Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 II 344



99 II 344

47. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 2. Oktober 1973
i.S. Hoffmann-La Roche & Cie AG gegen U. Ravizza S.a.S. und Ravizza
SA Regeste

    Patentrecht. Vorsorgliche Massnahmen (Art. 77 f.  PatG).

    Zuständig ist - vor Einleitung des Hauptprozesses - der Richter an
den nach Art. 75 PatG für die Anhebung der Zivilklage massgebenden Orten
(Art. 78 PatG).

    Der Gesuchsteller braucht nicht den vollen Beweis dafür zu erbringen,
dass der Gesuchsgegner eine gegen das Gesetz verstossende Handlung begangen
hat oder vorzunehmen beabsichtigt; es genügt, wenn für die Richtigkeit
seiner Behauptung eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht (Erw. 2).

    Ausführungen darüber, dass im konkreten Fall eine bevorstehende
Patentverletzung glaubhaft gemacht ist (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Die Hoffmann-La Roche & Cie AG, Basel, ist Inhaberin von vier
schweizerischen Hauptpatenten betreffend Verfahren zur Herstellung
von Diazepam (Benzodiazepinen und Benzodiazepin-Derivaten). Gemäss der
Mitte August 1972 im Monatsbericht der Interkantonalen Kontrollstelle
für Heilmittel in Bern (IKS) Nr. 7 vom Juli 1972 erschienenen Mitteilung
hat die Union Romande & Amann SA in Lausanne für U. Ravizza S.a.S. Muggio
(Milano) die sanitätspolizeiliche Bewilligung Nr. 36'769 B zum Vertrieb
eines Diazepams, Demetildiazepamum, erhalten. Dieses Erzeugnis sollte
in Apotheken nach ärztlichem Rezept zum Preis von 20 ml zu Fr. 6.50
verkauft werden. Auf schriftliche Warnung der Hoffmann-La Roche &
Cie AG hin teilte ihr die Union Romande & Amann SA mit Schreiben vom
19. September 1972 mit, das "Madar" genannte, von ihr auf Rechnung
der Ravizza SA in Mailand angemeldete Produkt sei nie in die Schweiz
eingeführt worden und werde nicht durch sie verkauft; sie habe der IKS
mitgeteilt, sie sei nicht mehr Generalagentin für den Verkauf dieses
Produktes, so dass sich eine Verzichtserklärung ihrerseits erübrige. Die
IKS teilte der Hoffmann-La Roche & Cie AG am 23. Oktober 1972 auf Anfrage
hin mit, die Ravizza SA in Lausanne sei nunmehr für den Vertrieb der
"Madar"-Tropfen sanitätspolizeilich verantwortlich; die Übertragung werde
im IKS-Monatsbericht Nr. 10, Oktober 1972, veröffentlicht werden.

    B.- Am 26. Oktober 1972 stellte die Hoffmann-La Roche & Cie AG beim
Einzelrichter im summarischen Verfahren des Bezirkes Zürich das Gesuch um
Anordnung vorsorglicher Massnahmen. Sie beantragte, den beiden Firmen,
unter Androhung gerichtlicher Bestrafung ihrer Organe gemäss Art. 292
StGB im Widerhandlungsfall, mit sofortiger Wirkung zu verbieten,

    a) Desmethyldiazepam und/oder diesen Wirkstoff enthaltende
Präparate, insbesondere "Madar"-Tropfen, in die Schweiz einzuführen, hier
feilzuhalten, zu verkaufen oder in irgendeiner anderen Form beispielsweise
als Ärztemuster, in Verkehr zu bringen, und

    b) bei solchen Handlungen Dritter in irgendeiner Form mitzuwirken,
deren Begehung zu begünstigen oder in irgendeiner Form zu erleichtern, und

    c) in irgendeiner Form über ihre gegenwärtigen Vorräte in der Schweiz
an Desmethyldiazepam und an diesen Wirkstoff enthaltenden Präparaten,
insbesondere "Madar"-Tropfen, zu verfügen.

