Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IV 156



99 IV 156

33. Urteil des Kassationshofes vom 5. Oktober 1973 i.S. Staatsanwaltschaft
Bern-Mittelland gegen X. Regeste

    Art. 191 Ziff. 1 Abs. 2 und Ziff. 2 Abs. 5 StGB.

    Den erhöhten Schutz dieser Bestimmungen geniesst eine
sog. Babysitterin, die gegen Entgelt täglich während einer gewissen
Zeit die Kinder des Täters beaufsichtigt, zu diesem in einem besonderen
Vertrauensverhältnis steht, von ihm Weisungen anzunehmen und zu befolgen
hat und in dessen Wohnung jederzeit ein- oder ausgehen kann.

Sachverhalt

    A.- In der Zeit zwischen Ende Juni 1971 und Ende Januar 1972 war H. Z.,
geb. 4. Februar 1957, in der Familie des X. als sog. "Gaumermeitschi"
im Wochenplatz tätig. Ihre Aufgabe bestand darin, die drei Kinder
dieser Familie jeweils täglich ab 16.30 Uhr während der arbeitsbedingten
Abwesenheit der Frau X. in deren Wohnung zu beaufsichtigen und sie bei
der Erledigung der Schulaufgaben zu überwachen. Darüber hinaus verbrachte
H. Z. oft ihre schulfreien Nachmittage mit dem Hüten der Kinder. X. kehrte
üblicherweise um 17.45 Uhr nach Hause. Von diesem Zeitpunkt an durfte
H. Z. zu ihren eigenen Eltern zurückkehren. Sie hielt sich jedoch öfters
noch eine Weile in der Wohnung X. auf. Für das Kinderhüten erhielt sie von
Frau X. alle zwei Wochen Fr. 20.- ausbezahlt. Bisweilen wurde sie von X.
zu verschiedenen Handreichungen angehalten.

    Während der Dauer dieses Wochenplatzverhältnisses kam es zwischen
X. und H. Z. zweimal - im Oktober 1971 und im Januar 1972 - zum
Geschlechtsverkehr und zu einer unbestimmten Zahl anderer unzüchtiger
Handlungen (Zungenküsse).

    Nach der Auflösung des Wochenplatzverhältnisses Ende Januar 1972
verkehrte X. noch weitere fünfmal geschlechtlich mit ihr.

    B.- Die Kriminalkammer des Kantons Bern sprach X.  schuldig der
wiederholten qualifizierten Unzucht mit Kindern gemäss Art. 191 Ziff. 1
Abs. 2 und Ziff. 2 Abs. 5 StGB sowie der wiederholten einfachen Unzucht
mit Kindern gemäss Art. 191 Ziff. 1 Abs. 1 StGB und verurteilte ihn zu
30 Monaten Zuchthaus.

    C.- Gegen diesen Entscheid führen sowohl die Staatsanwaltschaft
Bern-Mittelland als auch der Verurteilte eidg. Nichtigkeitsbeschwerde und
beantragen Schuldigsprechung wegen wiederholter einfacher Unzucht gemäss
Art. 191 Ziff. 1 und 2 je Abs. 1 StGB und entsprechend mildere Bestrafung.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die beiden Beschwerdeführer machen geltend, die Kriminalkammer
habe Bundesrecht dadurch verletzt, dass sie die Beziehungen zwischen
H. Z. und X. als Dienstbotenverhältnis gewertet habe. In Wirklichkeit
sei das Kind bei Familie X. aber bloss als "Babysitterin" tätig gewesen;
einer solchen komme nicht die Stellung eines Dienstboten im Sinne von
Art. 191 Ziff. 1 Abs. 2 bzw. Ziff. 2 Abs. 5 StGB zu.

Erwägung 2

    2.- a) Art. 191 StGB unterstellt die Unzucht mit einem Kind dann einer
qualifizierten Bestrafung, wenn zwischen Täter und Opfer ein besonders
nahes Verhältnis besteht, welches dem Täter eine besondere Autorität über
das Kind verschafft und dieses in eine besondere Abhängigkeit zum Täter
bringt. Dies trifft nach dem Gesetz dann zu, wenn das Opfer der Schüler,
Zögling, Lehrling, Dienstbote oder das Kind, Grosskind, Adoptivkind,
Stiefkind, Mündel oder Pflegekind des Täters ist. Ein solches Vertrauens-
und Abhängigkeitsverhältnis zu einem Kinde durch Unzuchtshandlungen zu
missbrauchen, erscheint dem Gesetzgeber als besonders verwerflich und
hat ihn daher veranlasst, derartige Fälle besonders streng zu ahnden.

