Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IV 135



99 IV 135

27. Urteil des Kassationshofes vom 2. Juli 1973 i.S. X. gegen
Jugendanwaltschaft des Kantons Luzern. Regeste

    Art. 91 und 93 Abs. 2 StGB.

    1.  Ablehnung der vom Gutachter vorgeschlagenen Familienerziehung
gegenüber einem Jugendlichen, der in der Erziehungsanstalt nicht gebessert
werden konnte.

    2.  Versetzung in die Strafanstalt unter Vorbehalt der Inkraftsetzung
der Art. 93bis und 93ter StGB. Begriff der Unverbesserlichkeit.

Sachverhalt

    A.- X., geb. 1953, floh im Herbst 1956 zusammen mit seinen Eltern
aus Ungarn in die Schweiz. Da er schwierig zu erziehen war und beide
Eltern dem Verdienst nachgehen mussten, verbrachte er den grössten Teil
seiner Jugend in Heimen und Anstalten, wo er wegen seines disziplinlosen
Verhaltens nur schwer gehalten werden konnte.

    Am 26. Juni 1969 wurde X. wegen wiederholten versuchten und vollendeten
Diebstahls vom Jugendgericht Luzern-Stadt gemäss Art. 91 Ziff. 1 StGB in
eine Erziehungsanstalt eingewiesen, aus der er nach mehr als 2 Jahren
versuchsweise entlassen wurde. Anschliessend hätte er die begonnene
Schlosserlehre fortsetzen sollen, doch wechselte er wiederholt die
Lehrstellen, blieb oft der Arbeit fern, trank Alkohol und trieb sich
im Oktober 1971 mit einem andern, der ein gestohlenes Auto besass, in
Hergiswil und Basel herum, bis er von der Polizei aufgegriffen werden
konnte. Am 16. November 1971 verübte er mit andern Burschen an einem
Homosexuellen in Luzern einen Raubversuch und wurde deswegen am 14. Juli
1972 vom Obergericht des Kantons Luzern erneut gemäss Art. 91 Ziff. 1
StGB in eine Erziehungsanstalt eingewiesen.

    Nachdem X. am 16. Dezember 1972 zum zweiten Mal aus
der Erziehungsanstalt Aarburg entwichen war, veranlasste die
Jugendanwaltschaft des Kantons Luzern anfangs 1973 eine Begutachtung
in der psychiatrischen Klinik St. Urban. Der Gutachter fand, dass
X. nicht geisteskrank sei und eine normale Intelligenz aufweise. Er leide
weder an Epilepsie noch an neurotischen Störungen. Er könne jedoch als
ausgesprochen triebhaft-erregbarer, unbeherrscht-haltarmer, egozentrischer,
spannungsintoleranter, infantiler und bindungsarmer Psychopath bezeichnet
werden, der wegen seines Macht- und Geltungstriebes zu Trotz, Drohungen,
Gewalttätigkeiten und antisozialem Verhalten neige. Zufolge dieser
charakterlichen Besonderheiten habe er schon von früher Jugend an
durch keine erzieherischen Massnahmen beeinflusst werden können und
sei zu sozialer Einordnung unfähig. Angesichts des Misserfolges der
bisherigen Heim- und Anstaltsaufenthalte hält der Experte dafür,
dass X. in einer Erziehungsanstalt nicht gebessert werden könne. In
eine Arbeitserziehungsanstalt sei er nicht einzuweisen, da er nicht
eigentlich arbeitsscheu sei und auch dort die gleichen Schwierigkeiten
böte. Das Therapieheim gemäss Art. 93ter des revidierten StGB existiere
noch nicht. Der Gutachter schlägt vor, X. nochmals aus der Heimerziehung zu
beurlauben und in einer geeigneten Familie unterzubringen, ihn zu strenger
Arbeit und einer Antabuskur anzuhalten. Falls er sich in der Freiheit
nicht bewähre, wäre er bei Straffälligkeit nach Erwachsenenstrafrecht zu
beurteilen oder in eine Arbeitserziehungsanstalt oder eine Anstalt für
Nacherziehung einzuweisen.

    B.- Gestützt auf dieses Gutachten beantragten X. und sein Vormund,
die am 14. Juli 1972 vom Obergericht des Kantons Luzern angeordnete
Anstaltserziehung in eine Erziehung in einer Familie im Sinne von Art. 91
Ziff. 2 Abs. 1 StGB umzuwandeln.

