Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 II 53



99 II 53

10. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 29. Mai 1973 i.S. M
und N gegen B. Regeste

    Art. 115 und 522 Abs. 1 OR. Berufung auf Formmangel eines Vertrages,
durch den Pfrundleistungen versprochen wurden, die der Pfründer nach
Abschluss des Vertrages aber nicht mehr als solche betrachtete.

Sachverhalt

    A.- Der 1880 geb. A vermietete 1948 eine Wohnung seines
Zweifamilienhauses den Eheleuten B. Als seine Frau ein Jahr später starb,
wurde das Verhältnis zu den Mietern enger. A nahm bei diesen regelmässig
das Mittagessen ein und liess sich durch Frau B die Wäsche besorgen und
die Wohnung reinigen, alles gegen Bezahlung.

    Am 10. April 1964 liessen A und B über die Liegenschaft einen
"Kaufvertrag" öffentlich beurkunden, den Frau B mitunterzeichnete. Die
Kaufsumme von Fr. 90'000.-- sollte zu 28'000.-- durch Verrechnungen,
zu 10'000.-- durch Übernahme einer Grundpfandschuld im ersten Rang und
zu 27'000.-- in bar getilgt werden. Im Restbetrag von Fr. 25'000.--
gewährte der Verkäufer dem Käufer ein Darlehen, das durch eine
Grundpfandverschreibung im zweiten Rang sichergestellt wurde und mit 4%
zu verzinsen war. Die vom Käufer zur Verrechnung gestellte Forderung
von Fr. 28'000.-- wurde im Vertrag zu Fr. 6'500.-- als Gegenwert
für ein lebenslängliches und unentgeltliches Wohnrecht angegeben,
das dem Verkäufer im ersten Stock des Hauses eingeräumt wurde. Der
Käufer verpflichtete sich zudem zusammen mit seiner Ehefrau, dem
Verkäufer lebenslänglich und unentgeltlich die Wäsche zu besorgen,
die Wohnung zu reinigen, das Mittagessen zu geben und ihn in leichteren
Krankheitsfällen unentgeltlich zu pflegen, wofür die Vertragsparteien
weitere Fr. 6'500.-- berücksichtigten. Fr. 15'000.-- sodann begründeten
sie mit "Aufwendungen, die der Käufer und seine Ehefrau seit 15 Jahren
geleistet haben" (Reinigungs- und Gartenarbeiten, Wäsche, Essen, Pflege
usw.). Die Eheleute B gaben dem A nach dem Vertragsschluss wie bis anhin
das Mittagessen, besorgten ihm die Wäsche und reinigten ihm die Wohnung,
aber nie unentgeltlich; A bezahlte sie dafür. Den Zins für das im zweiten
Rang gesicherte Grundpfanddarlehen von Fr. 25'000.-- forderte er nie;
er stellte ihnen dafür regelmässig fingierte Quittungen aus.

    B.- Nach dem Tode des A im Jahre 1970 klagten dessen Töchter M und
N gegen B insbesondere auf Nichtigkeit des Vertrages vom 10. April 1964.

    Das Bezirksgericht Aarau und auf Appellation hin am 17. November 1972
auch das Obergericht des Kantons Aargau wiesen die Klage ab.

    Das Bundesgericht weist die Berufung der Klägerinnen ab und bestätigt
das Urteil des Obergerichts.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

    Die Klägerinnen halten den Vertrag insbesondere für ungültig, weil
er den Bestimmungen des Verpfründungsvertrages unterstehe, aber nicht
in der von Art. 522 Abs. 1 OR vorgeschriebenen Form des Erbvertrages
abgeschlossen wurde.

    Ob der Vertrag dieser Form bedurfte, braucht indessen nicht entschieden
zu werden. Wenn die Vertragschliessenden die Natural- und Dienstleistungen
und das Wohnrecht nicht überhaupt bloss zur Dissimulation des vereinbarten
Kaufpreises in den Vertrag aufgenommen haben, sondern sie ursprünglich als
teilweise Gegenleistung für die Liegenschaft und damit als Pfrundleistungen
behandelt wissen wollten, betrachtete A sie jedenfalls alsbald nach dem
Abschluss des Vertrages nicht mehr als solche. Er bezahlte die Natural-
und Dienstleistungen der Eheleute B nach dem 10. April 1964 gleich
wie vorher, und als Entgelt für das Wohnen will er dem Beklagten die
Zinsen für die im zweiten Rang gesicherte Grundpfandforderung erlassen
haben, was der Beklagte, sich angeblich in der Rolle eines Beschenkten
fühlend, unwidersprochen geschehen liess. Die Klägerinnen missbrauchen
offensichtlich das Recht, indem sie geltend machen, der Vertrag hätte
wegen verpfründungsrechtlicher Merkmale der Form des Erbvertrages bedurft,
obschon ihr Rechtsvorgänger sich nie als Pfründer gefühlt und benommen
hat. A hat darauf verzichtet, den Vertrag als (teilweises) Pfrundverhältnis
durchzuführen. Er begab sich nach dem Vertragschluss in die gleiche Lage,
in der er sich befunden hätte, wenn ihm die verpfründungsrechtlichen
Leistungen in der Form des Erbvertrages versprochen worden und die
Vertragschliessenden nachher übereingekommen wären, der Vertrag solle
hinsichtlich dieser Leistungen nicht mehr gelten, diese seien vielmehr
fortlaufend besonders zu vergüten. Eine solche Übereinkunft wäre formlos
gültig gewesen, und A hätte bei ihr behaftet werden müssen (Art. 115
OR). Indem die Klägerinnen Art. 522 Abs. 1 OR anrufen, um den Vertrag zu
Fall zu bringen, versuchen sie diese Bestimmung einem Zwecke dienstbar
zu machen, der ihr fremd ist.