Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 II 297



99 II 297

40. Urteil der I. Zivilabteilung vom 18. Dezember 1973 i.S. Mergell AG
gegen Ulrich. Regeste

    Prozessrecht. Bundesbeschluss vom 30. Juni 1972 über Massnahmen gegen
Missbräuche im Mietwesen (BMM).

    Art. 57 Abs. 5 OG. Ausnahmsweise Beurteilung der Berufung vor einer
in der gleichen Sache eingereichten staatsrechtlichen Beschwerde (Erw. 1).

    Art. 17 BMM. Es liegt weder eine erstmalige Vermietung noch eine
Wiedervermietung vor, wenn die gleichen Parteien das Mietverhältnis
fortsetzen (Erw. 2).

    Art. 34 BMM. Wird in einer am 23. März 1972 vereinbarten "Ergänzung"
der auf Grund eines bisher bestehenden Vertrages entrichtete Mietzins
ab 1. Januar 1968 erhöht, so liegt eine Forderung des Vermieters vor,
die nach der erwähnten Vorschrift ihre Wirkung nach dem 5. März 1972
äussert und daher der Missbrauchsgesetzgebung unterliegt (Erw. 3 und 4).

Sachverhalt

    A.- Gemäss Vertrag vom 9. Januar 1958 ist die Beklagte, die Mergell
AG, Mieterin eines Lokals und eines Vorplatzes in der Liegenschaft
Rathausstrasse 9a in Baar, die der Klägerin, Frau Ida Ulrich-Kirchhofer,
gehört. Die Beklagte betreibt dort ein Lager- und Kühlhaus. Ab 1. August
1967 betrug der Mietzins jährlich Fr. 4400.--. Der Mietvertrag war für
die Dauer von 15 Jahren (gerechnet seit 1. August 1957) fest abgeschlossen
und konnte erst auf den 31. Juli 1972 gekündigt werden. Diese Kündigung
erfolgte mit Schreiben der Klägerin vom 14. Juli 1971. Die Parteien
verhandelten über die Fortsetzung des Mietvertrages. Am 10. Januar 1972
schlug die Kläger in der Beklagten folgende "Ergänzung" des Mietvertrages
vor: Pos 6

    Der Mietvertrag wird ab 1. Januar 1968 bis zum 31. Dezember 1977 fest
abgeschlossen und erneuert sich nach Ablauf jeweils um 3 (drei) Jahre,
sofern nicht unter Beachtung einer zweijährigen Kündigungsfrist auf den
Ablauf der Mietzeit gekündigt wird. Pos 7

    Der Mietzins wird jeweils für ein Jahr (1. Januar bis 31. Dezember)
festgesetzt und ist am 1. Mai jedes Jahr zahlbar. Er bemisst sich nach dem
Landesindex der Konsumentenpreise und beträgt bei 100 Indexpunkten (Stand
1.9.66) Fr. 8000.-- p.a., somit für das Jahr 1968 Fr. 8440.--. (Index
Dezember 1967 105,5 Punkte).

    Die bereits geleisteten Zahlungen gelten als à conto Zahlung, die
Nachzahlung ist fällig am 1. März 1972.

    Die Beklagte sandte die von ihr unterzeichnete "Ergänzung" am 23. März
1972 der Klägerin. Im Begleitschreiben bemerkte sie, es sei ihr keine
andere Wahl geblieben, da zur Zeit keine geeigneten Räume zur Verfügung
ständen und sie ihre ca 400 Kühlfachmieter nicht im Stiche lassen könne.

    In der Folge sandte die Klägerin der Beklagten eine Aufstellung
über den nach der neuen Vereinbarung bis 31. Dezember 1972 geschuldeten
Mietzins. Danach betrug der Saldo zu ihren Gunsten Fr. 26 046.-- und
war bis 1. Mai 1972 zu bezahlen. Die Beklagte leistete am 9. Juni 1972
eine Teilzahlung von Fr. 10 000.--.

    B.- Nachdem die Beklagte am 29. September 1972 die Mietzinserhöhung
bei der Schlichtungsstelle des Kantons Zug angefochten hatte und keine
Einigung zustande gekommen war, bezeichnete diese Amtsstelle am 18.
Dezember 1972 den bisher bezahlten Mietzins als massgebend und setzte
der Klägerin zur allfälligen Klageeinreichung eine Frist von 30 Tagen an.