    Die Jugendanwaltschaft verlangte die Ablehnung dieses Gesuches und
die Einweisung des X. in eine Strafanstalt.

    C.- Mit Urteil vom 22. März 1973 wies das Obergericht des Kantons
Luzern X. gemäss Art. 93 Abs. 2 StGB auf unbestimmte Zeit in eine
Strafanstalt ein.

    D.- Eine von X. gegen diesen Entscheid erhobene staatsrechtliche
Beschwerde wurde vom Bundesgericht am 1. Juni 1973 abgewiesen, soweit
darauf einzutreten war.

    E.- X. führt ausserdem Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung
an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er widersetzt sich der Einweisung in
eine Strafanstalt und verlangt die Umwandlung der Anstaltserziehung in
die Erziehung in einer vertrauenswürdigen Familie.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Im Rahmen der in Art. 91 StGB umschriebenen Voraussetzungen ist es
weitgehend Ermessenssache des Sachrichters, ob der erziehungsbedürftige
Jugendliche in eine Erziehungsanstalt eingewiesen oder ob er der eigenen
oder einer vertrauenswürdigen andern Familie zur Erziehung übergeben
wird. Der Kassationshof greift nur ein, wenn der Sachrichter sich bei der
Wahl der Erziehungsmassnahme von rechtlich unzulässigen Kriterien leiten
lässt oder wenn er das ihm zustehende Ermessen überschreitet (BGE 88 IV
98, 96 IV 13 Erw. 3).

    Das trifft im vorliegenden Fall nicht zu. Wie aus dem Urteil des
Obergerichtes vom 14. Juli 1972 und aus dem in der Beschwerde angerufenen
Gutachten hervorgeht, hat sich der Beschwerdeführer nach seiner
versuchsweisen Entlassung aus der Erziehungsanstalt auf verschiedenen
Lehrstellen nicht halten können, ist oft der Arbeit ferngeblieben
und hat auch Stellen, wo sich der Arbeitgeber seiner mit Verständnis
annahm, ohne Grund nach kurzer Zeit wieder verlassen. Selbst in der
gewöhnlichen Jugenderziehungsanstalt konnte er sich nicht einfügen und
bereitete erhebliche Schwierigkeiten. Der Gutachter selber schlägt
die Familienerziehung nicht deshalb vor, weil er vom Erfolg dieser
Massnahme überzeugt ist. Er will es mit einer Erziehung ausserhalb
der Anstalt lediglich nochmals versuchen, ohne dass er für den Erfolg
dieser Massnahme ernsthafte und überzeugende Gründe anführen kann. Die
naheliegende Möglichkeit, X. werde sich infolge seines Charakters und
der fortgeschrittenen Verwahrlosung in der Freiheit nicht bewähren,
hat auch der Gutachter in Betracht gezogen, weshalb er für diesen
Fall die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts oder die Einweisung
in eine Arbeitserziehungsanstalt oder Anstalt für Nacherziehung als
unvermeidlich hält. Wird ferner berücksichtigt, dass der impulsive und
verwahrloste Beschwerdeführer nicht einmal in der Jugenderziehungsanstalt
zur Selbstdisziplin angehalten werden konnte, so hat die Vorinstanz ihr
Ermessen nicht überschritten, wenn sie fand, die Familienerziehung sei
für den Beschwerdeführer nicht die geeignete Massnahme.

