Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 II 93



99 II 93

14. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 29. Mai 1973
i.S. Meienberg gegen Waadtländische Unfallversicherung auf Gegenseitigkeit.
Regeste

    Motorfahrzeughaftpflicht, Rückgriff.

    1.  Art. 60 Abs. 2 Satz 2 und Art. 61 Abs. 1 SVG stellen für die
Verteilung des Schadens auf die beteiligten Halter dem Sinne nach die
gleiche Regel auf (Erw. 1).

    2.  Regelung des Schadens zwischen Haltern, wenn die Betriebsgefahren
ihrer Fahrzeuge als gleich zu werten sind, den einen Führer ein
erhebliches, den andern aber kein Verschulden am Unfall trifft (Erw. 2
und 3).

Sachverhalt

    A.- Frau Mayer fuhr am 1. Januar 1962, etwa um 14.15 Uhr, am
Steuer eines DKW-Personenwagens auf der 9 m breiten Sihltalstrasse
von Horgen gegen Sihlbrugg. Es schneite und die Strasse war mit 3-5 cm
Schnee bedeckt. In einer Rechtsbiegung bei Sihlwald, wo die Strasse eine
Steigung von 4 % aufweist, geriet das Fahrzeug bei einer Geschwindigkeit
von 60 km/h ins Schleudern; es überquerte die linke Fahrbahn und stiess
mit einem Opel-Personenwagen zusammen, der, von Frau Meienberg geführt,
mit 50-60 km/h von Sihlbrugg her kam. Frau Meienberg und ihr Ehemann
Werner Meienberg, geb 1929, wurden beim Zusammenstoss erheblich verletzt.

    Halter des DKW-Wagens war Walter Süess, Halter des Opel Werner
Meienberg.

    Frau Mayer wurde wegen fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs
und fahrlässiger Körperverletzung mit Fr. 200.-- gebüsst.

    B.- Im Oktober 1970 klagte Werner Meienberg gegen die Waadtländische
Unfallversicherung auf Gegenseitigkeit, bei der Süess für seine
Halterhaftpflicht versichert war, auf Zahlung von Fr. 21'600.-- nebst
5% Zins seit 1. Januar 1962, wovon ein bereits bezahlter Betrag von
Fr. 17'000.-- abzuziehen sei.

    Die Beklagte widersetzte sich dem Begehren und erhob Widerklage auf
Zahlung von Fr. 9'000.-- nebst 5% Zins seit 1. Januar 1971.

    Das Bezirksgericht Horgen wies beide Klagen ab. Auf Appellation der
Parteien wies das Obergericht des Kantons Zürich am 20. November 1972
die Klage ebenfalls ab, hiess die Widerklage aber dahin gut, dass es
den Kläger verpflichtete, der Beklagten Fr. 7'062.10 nebst 5% Zins seit
1. Januar 1971 zu bezahlen.

    C.- Auf Berufung des Klägers bestätigt das Bundesgericht mangels
genügender Substanzierung das Urteil des Obergerichts mit Bezug auf die
Hauptklage, weist die Widerklage aber ab.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Kläger beruft sich auf Art. 61 SVG, der den Schadenersatz
zwischen Haltern regelt, wenn mehrere Motorfahrzeuge an einem Unfall
beteiligt sind. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift wird der Schaden bei
körperlicher Schädigung eines Halters den Haltern aller beteiligten
Motorfahrzeuge zu gleichen Teilen auferlegt, sofern nicht die Umstände,
namentlich das Verschulden, eine andere Schadentragung rechtfertigen.

    Die Beklagte übt mit ihrer Widerklage gestützt auf Art. 60 Abs. 2
SVG in Verbindung mit Art. 72 VVG (BGE 95 II 338 Erw. 4) den Rückgriff
auf den Kläger aus. Sie belangt ihn als Halter des Opel-Wagens für
einen Teil der Entschädigung, die sie als Haftpflichtversicherung des
Halters Süess bis jetzt an die Frau des Klägers bezahlt hat. Das Mass
dieses Rückgriffes richtet sich nach Art. 60 Abs. 2 Satz 2 SVG, wonach der
Schaden eines Dritten, für den gemäss Abs. 1 der Bestimmung mehrere Halter
von Motorfahrzeugen solidarisch haften, von diesen zu gleichen Teilen zu
tragen ist, wenn nicht besondere Umstände, namentlich das Verschulden,
eine andere Verteilung rechtfertigt.