    Am 17. Januar 1973 klagte die Klägerin beim Kantonsgerichtspräsidium
von Zug auf Feststellung, dass die Mietzinserhöhung gemäss Vereinbarung der
Parteien vom lo. Januar 1972 der Anfechtung gemäss BB über Massnahmen gegen
Missbräuche im Mietwesen vom 30. Juni 1972 nicht unterliege; eventuell,
dass die Mietzinserhöhung nicht missbräuchlich sei.

    Das Kantonsgerichtspräsidium hiess das Hauptrechtsbegehren der Klägerin
gut. Die Beschwerde der Beklagten gegen diesen Entscheid wurde am 28. Mai
1973 von der Justizkommission des Kantons Zug abgewiesen.

    C.- Die Beklagte beantragt mit der Berufung an das Bundesgericht,
den vorinstanzlichen Entscheid aufzuheben und die Klage abzuweisen.

    Für den Fall, dass auf die Berufung nicht eingetreten werden könnte,
reichte die Beklagte ausserdem eine staatsrechtliche Beschwerde ein.

    D.- Die Klägerin beantragt die Abweisung der Berufung, eventuell die
Rückweisung der Sache an die Vorinstanz.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der angefochtene Entscheid ist ein Endentscheid über eine
vermögensrechtliche Zivilstreitigkeit. Der Streitwert übersteigt Fr. 15
000.--. Die Beklagte rügt eine Verletzung von Bundesrecht. Auf die Berufung
kann somit gemäss Art. 43, 46 und 48 OG eingetreten werden. Müsste sie
abgewiesen werden, dann könnte auf die staatsrechtliche Beschwerde gemäss
Art. 84 Abs. 2 OG wegen Unzulässigkeit nicht eingetreten werden. Die
Berufung kann deshalb entgegen der Regel des Art. 57 Abs. 5 OG vorweg
behandelt werden.

Erwägung 2

    2.- Die Vorinstanz vertritt die Auffassung, bei der "Ergänzung"
des Mietvertrages vom 23. März 1973 habe es sich um einen neuen
Vertrag gehandelt, der an sich nach Art. 17 des BB vom 30. Juni 1972
über Massnahmen gegen Missbräuche im Mietwesen (BMM) zu beurteilen
wäre. Da jedoch diese Bestimmung nur für die Miete von Wohnungen, nicht
aber von Geschäftsräumen gilt, stehe der Beklagten überhaupt keine
Anfechtungsmöglichkeit zu.

    Das trifft nicht zu. Die Parteien des Mietvertrages vom 9. Januar 1958
haben im Jahre 1972 nicht gewechselt. Demzufolge handelt es sich nicht
um eine erstmalige Vermietung oder um eine Wiedervermietung im Sinne
des Art. 17 BMM. Wiedervermietung insbesondere liegt nur vor, wenn der
Vertrag mit einem neuen Mieter abgeschlossen wird (RAISSIG, Massnahmen
gegen Missbräuche im Mietwesen, Zürich 1972, S. 37). Im vorliegenden Fall
setzten die Parteien das bisherige Mietverhältnis fort, freilich mit zum
Teil abweichenden Vertragsbestimmungen. Es spielt deshalb keine Rolle,
dass sich Art. 17 nur auf Wohnungsmiete, nicht aber auf Geschäftsmiete
bezieht. Diese Ausnahme von der allgemeinen Regel des Art. 2 Abs. 1 BMM
wurde bei der Beratung in den Räten auf Antrag des Bundesrates (Botsch. vom
24. April 1972, BBl 1972 S. 1243) beschlossen, weil ein Geschäftsmann
in der Lage sei, von Anfang an zu beurteilen, ob der Mietzins für ihn
tragbar ist oder nicht (StenBull NR 1972 S. 1138/9), und dass man ihm
deshalb nicht zubilligen könne, den abgeschlossenen Vertrag nachträglich
wegen missbräuchlichen Mietzinses anzufechten.

Erwägung 3

    3.- Der vorliegende Sachverhalt fällt daher an sich überhaupt
nicht unter Art. 17, sondern unter Art. 18 BMM. Diese Vorschrift ist
gemäss Art. 2 Abs. 1 BMM auch auf Mietverhältnisse für Geschäftsräume
anzuwenden. Fraglich kann nur der zeitliche Geltungsbereich dieser
Bestimmung sein. Gemäss Art. 34 Abs. 1 BMM finden dessen Vorschriften über
die Anfechtung auf Forderungen des Vermieters Anwendung, die ihre Wirkungen
nach dem 5. März 1972 äussern oder in der Zeit zwischen diesem Zeitpunkt
und dem Inkrafttreten des BMM (7. Juli 1972) gestellt worden sind. Gemäss
Art. 34 Abs. 2 BMM beträgt die Anfechtungsfrist drei Monate vom Zeitpunkt
des Inkrafttretens des BMM an. Sie wurde von der Beklagten eingehalten.