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 93 Abs. 2 StGB kann ein Jugendlicher, der das 18.
Altersjahr erreicht hat, in eine Strafanstalt versetzt werden, wenn er sich
während des Aufenthaltes in einer Erziehungsanstalt als unverbesserlich
erwiesen hat oder wenn sein Verhalten eine Gefahr für die Erziehung
der übrigen Zöglinge bedeutet. Die Versetzung in die Strafanstalt
ist nicht Strafe. Sie bleibt Massnahme mit der Sonderheit, dass die
Anstaltsversorgung mit den Mitteln der strafanstaltlichen Disziplin
weitergeführt wird. Bei der Schwere des Eingriffs dürfen freilich
die Voraussetzungen des Art. 93 Abs. 2 StGB nicht leicht als erfüllt
angenommen werden. So kann der Jugendliche als unverbesserlich erst
gelten, wenn die bisherigen erzieherischen Massnahmen beweisen, dass
er schlechthin unbeeinflussbar ist (BGE 85 IV 16). Gemeint ist damit,
wie schon der Hinweis auf die bisherigen erzieherischen Massnahmen zeigt,
dass die ordentlichen, in Art. 91 StGB erwähnten Erziehungsmittel keinen
Erfolg mehr versprechen. Nicht nötig ist, dass der Jugendliche überhaupt
unbeeinflussbar sei. Als unverbesserlich darf auch angesehen werden, wer
trotz strenger Aufsicht wiederholt aus der Anstalt entweicht, so dass
die Einweisung, weil zur Zeit geschlossene Erziehungsanstalten fehlen,
sich als aussichtslos erweist (BGE 91 IV 180). Insbesondere soll der
Jugendliche nicht durch Entweichungen oder sonstiges schlechtes Verhalten
die Aufhebung der an sich erforderlichen Anstaltserziehung erzwingen können
(BGE 96 IV 15 Erw. 3).

    Die Vorinstanz nimmt an, die am 14. Juli 1972 gestützt auf Art. 91
Ziff. 1 StGB angeordnete Einweisung in eine Erziehungsanstalt habe sich
als unwirksam erwiesen. In dieser Beurteilung der Lage geht sie mit den
Parteien und dem Gutachter einig. Dieser schliesst aus dem Misserfolg der
bisherigen Heim- und Anstaltsaufenthalte, die nahezu 16 Jahre gedauert
haben, ferner aus der besonders schwierigen Charakterstruktur und der
kräftigen körperlichen Entwicklung des Beschwerdeführers, dass weitere
erzieherische Massnahmen nach Art. 91 Ziff. 1 StGB in einem Erziehungsheim
der Altersklasse von 13-22 Jahren keinen Sinn mehr hätten und dass der
Beschwerdeführer insofern als nicht erziehbar zu gelten habe. Abgesehen
davon, dass nach Auffassung des Gutachters das Ziel der Erziehung beim
Beschwerdeführer in einem Erziehungsheim nicht erreicht werden kann, ist
auch, wie die Stellungnahme der Anstalt Aarburg zeigt, damit zu rechnen,
dass nach den bisherigen vergeblichen Bemühungen auch kein Erziehungsheim
bereit wäre, den Beschwerdeführer wieder aufzunehmen. Zudem äusserte sich
X. selber dem Gutachter gegenüber, er werde sich einer Einweisung in eine
Erziehungs- oder Arbeitsanstalt energisch widersetzen, er könne versichern,
man werde ihn dort nicht lange halten. Mit Rücksicht auf seine zweimalige
Flucht aus der Erziehungsanstalt Aarburg und seine früheren Entweichungen
sowie im Hinblick auf seine Neigung zur Gewalttätigkeit brauchte die
Vorinstanz diese Erklärungen nicht als leere Drohungen anzusehen. Ohne
Ermessensüberschreitung durfte sie, der Jugendanwaltschaft folgend,
daraus den Schluss ziehen, die Anstaltserziehung sei deshalb mit den
Mitteln der strafanstaltlichen Disziplin fortzusetzen. Auch wenn der
Beschwerdeführer weder als gemeingefährlich bezeichnet werden kann, noch
seine Vergehen als besonders schwer zu bezeichnen sind, erweist sich die
Versetzung in eine Strafanstalt nach geltendem Recht und beim heutigen
Stand der Anstalten als die richtige oder doch vertretbare Behandlung. Den
medizinischen und psychotherapeutischen Bedürfnissen, zu denen im Gutachten
Stellung genommen wird, kann auch in der Strafanstalt Rechnung getragen
werden. Die Einweisung in eine Strafanstalt hält daher, auch wenn sie
nicht dem Vorschlag des Gutachters entspricht, vor dem Gesetz stand.

    Wenn die revidierten Art. 93bis und 93ter in Kraft gesetzt werden,
hat die vollziehende Behörde die Einweisung in die Strafanstalt aufzuheben
und eine der dort vorgesehenen Vollzugsmethoden anzuordnen, sofern die
zuständige Stelle die Massnahme nicht schon früher oder aus andern Gründen
abändern oder aufheben kann.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.