuchtung
oder auf nasser Asphaltstrasse der Fahrzeugführer dazu verleitet wird,
in der Nähe der Strassenmitte zu fahren, und dass es unter derartigen
Bedingungen oft schwierig ist, die seitlichen Abstände des eigenen und
des entgegenkommenden Fahrzeuges im erwünschten Masse unter Kontrolle zu
halten. Daher dürfe unter solchen Umständen nicht überholt werden. Diese
Auffassung stimmt mit den oben entwickelten Grundsätzen überein.

    Anderseits hat das Bundesgericht in BGE 94 IV 119 festgehalten, dass
eine 9 m breite Strasse, die nicht durch eine Sicherheitslinie in zwei
Hälften geteilt ist, in der Regel ein gleichzeitiges Kreuzen und Überholen
gestattet. Das überholende Fahrzeug fährt in einem solchen Fall in der
Strassenmitte, während sich überholte und entgegenkommende Fahrzeuge an
den rechten Strassenrand zu halten haben (vgl. BGE 94 IV 121/122).

Erwägung 4

    4.- Die von Aesch nach Reinach führende Strasse ist im Bereiche des
Unfallortes 10,6 m breit, verläuft gerade und ist auf eine Entfernung von
1-2 km übersichtlich. Ihre Breite überschreitet demnach um 10 cm den vom
Bundesrat aufgestellten Grenzwert für die Zulassung von Geschwindigkeiten
über 100 km/h auf 3-Spur-Strassen mit abwechselnder Überholspur. Sie ist
als Hauptstrasse gekennzeichnet und weist im fraglichen Bereich keine
Einmündungen auf. Die Fahrbahnränder sind abgegrenzt durch das überhöhte
Trottoir auf der einen und den überhöhten Randstein auf der anderen
Seite. Innerhalb dieser Fahrbahngrenzen verläuft rechts und links als Teil
der Fahrbahn je ein mit rotem Belag versehener Streifen von 1,6 m Breite,
der ursprünglich für Radfahrer vorgesehen war. Die Fahrzeuge der Richtung
Basel fahrenden Kolonne bewegten sich diesem Streifen entlang. Damit
war auf der gut beleuchteten Strasse ein genügender seitlicher Abstand
zum Strassenrand und allfällig auftauchenden Fussgängern oder Radfahrern
eingehalten. Die Leitlinie liegt in Richtung Basel gesehen 30 cm rechts der
Strassenmitte, wohl aus Rücksicht auf die jenseits des linken Randsteins
verkehrende Strassenbahn, von der die Verkehrsteilnehmer in der Regel einen
etwas grösseren Abstand einhalten. Nach den Feststellungen der Vorinstanz
wurde keines der überholten Fahrzeuge nach rechts abgedrängt. Der
seitliche Abstand zwischen dem überholenden und überholten Personenwagen
war genügend gross. Dennoch fuhr das überholende Fahrzeug mit ca. 120 cm
seiner Breite rechts der Strassenmitte (ca. 90 cm rechts der Leitlinie)
und beanspruchte nur ca. 30 cm (bzw. 60 cm) der Gegenfahrbahn. Somit
standen dem entgegenkommenden 1,5 m breiten Wagen des Kühni volle 5 m
zur Verfügung. Fuhr er in reichlichem Abstand vom Randstein dem roten
Streifen entlang, so blieb zwischen seinem Fahrzeug und demjenigen des
Beschwerdeführers ein Kreuzungsabstand von 1,9 m, was durchaus genügte,
zumal es sich um den Abstand auf der Fahrerseite beider Fahrzeuge
handelte. Kühni war seinerseits verpflichtet, möglichst rechts zu fahren;
er durfte von seiner Fahrbahnhälfte nicht mehr in Anspruch nehmen, als
nötig war (Art. 34 Abs. 1 SVG, BGE 94 IV 122). Dass er das Recht hatte,
namentlich nachts einen angemessenen Abstand vom rechten Strassenrand
einzuhalten (BGE 94 IV 121), gab ihm indes nicht die Befugnis, auf der
offenen, beleuchteten, übersichtlichen und völlig freien Strasse bei
Gegenverkehr in einem grösseren Abstand als ca. 1,5 m vom rechten Rand
entfernt zu fahren. Mit Rücksicht auf die entgegenkommenden Fahrzeuge
hatte er sich vielmehr soweit nach rechts zu halten, dass die Strassenmitte
für den Überholenden frei blieb (BGE 94 IV 122).

    Weder den Urteilen der kantonalen Gerichte noch den Akten ist ein
Umstand zu entnehmen, der den Beschwerdeführer hätte darauf hinweisen
können, dass Kühni seinen Wagen bis auf ca. 25 cm an die Strassenmitte
heranfahren werde. Insbesondere wird nicht festgestellt, der Opel
sei in der Strassenmitte oder im Zick-Zack gefahren, bevor Locher sein
Überholmanöver begonnen hatte. Nach den Aussagen des Beschwerdeführers
geriet das Fahrzeug des Kühni erst in dem Augenblick gegen die
Strassenmitte, als das Überholmanöver bereits im Gange war. Bestand für
Locher im Augenblick, als er zu überholen begann, kein Grund zur Annahme,
dass der ihm entgegenkommende Opel im Begriffe sei, seine rechte Fahrbahn
etwa wegen eines Hindernisses zu verlassen, dann durfte er damit rechnen,
dass ihn Kühni nicht behindern werde. Er konnte weiter erwarten, dass
dieser korrekt rechts weiterfahren und nicht auf der für ihn übersehbaren
Strecke plötzlich gegen die Strassenmitte fahren werde. Waren diese
Voraussetzungen aber erfüllt, dann hatte der Beschwerdeführer das Recht,
die mittlere Fahrbahn in Anspruch zu nehmen. Am Zusammenstoss mit dem
Opel trifft ihn deshalb keine Schuld.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kts. Basel-Landschaft vom 20. Februar 1973 aufgehoben
und die Sache zur Freisprechung des Beschwerdeführers an die Vorinstanz
zurückgewiesen.