    Art. 60 Abs. 2 Satz 2 und Art. 61 Abs. 1 SVG stellen somit für die
Verteilung des Schadens auf die beteiligten Halter dem Sinne nach die
gleiche Regel auf, mag in der ersten Bestimmung auch von "besonderen
Umständen", in der zweiten nur von "Umständen" die Rede sein. Die Regel
gilt für den Schaden Dritter und für den Körperschaden von Haltern (BGE 95
II 343 Erw. 7, 97 II 367 Erw. 5; OFTINGER, Haftpflichtrecht II/2 S. 675);
sie ist im vorliegenden Fall daher nicht nur für die Forderungen des
Klägers, sondern auch für die Gegenforderung der Beklagten massgebend.

Erwägung 2

    2.- Der Kläger wirft dem Obergericht vor, diese Regel verletzt
zu haben.

    a) Soweit er den Vorwurf damit begründet, das Obergericht habe
übersehen, dass nicht nur die beteiligten Halter, sondern auch Frau
Mayer solidarisch für den Schaden haften, beruht die Rüge auf einem
Missverständnis. Gewiss ist Frau Mayer, die den Zusammenstoss schuldhaft
verursacht hat, verantwortlich für die Unfallfolgen, gemäss Art. 60 Abs. 1
SVG also solidarisch haftpflichtig (BGE 95 II 337 Erw. 3). Für welchen
Teil sie gestützt auf Art. 60 Abs. 3 SVG aufzukommen hätte, braucht
aber nicht entschieden zu werden, da sie im vorliegenden Verfahren
nicht auf Schadenersatz belangt wird, was an der Auseinandersetzung
zwischen den Prozessparteien übrigens nichts ändert. Der Kläger
verkennt, dass der Halter Süess, folglich auch die Beklagte als dessen
Haftpflichtversicherung, sich das Verschulden der Frau Mayer gemäss
Art. 58 Abs. 4 SVG anrechnen lassen muss. Die Vorinstanz hat es daher zu
Recht sowohl nach Art. 60 Abs. 2 Satz 2 als auch nach Art. 61 Abs. 1 SVG
berücksichtigt. Fragen kann sich nur, ob sie von unrichtigen rechtlichen
Voraussetzungen ausgegangen sei, um die Höhe der Halteranteile am Schaden
zu bestimmen.

    b) Nach der erwähnten Regel ist der Schaden den beteiligten Haltern zu
gleichen Teilen aufzuerlegen, wenn nicht (besondere) Umstände, namentlich
das Verschulden, eine Abweichung rechtfertigen. Die Regel beruht auf
der Vermutung, dass die Betriebsgefahren der am Unfall beteiligten
Motorfahrzeuge meistens einigermassen gleich sind. Die Vermutung kann aber
durch den Nachweis widerlegt werden, dass die Gefahr des einen Fahrzeuges
nach dessen Art, Grösse, Geschwindigkeit usw. offensichtlich überwiegt
(BGE 94 II 178/9 Erw. c und d; OFTINGER, aaO S. 676).

    Über die Bedeutung, die dem Verschulden als Bemessungsfaktor zukommt,
wird in einem Teil des Schrifttums die Auffassung vertreten, bei Kollision
von Gefährdungshaftungen könne auch bei der internen Schadenverteilung
nur das im Sinne des Art. 59 Abs. 1 SVG grobe Verschulden des einen
Halters zur völligen Entlastung des schuldlosen anderen führen; werde
dieser Nachweis nicht erbracht, so müsse selbst dem schuldlosen wegen der
Betriebsgefahr seines Fahrzeugs ein Bruchteil des Schadens auferlegt werden
(OFTINGER, Haftpflichtrecht I S. 284/5, II/2 S. 652/3; MENGHINI, Zur Frage
der Kollision von Gefährdungshaftungen, SJZ 1953 S. 358 ff.; PORTMANN,
Die Ersatzpflicht bei gegenseitiger Schädigung mehrerer Haftpflichtiger
und der Regress des Sachversicherers, ZBJV 1954 S. 23/24; STARK, Die
Haftpflicht aus Motorfahrzeugunfällen in rechtsvergleichender Sicht, SJZ
1959 S. 344; BREHM, Collisions entre véhicules automobiles, Juristische
Publikationen des ACS 1971 S. 27 ff., insbes. S. 35).

