Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IV 173



99 IV 173

37. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 14. September 1973
i.S. L. gegen Polizeirichteramt der Stadt Zürich. Regeste

    Art. 26, 36 Abs. 2 und 4 SVG; Vertrauensgrundsatz,
Vortrittsrecht. Pflichten des vortrittsbelasteten Fahrzeugführers beim
Linksabbiegen in eine vortrittsberechtigte Strasse.

Sachverhalt

    A.- Am 10. Juli 1971 ca. um 10.15 Uhr lenkte L. einen
Postlieferungswagen durch die Unterwerkstrasse in Zürich. Er beabsichtigte
in die Schaffhauserstrasse zu fahren und dort nach links abzubiegen. Bei
der Einmündung der Unterwerkstrasse in die Schaffhauserstrasse sind
beidseits die Signale "Kein Vortritt" (Nr. 116) aufgestellt. L. machte bei
der Einmündung einen Sicherheitshalt. Als er glaubte, ohne Behinderung des
übrigen Verkehrs einbiegen zu können, fuhr er langsam in die 8 m breite
Schaffhauserstrasse ein. Angeblich wegen eines überraschend von rechts
aus einem Parkplatz herausfahrenden Personenwagens, den er vorbeifahren
lassen wollte, hielt L., in der Mitte der Schaffhauserstrasse an, wobei
sein Wagen ca. 1-2 m der soeben durchfahrenen Fahrbahnhälfte beanspruchte,
sodass für von links kommende Fahrzeuge noch 2-3 m Raum verblieben.

    Noch während L. auf der Unterwerkstrasse angehalten hatte, näherten
sich auf der Schaffhauserstrasse von links der von M. gesteuerte
Personenwagen mit einer Geschwindigkeit von ca. 60 km/h und der
Motorradfahrer P.; dieser überholte mit seinem Fahrzeug nahe der
Mittellinie fahrend den Wagen M. mit mindestens 80 km/h. Die beiden
Fahrzeuge waren etwa 130 m von der Einmündung der Unterwerkstrasse
entfernt, als sie sich auf gleicher Höhe befanden. Als L. sich gegen
die Strassenmitte zu in Bewegung setzte, war P. noch ca. 70 m von
ihm entfernt. Er versuchte, rechts hinter dem Postlieferungswagen
durchzufahren, was ihm nicht gelang; er prallte gegen die linke hintere
Seite des Wagens. Dabei erlitt er leichte Verletzungen an einer Hand. An
beiden Fahrzeugen entstand Sachschaden.

    B.- Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirks Zürich verurteilte
L. am 21. November 1972 wegen Missachtung des Vortrittsrechts zu einer
Busse von Fr. 50.-. Das Obergericht des Kantons Zürich wies am 9. April
1973 eine Nichtigkeitsbeschwerde des Verurteilten ab.

    C.- L. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt
Freisprechung von Schuld und Strafe.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- ...

Erwägung 2

    2.- Die Vorinstanz wirft dem Beschwerdeführer die Missachtung des P.
zustehenden Vortrittsrechts vor. Demgegenüber macht der Beschwerdeführer
geltend, er habe im Augenblick seines Haltes vor der Einmündung den
Motorradfahrer nicht gesehen; im übrigen habe er gemäss Vertrauensprinzip
nicht damit rechnen müssen, das P. mit übersetzter Geschwindigkeit und
in der Strassenmitte daherfahren werde.

Erwägung 3

    3.- a) Der Wartepflichtige hat bei einer Kreuzung oder Einmündung
dafür zu sorgen, dass er den Berechtigten in der Weiterfahrt nicht
behindert. Eine Behinderung liegt schon dann vor, wenn der Berechtigte
gezwungen wird, seine Fahrrichtung oder seine Geschwindigkeit brüsk
zu ändern.

    Das Vortrittsrecht erstreckt sich grundsätzlich auf die ganze
Breite der vortrittsberechtigten Strasse, nicht nur auf die Fahrbahn
eines korrekt rechts fahrenden Verkehrsteilnehmers (BGE 98 IV 116
Erw. 1b mit Verweisungen). Ist eine Kreuzung unübersichtlich, muss der
Wartepflichtige darauf achten, sein Einbiegemanöver ohne Behinderung der
Vortrittsberechtigten auszuführen. Der Berechtigte seinerseits ist nicht
verpflichtet, seine an sich zulässige Geschwindigkeit vor unübersichtlichen
Kreuzungen herabzusetzen (BGE 96 IV 38 Erw. 3, 132 Erw. 2; 93 IV 35/36).

    b) Nach der Grundregel von Art. 26 SVG kann ein Verkehrsteilnehmer,
der sich verkehrsgemäss verhält, sofern nicht besondere Umstände dagegen
sprechen, damit rechnen, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer den Verkehr
nicht durch pflichtwidriges Verhalten gefährdet (BGE 98 IV 274; 96 IV 38
Erw. 3, 132 Erw. 2).

