Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IV 15



99 IV 15

5. Entscheid der Anklagekammer vom 1. Juni 1973 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Thurgau gegen Staatsanwaltschaften der Kantone Luzern und
Zürich. Regeste

    Gerichtsstand.

    1.  Art. 350 Ziff. 1 StGB. Handlungen, die in Abwesenheit des
Beschuldigten bereits beurteilt wurden, sind bei der Bestimmung des
Gerichtsstandes zu berücksichtigen, wenn der Richter darüber auf Verlangen
des Beschuldigten neu urteilen muss (Erw. 1).

    2.  Art. 263 BStP. Gründe, die ein Abweichen vom gesetzlichen
Gerichtsstand rechtfertigen (Erw. 2 und 3).

Sachverhalt

    A.- Gegen den deutschen Staatsangehörigen Paul Baldur Pelka ist im
Kanton Zürich ein Strafverfahren hängig. Nachdem der Beschuldigte am
24. Juli 1972 aus der Untersuchungshaft entwichen war, verurteilte ihn
das Obergericht des Kantons Zürich am 5. Oktober 1972 in Abwesenheit
wegen Einbruchsdiebstahls und anderer Handlungen zu dreieinhalb Jahren
Zuchthaus, auf die es ihm 380 Tage Untersuchungshaft anrechnete. Am
10. Februar 1973 wurde Pelka im Kanton Thurgau verhaftet. Er verlangte die
Aufhebung des Urteils und die Durchführung des ordentlichen Verfahrens. Das
Obergericht setzte die Verhandlung zur Neubeurteilung der Sache auf den 28.
Juni 1973 an.

    Vom 25. Juli 1972 bis am 8. Februar 1973 soll Pelka weitere Diebstähle
und Diebstahlsversuche begangen haben, meistens in Verbindung mit
Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung durch Einbrechen in Häuser. Die
Tatorte befinden sich in neun Fällen von Diebstahl und zwei Fällen von
Diebstahlsversuch im Kanton Luzern, in einem Falle von Diebstahlsversuch
im Kanton Zürich, in vier Fällen von Diebstahlsversuch und zwanzig Fällen
von Diebstahl im Kanton Thurgau und in vier Fällen von Diebstahl im Kanton
Schaffhausen. Die ersten Strafanzeigen wegen solcher Verbrechen gingen am
25. Juli 1972 im Kanton Luzern ein. Daneben wird Pelka einiger Handlungen
beschuldigt, die mit geringerer Strafe bedroht sind (Entwendung eines
Motorfahrzeuges zum Gebrauch, Führen ohne Führerausweis, Fälschung von
Pässen usw.).

    B.- Die Behörden der Kantone Thurgau, Luzern und Zürich streiten
darüber, welcher Kanton Pelka für die seit seiner Entweichung vom 24. Juli
1972 begangenen strafbaren Handlungen zu verfolgen und zu beurteilen habe.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau beantragt der Anklagekammer
des Bundesgerichts mit Eingabe vom 25. Mai 1973, die Behörden des Kantons
Luzern, eventuell jene des Kantons Zürich zuständig zu erklären.

Auszug aus den Erwägungen:

              Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Handlungen, die das Obergericht des Kantons Zürich am
5. Oktober 1972 in Abwesenheit des Beschuldigten beurteilte, fallen
für die Bestimmung des Gerichtsstandes mit in Betracht. Pelka ist
ihretwegen noch immer im Sinne von Art. 350 Ziff. 1 StGB verfolgt,
denn das Urteil ist auf sein Verlangen dahingefallen, und diese Taten
werden im ordentlichen Verfahren neu zu beurteilen sein (§ 197 Abs. 1
zürch. StPO). Aus BGE 70 IV 92 ergibt sich nicht, dass die Verfolgung als
mit dem 5. Oktober 1972 abgeschlossen zu gelten habe. Die Anklagekammer
hat in diesem Präjudiz nur entschieden, die Erhebung der Anklage nach der
zürcherischen Strafprozessordnung schliesse die Anwendung von Art. 350
Ziff. 1 StGB nicht aus, der Beschuldigte sei solange im Sinne dieser
Bestimmung verfolgt, als seine Tat nicht gerichtlich beurteilt sei. Unter
dem gerichtlichen Urteil ist der die Strafverfolgung beendende Entscheid
zu verstehen. Ein in Abwesenheit des Angeklagten gefälltes Urteil erfüllt
diese Voraussetzung jedenfalls dann nicht mehr, wenn es auf Verlangen
des Verurteilten dahingefallen ist, mit der Folge, dass der Richter neu
urteilen muss.