    Ist nach der Rechtsprechung der Kreis der Opfer, welche dieses
qualifizierten Schutzes teilhaftig werden sollen, schon wegen des hohen
Strafminimums einerseits nicht durch extensive Auslegung von Art. 191
Ziff. 1 Abs. 2 bzw. Ziff. 2 Abs. 5 StGB auszudehnen (BGE 71 IV 192 Erw. 4),
so besteht doch anderseits kein Grund, die in dieser Bestimmung erwähnten
besonderen Verhältnisse bloss deshalb restriktiv auszulegen, weil die im
Gesetz festgelegte Mindeststrafe dem Richter allgemein oder im konkreten
Einzelfall aus bestimmten Gründen als zu hart erscheint. Deshalb muss
auch bei neuen, im Laufe der Zeit entstandenen sozialen Verhältnissen
zwischen Täter und Opfer, wie z.B. demjenigen der "Babysitterin" zur
Dienstherrschaft, der qualifizierte Schutz des Art. 191 Ziff. 1 Abs. 2
bzw. Ziff. 2 Abs. 5 StGB Platz greifen, sofern diese ihrem Wesen nach
einem der in der genannten Bestimmung aufgezählten Erschwerungsgründe
entsprechen.

    b) Ein Dienstbotenverhältnis im Sinne der genannten Bestimmung liegt
nach der Rechtsprechung vor, wenn sich einerseits das Kind vertraglich
zur Leistung von Diensten auf Zeit und gegen Entgelt verpflichtet hat
und anderseits durch dieses Dienstverhältnis auf seiten des Täters eine
besondere Autorität und auf seiten des Kindes eine besondere Abhängigkeit
begründet wurde (BGE 78 IV 158 Erw. 1, 160). Endlich wird als wesentlich
erklärt, dass das Kind wegen der ihm obliegenden Verrichtungen im
Haushalt des Dienstherrn ähnlich einem zur Familie gehörenden Kinde ein-
und ausgehen kann und zum Täter eine enge persönliche Beziehung hat (BGE
80 IV 65). Als entscheidend erachtet der Kassationshof ferner, dass das
Kind als Dienstpflichtiger vom Dienstherrn - solange es in dessen Dienst
steht - Weisungen anzunehmen und zu befolgen hat (BGE 80 IV 66 Erw. 2).

    Belanglos für die Qualifikation eines Kindes als Dienstbote ist,
ob dieses zur Zeit der Tat nur die Kinder betreute oder auch schon
weitergehende Arbeiten verrichtete (BGE 78 IV 160), ferner ob der
Dienstvertrag von der Ehefrau als Partei abgeschlossen wurde; denn
dem Kinde kommt die Stellung als Dienstbote nicht bloss gegenüber
dem Vertragsgegner, sondern gegenüber jedem zu, dem es auf Grund des
Dienstbotenverhältnisses unterstellt ist (BGE 78 IV 160 unten).

    c) Legt man diese Kriterien dem vorliegenden Fall zugrunde, so hat
H. Z. in der Zeit von Juni 1971 bis Ende Januar 1972 als "Gaumermeitschi"
im Haushalt der Familie X. Dienstbotenarbeit verrichtet. Sie hat nach den
Feststellungen der Vorinstanz während Monaten regelmässig nach der Schule
die drei Kinder dieser Familie gehütet und bei der Erledigung ihrer
Schulaufgaben beaufsichtigt. Zur Entlastung der Ehefrau X. tat sie
dies darüber hinaus aber zudem auch noch oft an ihren schulfreien
Nachmittagen. Für diese nicht unwesentliche Verrichtung im Haushalt
X. bezog sie einen Lohn. Durch den sozusagen täglichen und intensiven
Kontakt mit den Kindern kam sie zwangsläufig auch in engen Kontakt mit den
beiden Eltern. Die Enge dieser Beziehungen geht u.a. auch daraus hervor,
dass H. Z. dem Angeschuldigten zum Geburtstag Zigaretten schenkte und
dafür auf ausdrückliches Geheiss von Frau X. von diesem geküsst wurde. Die
Vorinstanz stellt aber auch im übrigen verbindlich fest, dass die Eheleute
X. H. Z. ihr volles Vertrauen schenkten und diese sich an ihrem Wochenplatz
wie zuhause fühlen konnte; zum Zeitvertreib habe das Kind während des
Kinderhütens denn auch fernsehen dürfen. Der Umstand, dass während des
eigentlichen Kinderhütens weder Frau X. noch der Beschwerdeführer anwesend
waren, ändert an der Enge der Beziehungen zwischen diesem und dem Kinde
nichts, da solches in der Natur des Kinderhütens an Elternstatt liegt. Der
dem "Gaumermeitschi" zugebilligte regelmässige, aber unkontrollierte
Aufenthalt in der Wohnung der Familie X., das Anvertrauen der drei Kinder
und der Auftrag zur Kontrolle der Schulaufgaben verraten das Bestehen
eines gegenseitigen besondern Vertrauensverhältnisses zwischen beiden
Eltern X. und H. Z., auch wenn der persönliche Kontakt sich vor allem
auf Anfang und Ende der Beaufsichtigungszeit beschränkt hat.