    Der Einzelrichter entsprach diesen Begehren am 27. Oktober 1972
zunächst durch den Erlass einer einstweiligen vorsorglichen Massnahme. Auf
Einsprache der Gesuchsgegner trat er auf die hängigen Begehren am
7. Februar 1973 mangels örtlicher Zuständigkeit nicht ein und hob die
Verfügung vom 27. Oktober 1972 auf.

    Am 16. April 1973 wies die II. Zivilkammer des Obergerichts des
Kantons Zürich den Rekurs der Gesuchstellerin gegen den Entscheid des
Einzelrichters ab.

    C.- Die Gesuchstellerin hat beim Bundesgericht eine als
"staatsrechtliche Beschwerde wegen Willkür (Art. 4 BV)" bezeichnete Eingabe
eingereicht, in welcher sie beantragt, den Beschluss der II. Zivilkammer
des Obergerichts Zürich aufzuheben.

    Die Gesuchsgegner beantragen Abweisung der Beschwerde. Auf die von
der Gesuchstellerin eingelegte kantonale Nichtigkeitsbeschwerde ist das
Kassationsgericht des Kantons Zürich am 28. Juni 1973 nicht eingetreten.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Ausführungen darüber, dass die staatsrechtliche Beschwerde als
Nichtigkeitsbeschwerde entgegengenommen wird.)

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 77 PatG kann die zuständige Behörde u.a. zur
vorläufigen Vollstreckung streitiger Unterlassungsansprüche vorsorgliche
Massnahmen verfügen. Zuständig ist - solange der Hauptprozess nicht
anhängig ist - die Behörde an den nach Art. 75 PatG für die Anhebung der
Zivilklage in Betracht fallenden Orten (Art. 78 PatG), d.h. der Richter
am Wohnsitz des Beklagten oder am Ort, wo die Handlung begangen wurde
oder am Ort, wo der Erfolg eingetreten ist (Art. 75 PatG). Handlungen,
durch die der Erfolg einzutreten droht oder eingetreten ist, sind einander
gleichzustellen (Art. 72 PatG). Als unzulässige Handlung gilt nach Art. 66
lit. a PatG die widerrechtliche Benützung. Unter die Benützung fallen
neben dem Gebrauch und der Ausführung insbesondere auch das Feilhalten,
der Verkauf und das Inverkehrbringen (Art. 8 Abs. 3 PatG).

    b) Nach Art. 77 Abs. 2 PatG hat der Gesuchsteller glaubhaft zu
machen, dass der Gesuchsgegner eine gegen das Gesetz verstossende
Handlung begangen hat oder vorzunehmen beabsichtigt. Er braucht nicht
den vollen Beweis für seine Behauptung zu erbringen; es genügt, wenn
für die Richtigkeit derselben eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht
(TROLLER, Immaterialgüterrecht II S. 1202; BBUM/PEDRAZZINI, Anm. 4e
zu Art. 77 PatG; GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, S. 342
N. 24). Die bloss unbestimmte oder entfernte Möglichkeit rechtswidrigen
Handelns genügt aber nicht, um eine künftige Patentverletzung glaubhaft
zu machen. Ob eine solche bevorstehe, beurteilt sich nach den Grundsätzen
der patentrechtlichen Unterlassungsklage (BLUM/PEDRAZZINI, Anm. 4b zu
Art. 77 PatG). Nach Art. 72 PatG ist zur Klage berechtigt, wer durch
eine der in Art. 66 PatG genannten Handlungen "bedroht" ist, also mit
einem widerrechtlichen Eingriff ernsthaft zu rechnen hat. Es wird also
keine "unmittelbare Bedrohung" vorausgesetzt, wie das die Vorinstanz
annimmt. Der vorsorgliche Rechtsschutz soll denn auch nicht durch zu
strenge Anforderungen an die Ernsthaftigkeit der Bedrohung übermässig
erschwert werden, und zwar umso weniger, als der Gesuchsteller zur
Leistung angemessener Sicherheit verhalten werden kann (Art. 79 PatG),
so dass der Gesuchsgegner weitgehend vor Schaden geschützt ist, falls er
im Hauptprozess obsiegt. Dagegen läuft der Patentinhaber, der erst nach
erfolgter Rechtsverletzung auf Unterlassung und Schadenersatz klagt,
oft, insbesondere in grenzüberschreitenden Streitigkeiten, Gefahr, den
Schadenersatzanspruch überhaupt nicht durchsetzen zu können.