    Wer sich dagegen selber verkehrswidrig verhält und dadurch
eine unklare oder sogar gefährliche Verkehrslage schafft, kann nicht
erwarten, die andern Strassenbenützer würden sich so verhalten, dass sein
eigener Verstoss gegen die Verkehrsvorschriften nicht zu einem Unfall
führe. Eigenes Fehlverhalten hebt den Vertrauensgrundsatz auf, denn
unerlässliche Grundlage des Vertrauens im Verkehr ist die Gegenseitigkeit
pflichtgemässen Verhaltens (VON WERRA, Du principe de la confiance dans le
droit de la circulation routière, Zeitschrift für Walliser Rechtsprechung
1970, S. 204).

    c) Das Vertrauensprinzip gilt insbesondere im Verhältnis zwischen
Vortrittsberechtigtem und Wartepflichtigem. Der Berechtigte darf
grundsätzlich davon ausgehen, dass der Wartepflichtige sein Recht
beachtet. Nur wo konkrete Anhaltspunkte erkennen lassen, dass ein
anderer Verkehrsteilnehmer sich nicht richtig verhalten werde, muss der
Berechtigte zur Abwendung der Gefahr auf sein Vortrittsrecht verzichten
(BGE 97 IV 127 Erw. 4 a mit Verweisungen). Umgekehrt darf auch der
Wartepflichtige mangels gegenteiliger Anzeichen darauf vertrauen, dass
der Berechtigte die Verkehrsregeln einhält. So muss er beim Einbiegen
in eine unübersichtliche Kreuzung nicht damit rechnen, dass ein Fahrzeug
überraschend mit übersetzter Geschwindigkeit auftauchen könnte oder dass
ein ihm bereits sichtbarer Fahrzeugführer seine Geschwindigkeit plötzlich
stark erhöhen werde, um sich den Vortritt zu erzwingen (OSWALD, SJZ 1963,
S. 285).

Erwägung 4

    4.- a) Im vorliegenden Fall war sich der Beschwerdeführer der
Gefährlichkeit der Einmündung hinsichtlich eines Linksabbiegemanövers
bewusst. Er musste in beiden Kolonnen der auf der Schaffhauserstrasse
verkehrenden Fahrzeuge eine Lücke abwarten, die es ihm erlaubte, ohne
Gefährdung der übrigen Strassenbenützer einzubiegen. Er hat bei der
Einmündung einen Sicherheitshalt eingeschaltet. Erfahrungsgemäss verführt
ein solches Verhalten die vortrittsberechtigten Fahrzeuglenker oft zur
Annahme, der Betreffende wolle ihre Vorbeifahrt abwarten (BGE 95 IV 137).
Der Wartepflichtige, der nach einem Sicherheitshalt weiterfährt, ist
deshalb zu besonderer Vorsicht verpflichtet.

    b) Nach den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz
fuhr der Beschwerdeführer nach dem Sicherheitshalt weiter, als P. noch
etwa 70 m von der Einmündung entfernt war. Im städtischen Verkehr ist eine
solche Entfernung im allgemeinen ausreichend, um einem wartepflichtigen
Fahrzeugführer das Einbiegen gefahrlos zu ermöglichen. Dem Beschwerdeführer
ist daher darin zuzustimmen, dass er bei der gegebenen Verkehrslage
einbiegen durfte und korrekt von links kommende Fahrzeuge, die sich auf
nicht mehr als 70 m genähert hatten, nicht behindert hätte.

    c) Dass P. im Augenblick des Einbiegens des Beschwerdeführers
in der Strassenmitte und nicht am rechten Strassenrand entlang fuhr,
ist belanglos. Einerseits war, wie erwähnt, das Vortrittsrecht auf der
ganzen Strassenbreite zu respektieren. Anderseits konnte P. sich auf die
Einmündung zu ohne weiteres noch gegen den rechten Strassenrand halten.