    In der Rechtsprechung zu Art. 39 MFG liess sich das Bundesgericht
dagegen vom Grundsatz leiten, bei ungefähr gleichen Betriebsgefahren
sei der Schaden unter den beteiligten Haltern nach dem Verschulden
aufzuerlegen. Dies hatte zur Folge, dass der schuldlose Halter vom
fehlbaren die Deckung des ganzen Schadens verlangen durfte und an den
Schaden des letzteren nichts beitragen musste (BGE 68 II 118 ff.). In BGE
84 II 311 wurde diese Regel bloss dahin ergänzt, dass dem geschädigten
Halter ein herabgesetzter Ersatzanspruch nicht nur bei offensichtlichem
Überwiegen der Betriebsgefahr auf Seiten des schuldlosen Schädigers
zustehen sollte, sondern auch dann, wenn das Verschulden des Geschädigten
als ganz geringfügig erschien und ihm daher im Rahmen des Kausalablaufs
nur eine äusserst untergeordnete Bedeutung zukam.

    Diese Rechtsprechung wurde, ausser von den hievor angeführten
Autoren, auch von MERZ (ZBJV 1959 S. 475) und OSWALD (Probleme der
Haftpflicht des Motorfahrzeughalters, BJM 1967 S. 22) kritisiert,
weil sie rein schuldrechtlich ausgerichtet sei und den Kausalanteil,
der auf das Fahrzeug des schuldlosen Halters entfalle, ausser acht lasse
(vgl. ferner BUSSY, SJK Nr. 915a N. 6 und Nr. 916 N. 16; BUSSY/RUSCONI,
N. 2.7 zu Art. 60 und N. 1.2 lit. c zu Art. 61 SVG; GREC, La situation
juridique du détenteur de véhicule automobile en cas de collision de
responsabilités, Diss. Lausanne 1969, S. 110/15).

    c) Das Bundesgericht vertritt demgegenüber auch unter der Herrschaft
des SVG die Auffassung, dass den konkreten Betriebsgefahren im Rahmen der
Gesamtverursachung nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt, sobald die
beteiligten Halter ein Verschulden trifft, da diesfalls der Schaden in
erster Linie nach ihrem Verschulden zu teilen ist (BGE 97 II 367 Erw. 5;
CHATELAIN, Tendances actuelles du Tribunal fédéral dans le domaine de
la responsabilité civile, ZBJV 1969 S. 226 ff., insbes. S. 230). Diese
Auffassung liegt insbesondere auch BGE 94 II 173 ff. zugrunde; dort wurde
bei ungefähr gleichen Betriebsgefahren der Halter mit dem erheblichen
Verschulden verpflichtet, dem andern, den nur ein leichtes Verschulden
traf, zwei Drittel seines Schadens zu ersetzen. Ähnlich verhielt es
sich nach dem unveröffentlichten Entscheid vom 6. Mai 1971 i.S. Foletta
gegen Müller, wo der Halter, der unvorsichtig von der Hauptstrasse nach
links in einen Feldweg abbog, den ganzen Schaden zu tragen hatte, obwohl
der andere Halter (auf der geraden und freien Strecke) mit 110-130 km/h
überholen wollte. Mitberücksichtigt wurde die offensichtlich ungleiche
Betriebsgefahr des schuldlosen Halters dagegen in BGE 95 II 333 ff.