    Zur Verfolgung und Beurteilung aller dem Beschuldigten vorgeworfenen
strafbaren Handlungen des eidgenössischen Rechts sind somit an sich die
Behörden des Kantons Zürich zuständig, da die erste Untersuchung wegen
Einbruchsdiebstahls in diesem Kanton angehoben wurde (Art. 350 Ziff. 1
Abs. 2 StGB).

Erwägung 2

    2.- Dieser Gerichtsstand ist jedoch unzweckmässig. Der Kanton Zürich
hätte entweder die Neubeurteilung der Handlungen, die Gegenstand des
Kontumazialverfahrens bildeten, bis nach dem Abschluss der Untersuchung
über die neu entdeckten Handlungen auszusetzen und nachher über alle ein
einziges Urteil zu fällen, oder er müsste - was das Strafgesetzbuch,
namentlich Art. 350 Ziff. 1, nicht verböte (BGE 97 IV 55/56 und dort
erwähnte Entscheide) - die neu entdeckten Handlungen in ein besonderes
Verfahren verweisen und für sie eine Zusatzstrafe ausfällen. Das eine
wie das andere Vorgehen kann ihm nicht zugemutet werden, da von den
zahlreichen neu entdeckten Verbrechen nur ein einziges im Kanton Zürich
ausgeführt worden ist. Diese Handlung, ein Diebstahlsversuch, ist zudem
mit geringerer Strafe bedroht als die vollendeten Diebstähle. Aus dem
Schreiben der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich vom 18. Mai 1973
ist zu schliessen, dass die zürcherischen Behörden wahrscheinlich aus
prozessökonomischen Gründen die Verfahren über die alten und die neuen
Handlungen nicht vereinigen würden. Es käme also zur Ausfällung einer
Zusatzstrafe. Eine solche kann aber ebenso gut in einem anderen der
beteiligten Kantone verhängt werden. Die Verlegung des Gerichtsstandes
in einen dieser Kantone hat den Vorteil, dass die meisten der neu
entdeckten Handlungen in jenem Gebiet beurteilt werden können, wo Pelka
sie ausgeführt hat. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau führt denn
auch selber aus, ihres Erachtens habe die Staatsanwaltschaft des Kantons
Zürich anlässlich einer telephonischen Rücksprache zu Recht an der im
Schreiben vom 18. Mai vertretenen Meinung festgehalten. Es rechtfertigt
sich unter diesen Umständen, gemäss Art. 263 BStP den Gerichtsstand
zur Verfolgung und Beurteilung der seit dem 25. Juli 1972 ausgeführten
strafbaren Handlungen anders zu bestimmen, als es nach Art. 350 Ziff. 1
Abs. 2 StGB geschehen müsste.

Erwägung 3

    3.- Da von der gesetzlichen Regel abzuweichen ist, kann es
vernünftigerweise nur zulasten des Kantons Thurgau, nicht zulasten
des Kantons Luzern geschehen. Von den neu entdeckten Diebstählen und
Diebstahlsversuchen sind 24 im Kanton Thurgau und nur 11 im Kanton Luzern
ausgeführt worden. Gewiss wurden die ersten Untersuchungen wegen dieser
Handlungen im Kanton Luzern angehoben. Darauf kommt aber schon deshalb
nichts an, weil der Grundsatz der Prävention (Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2),
der zum Gerichtsstand Zürich führen würde, ohnehin verlassen wird. Die
Untersuchungen der im Kanton Luzern angezeigten Handlungen sind zudem nicht
über die ersten polizeilichen Ermittlungen hinaus gediehen. Es bestehen
keine prozessökonomischen Gründe, den Gerichtsstand Luzern vorzuziehen,
weil in diesem Kanton ein Diebstahlsversuch schon am 26. Juli und zwei
Diebstähle am 31. Juli bzw. 28. August 1972 angezeigt wurden, die erste
Anzeige im Kanton Thurgau dagegen erst am 24. September 1972 einging.

Entscheid:

Demnach erkennt die Anklagekammer:

    Das Gesuch wird abgewiesen, und die Behörden des Kantons Thurgau werden
zuständig erklärt, Paul Baldur Pelka für alle seit seiner Entweichung
vom 24. Juli 1972 ausgeführten strafbaren Handlungen zu verfolgen und
zu beurteilen.