    Der Motorradfahrer hat indes vorschriftswidrig gehandelt, indem er mit
übersetzter Geschwindigkeit überholte und unvermindert schnell auf die
Einmündung zufuhr. Mit einem solchen Verhalten musste L. nicht rechnen,
falls er diese Fahrweise nicht rechtzeitig erkennen konnte.

    d) Die Vorinstanz führt unter Hinweis auf das erstinstanzliche
Urteil nun aber aus, der Beschwerdeführer habe das Überholmanöver des
Motorradfahrers und damit dessen hohe Geschwindigkeit bereits im Zeitpunkt
seines ersten Sicherheitshalts erkannt. Der Einzelrichter seinerseits
hat festgestellt, dass der Beschwerdeführer von seinem Standort aus
beim Sicherheitshalt vor dem Einbiegen in die Schaffhauserstrasse gegen
links freie Sicht auf 200-250 m Entfernung hatte. Er konnte somit den
Personenwagen M. und das überholende Motorrad erkennen. P. und M. haben
den Postlieferungswagen des Beschwerdeführers denn auch bereits gesehen,
als dieser noch in der Einmündung stand. Erst recht konnte L. das
Motorrad aber erblicken, als dieses noch 70 m von ihm entfernt war und
er in die Schaffhauserstrasse einzufahren begann. Die in der Beschwerde
aufgestellte Behauptung, das Motorrad sei vom Personenwagen M. verdeckt
gewesen, ist nicht zu hören, da sie im Widerspruch zu den verbindlichen
Feststellungen der Vorinstanz steht, wonach die beiden Fahrzeuge etwa
130 m von der Einmündung entfernt sich auf gleicher Höhe befanden.

    Aus diesen Darlegungen geht hervor, dass der Beschwerdeführer den P.
entweder schon im Augenblick des ersten Sicherheitshalts gesehen hat; in
diesem Fall musste er erkennen, dass das Motorrad in der Strassenmitte
und sehr rasch gegen die Einmündung zu fuhr. Oder er hat das Motorrad
erst erblickt, als er schon fast bis in die Mitte der Schaffhauserstrasse
eingebogen war, obwohl er es schon vorher hätte sehen können. Im einen wie
im andern Fall bedeutet das, dass er es nach dem ersten Sicherheitshalt
an der nötigen Vorsicht hat fehlen lassen, indem er sich nicht genügend
vergewisserte, ob durch sein Einbiegemanöver vortrittsberechtigte
Strassenbenützer in der Weiterfahrt behindert würden. Jedenfalls kann er
sich nicht mit dem Einwand entlasten, das Motorrad sei für ihn überraschend
und mit zu hoher Geschwindigkeit aufgetaucht. Gegenteils musste er mit
der Fahrweise des P.) die für ihn deutlich erkennbar war, rechnen.

Erwägung 5

    5.- Der Beschwerdeführer will das Einbiegemanöver deshalb nicht in
einem Zug durchgeführt haben, weil überraschend ein Personenwagen von
rechts aus einem Parkplatz in die Schaffhauserstrasse gefahren sei. Die
Vorinstanz hat die Möglichkeit offen gelassen, dass diese Darstellung
zutrifft.

    a) Wer aus einem Parkplatz hinausfährt und sich in den Verkehr einfügt,
ist nicht vortrittsberechtigt (Art. 36 Abs. 4 SVG). Der fragliche
Personenwagenlenker hatte somit das vom Beschwerdeführer bereits
eingeleitete Einbiegemanöver abzuwarten, bevor er in die Verzweigung
einfuhr. Nach der Darstellung des Beschwerdeführers verlangsamte der
Lenker des Personenwagens denn auch seine Geschwindigkeit, vermutlich um
dem einbiegenden Postlieferungswagen die Durchfahrt zu ermöglichen.

    Der Beschwerdeführer handelte vorschriftswidrig, wenn er unter diesen
Umständen eine Behinderung der rasch von links auf der Schaffhauserstrasse
nahenden vortrittsberechtigten Fahrzeuge in Kauf nahm, um unter Verzicht
auf sein Vortrittsrecht dem den Parkplatz verlassenden Fahrzeug die
Vorbeifahrt zu ermöglichen.

    b) Verkehrswidrig war auch die stockende Ausführung des
Einbiegemanövers. Der Beschwerdeführer hielt seinen Wagen etwa 50 cm vor
der Strassenmitte an, als er das Auto aus dem Parkplatz fahren sah. Weil
er nunmehr erkannte, dass von links in rascher Fahrt ein Motorrad
nahte, fuhr er weiter, hielt aber nach ca. 1 m Fahrt wieder an, wobei
sein Fahrzeug immer noch ungefähr die Hälfte der ersten Fahrbahnhälfte
versperrte. Schliesslich fuhr er auch nicht weiter, als der den Parkplatz
verlassende Wagen bereits durchgefahren war.

    Dem Beschwerdeführer ist demnach vorzuwerfen, dass er sein
Einbiegemanöver nicht in einem Zug zu Ende brachte, sondern
zweimal unterbrach und dadurch den von links heranfahrenden und
vortrittsberechtigten P. in dessen Fahrt behinderte.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.