    Da H. Z. den Kindern überdies das Abendessen zubereitete, empfing sie
von Frau X. Weisungen für diese Tätigkeit. Es steht fest, dass sie solche
aber auch vom Angeschuldigten erhalten hat. Denn das Obergericht führt
aus, X. habe bisweilen von H. Z. Handreichungen verlangt, indem er sie
beispielsweise hiess, für ihn Bier zu holen. Nach dieser tatsächlichen und
für den Kassationshof verbindlichen Feststellung (Art. 273 Abs. 1 lit. b
BStP) stand somit auch dem Angeschuldigten sogut wie seiner Ehefrau ein
Weisungsrecht gegenüber dem "Gaumermeitschi" zu.

    H. Z. anderseits konnte in der Wohnung ihrer Dienstherren jederzeit
ein- oder ausgehen, sei es mit den zu hütenden Kindern, sei es allein,
etwa zur Einnahme des Abendessens.

Erwägung 3

    3.- Unbehelflich ist der Einwand, die sexuellen Verfehlungen des
Angeschuldigten hätten jeweils nach dessen Heimkehr von der Arbeit
stattgefunden, also nachdem das Kinderhüten bereits beendigt war; in
jenem Zeitpunkt sei aber H. Z. nicht mehr der Dienstbote der Familie
X. gewesen. Mit Recht führt schon die Vorinstanz aus, dass das besondere
Autoritäts- bzw. Abhängigkeitsverhältnis, aber auch das besondere
Vertrauensverhältnis zwischen H. Z. und den Eltern X. mit der jeweiligen
Heimkehr des Beschwerdeführers nicht aufgelöst wurde. Tatsächlich
wirkte die besondere Beziehung der Autorität bzw. Abhängigkeit wie
auch diejenige des Vertrauens über die Zeit der Verrichtung der von
H. Z. übernommenen Dienste im Haushalt X. hinaus weiter. Mit andern Worten:
Der Beschwerdeführer blieb auch nach seiner Heimkehr von der Arbeit für
das Kind der Dienstherr, von dem dieses Weisungen zu empfangen und zu
befolgen hatte. Das durch den persönlichen Kontakt zwischen H. Z. und dem
Beschwerdeführer geschaffene Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis mit
Versuchungssituation bestand fort, ebenso die erhöhte Schutzbedürftigkeit
der minderjährigen Dienstbotin gegen sexuellen Missbrauch durch den
Dienstherrn. Wäre die Auffassung des Beschwerdeführers, wonach das
Dienstverhältnis mit der zeitlichen Unterbrechung der Verrichtung des
Dienstboten dahinfallen würde, richtig, so hätte das zur Folge, dass
eine noch im kindlichen Alter stehende Dienstbotin, die beispielsweise
während ihrer Zimmerstunde vom Dienstherrn sexuell missbraucht wird, des
qualifizierten strafrechtlichen Schutzes von Art. 191 Ziff. 1 Abs. 2 bzw.
Ziff. 2 Abs. 5 StGB verlustig ginge, während ihr dieser Schutz unmittelbar
nach Beendigung der Zimmerstunde wieder zuteil würde. Ein solches Ergebnis
kann vom Gesetzgeber nicht gewollt sein.

    War nach dem Gesagten H. Z. während des ganzen von Juni 1971 bis Ende
Februar 1972 dauernden Wochenplatzverhältnisses bei Familie X. Dienstbotin
im Sinne von Art. 191 Ziff. 1 Abs. 2 und Ziff. 2 Abs. 5 StGB, dann hat die
Vorinstanz den Beschwerdeführer aber mit Recht nach diesen Bestimmungen
verurteilt.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Beschwerden des X. und der Staatsanwaltschaft werden abgewiesen.