    Die Kritik an der bundesgerichtlichen Rechtsprechung verkennt, dass
die latente Betriebsgefahr, die mit jedem sich im Verkehr befindlichen
Fahrzeug verbunden ist, nicht ausschlaggebend sein kann. Massgebend müssen
vielmehr die Ursachen sein, auf die die Verwirklichung dieser latenten
Gefahr im Einzelfall zurückzuführen ist. Bei den meisten Verkehrsunfällen
ist diese Ursache aber - wenn von der mangelhaften Beschaffenheit der
Fahrzeuge abgesehen wird - im schuldhaften Verhalten eines oder mehrerer
Halter oder von Personen zu erblicken, für die ein Halter einzustehen hat;
sonst entstünde eben trotz der vorhandenen Betriebsgefahr der Fahrzeuge
kein Schaden. Es entspricht deshalb durchaus gesundem Rechtsempfinden,
wenn der Halter, der durch erhebliches schuldhaftes Verhalten die Ursache
dafür setzt, dass sich die Betriebsgefahren von zwei Fahrzeugen auswirken,
im Verhältnis zum andern Halter, den kein Verschulden trifft, den
ganzen Schaden tragen muss. Dagegen lässt sich im Ernst nicht einwenden,
dass dann "auch das Selbstverschulden des Nichthalters gegenüber einem
schuldlosen Halter zu grösseren Reduktionen und bald einmal zur Befreiung
führen" müsste (MERZ, aaO). Mit den Nichthaltern sind die nicht der
Gefährdungshaftung unterstellten Strassenbenützer, insbesondere die
Fussgänger gemeint. Diese können nicht, wie Fahrzeugführer, durch
eine eigene Betriebsgefahr einen Unfall verursachen, gleichviel ob
sie sich im Verkehr pflichtgemäss oder schuldhaft verhalten. Benehmen
sie sich verkehrswidrig, so gefährden sie meistens nur sich selber,
weil sie sich der Betriebsgefahr von Fahrzeugen aussetzen; Verschulden
und Betriebsgefahr konkurrieren dann als Schadensursachen. In solchen
Fällen ist nicht zu beanstanden, dass auch der schuldlose Halter "unter
Würdigung aller Umstände" (Art. 59 Abs. 2 SVG) für den Schaden teilweise
aufzukommen hat, wenn der Unfall nicht, was der Halter zu beweisen hat,
durch höhere Gewalt oder grobes Verschulden des Geschädigten verursacht
worden ist (Art. 59 Abs. 1 SVG).

    Die Einsicht, dass diese Rechtsprechung sachlich begründet ist,
gewinnt übrigens im Schrifttum an Boden; sie wird insbesondere von
A. KELLER (Haftpflicht im Privatrecht S. 302 ff.), von CH. WYNIGER (Über
Haftungskollisionen, insbesondere von Kausalhaftungen, in Juristische
Publikationen des ACS 1971 S. 14/15) und nunmehr auch von OSWALD (Der
Ausgleich unter Motorfahrzeughaltern nach SVG 60 Abs. 2, ebendort S. 81
ff.) befürwortet. Wie diesem Aufsatz zu entnehmen ist, haben sich auch
die Versicherungsgesellschaften damit abgefunden. Nach ihren Richtlinien
ist bei ungefähr gleichwertigen Betriebsgefahren das einseitige und
nicht ganz leichte Verschulden eines Halters zusammen mit der Kausalität
seines Fahrzeuges als derart überwiegende Schadensursache zu betrachten,
dass dieser den vollen Schaden zu tragen hat. Der Betriebsgefahr ist
nur Rechnung zu tragen, wenn sie sich beim einen Halter besonders stark
ausgewirkt hat oder wenn den allein schuldigen Halter nur ein geringfügiges
Verschulden trifft (aaO S. 83/84).

Erwägung 3

    3.- Nach dem angefochtenen Urteil fuhr Frau Meienberg auf der 9
m breiten, schneebedeckten Strasse korrekt talabwärts. Sie konnte die
Gefahr eines Zusammenstosses mit dem nach links ausscherenden DKW-Wagen
erst erkennen, als sie von der Unfallstelle nur noch 10-12 m entfernt
war. Auf diese Entfernung vermochte sie bei einer Geschwindigkeit
von 50-60 km/h weder auszuweichen, noch anzuhalten. Sie hat den Unfall
folglich nicht mitzuverantworten. Der Zusammenstoss ist ausschliesslich auf
Verschulden der Frau Mayer zurückzuführen. Ihr Verschulden lässt sich in
fahrtechnischer Hinsicht zudem nicht verharmlosen. Völlig unverständlich
nahm sie auf der glitschigen Strecke bei eingeschaltetem Gang und einer
Geschwindigkeit von 60 km/h das Gas weg, was einer plötzlichen Bremsung
gleichkam und den Wagen ins Schleudern brachte. Daraufhin verlor sie die
Herrschaft über den Wagen, der nach links abgetrieben wurde und dabei
das entgegenkommende Fahrzeug rammte.

    Die ungefähr gleichen Betriebsgefahren der Fahrzeuge fallen unter
diesen Umständen ausser Betracht, und das erhebliche einseitige Verschulden
der Frau Mayer hat nach den hievor dargelegten Grundsätzen zur Folge,
dass die Regressforderung der Beklagten abzuweisen ist und der Kläger
Anspruch auf vollen Schadenersatz hat.