Erwägung 3

    3.- Zu prüfen ist, ob eine künftige Rechtsverletzung der
Beschwerdeführerin als hinreichend dringlich anzusehen ist. Es ist
offenkundig, dass die Beschwerdegegnerinnen bei der IKS um Erteilung
einer Vertriebsbewilligung nachgesucht haben, um davon gegebenenfalls so
rasch wie möglich Gebrauch zu machen. Dafür spricht schon die Tatsache,
dass sie im kantonalen Rekursverfahren für den Fall der Gutheissung
des vorsorglichen Unterlassungsbegehrens den Antrag gestellt haben,
die Beschwerdeführerin sei zur Leistung einer Sicherheit von 5
Millionen Schweizerfranken zu verpflichten. Damit wollten sie den
Schaden sichergestellt haben, der darin bestehen dürfte, dass sie das
streitige Erzeugnis wegen des einstweiligen Verbotes erst später auf den
Markt bringen könnten. Zudem fällt in Betracht, dass sie zur Begründung
des Sicherstellungsbegehrens vor dem Einzelrichter erklärt haben, ihr
Produkt werde auf dem schweizerischen Markt "einen entscheidenden Anteil"
gewinnen. Auch wenn sie diese Erklärung bloss für den Fall abgegeben haben,
dass der Einzelrichter das einstweilig angeordnete Verbot bestätigen werde,
ändert das - entgegen der Ansicht der Vorinstanz - nichts an ihrer Absicht,
das streitige Produkt in absehbarer Zeit abzusetzen. Das Obergericht
räumt denn auch selber ein, dass die Beschwerdegegnerinnen gestützt auf
die Vertriebsbewilligung die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen,
um das Erzeugnis feilzubieten. Dass das Präparat nach Durchführung
des Bewilligungsverfahrens klinisch noch nicht erprobt war und die
Ärzte die näheren Angaben über seine Verwendung noch nicht besassen,
ist belanglos. Die Beschwerdeführerin hat nicht erst dann Anspruch
auf vorbeugenden Rechtsschutz, wenn die Beschwerdegegnerinnen den
schweizerischen Markt durch Anpreisung des Erzeugnisses schon bearbeitet,
mithin eine allfällige Patentverletzung bereits begangen haben. Erscheint
somit die Gefahr einer Patentverletzung durch die Beschwerdegegnerinnen
auf dem schweizerischen Markt als genügend dringlich, so ist damit
auch im Kanton Zürich und in der Stadt Zürich selber zu rechnen. Die
zürcherischen Gerichte wären zur Anordnung vorsorglicher Massnahmen nur
dann nicht zuständig, wenn schlüssige Anhaltspunkte dafür beständen,
dass die Beschwerdegegnerinnen ihr Erzeugnis im Kanton Zürich nicht zu
verkaufen beabsichtigten. Wollte man anders entscheiden, so käme man
zum gesetzwidrigen Ergebnis, dass sich die Beschwerdeführerin gegen eine
bevorstehende Verletzungshandlung nicht zur Wehr setzen könnte, sondern
eine solche erst abwarten müsste.

    Der angefochtene Entscheid ist daher aufzuheben und die Sache an die
Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie materiell entscheide, insbesondere
auch die Frage des nicht leicht ersetzbaren Nachteiles (Art. 77 Abs. 2
PatG) prüfe.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts (II.
Zivilkammer) des Kantons Zürich vom 16. April 1973 aufgehoben und die
Sache zur materiellen Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.