    Die Vorinstanz hat verneint, dass Art. 34 Abs. 1 BMM auf den
vorliegenden Sachverhalt anzuwenden sei, weil die Parteien zu einer Zeit,
als der BMM noch nicht galt, die Erhöhung des Mietzinses rückwirkend ab 1.
Januar 1968 vereinbart haben. Damit sei die Mietzinsforderung der Klägerin
für einen weit vor dem 5. März 1972 liegenden Zeitpunkt wirksam geworden.
Gegenteilig entscheiden hiesse, Mietzinserhöhungen, "die irgend einmal
vor Jahren begründet wurden und heute noch gelten, gestützt auf Art. 34
des erwähnten Bundesbeschlusses" anfechtbar zu erklären. Auch dieser
Standpunkt trifft nicht zu.

    Die Mietzinserhöhung wurde nicht, wie die Vorinstanz meint, Jahre vor
dem Inkrafttreten des BMM, sondern am 23. März 1972 vereinbart. Gemäss
Art. 10 Abs. 1 OR beginnen nämlich die Wirkungen eines unter Abwesenden
geschlossenen Vertrages mit dem Zeitpunkt, wo die Erklärung der
Annahme zur Absendung abgegeben wurde. Dabei handelt es sich um
die sog. Gestaltungswirkung, welche die Forderung entstehen lässt
(SCHÖNENBERGER/JÄGGI, Art. 10 OR N 4-6).

    Von einer Rückwirkung im Rechtssinne kann keine Rede sein. Eine solche
kann nur vom Gesetz angeordnet werden, das in solchen Fällen die Fiktion
aufstellt, der Tatbestand eines Rechtsgeschäfts habe schon anfänglich
vorgelegen, obwohl er erst später eintrat (wie z.B. die Rückbeziehung
des Vertragsschlusses auf den Zeitpunkt der Absendung der Annahme gemäss
Art. 10 OR; die Verrechnung von Forderungen im Zeitpunkt, als sie einander
verrechenbar gegenüberstanden, gemäss Art. 124 Abs. 2 OR und dgl.). Ein
Vertrag dagegen, der, wie hier, laufend beidseits erfüllt wurde, kann nicht
durch Parteivereinbarung "rückwirkend" geändert werden. Was die Parteien in
solchen Fällen einzig tun können, ist ein der Rückwirkung ähnliches Recht
auf obligatorischem Wege herzustellen und sich zu verpflichten, "das zu
leisten, was sie haben würden, wenn der von ihnen gewünschte Rechtszustand
schon in einem frühern Zeitpunkt bestanden hätte" (so VON TUHR/SIEGWART §
20 VII S. 142/4). Genau das hat die Klägerin von der Beklagten erlangt,
soweit es sich um die Erhöhung des Zinses handelt, der vor dem 23. März
1972 geschuldet war. Insoweit handelte es sich um nichts anderes als um
die Vereinbarung einer Nachzahlungsverpflichtung der Beklagten, also um
einen einseitigen Schuldvertrag, dessen Wirkungen am 23. März 1972 und
nicht, wie die Vorinstanz annimmt, am 1. Januar 1968, begannen. Soweit die
Vereinbarung den künftigen Mietzins betrifft, handelt es sich dagegen um
eine Abänderung des Mietvertrages für die Zukunft, d.h. ab 23. März 1972.

    Es erweist sich somit, dass die Rückwirkungsbestimmung des Art. 34
Abs. 1 BMM auf den vorliegenden Fall anzuwenden ist, da die Forderungen
der Klägerin ihre Wirkungen nach dem 5. März 1972 entfaltet haben. Damit
hat durchaus nichts zu tun, dass die Beklagte vor dem Inkrafttreten des
BMM das Verfahren des Art. 18 BMM nicht einleiten konnte und dass die
Klägerin gezwungen war, den Vertrag vorerst zu kündigen, wenn sie andere
Vertragsbedingungen erzwingen wollte, während nach den neuen Vorschriften
bei ungekündigtem Verhältnis verhandelt werden muss.

Erwägung 4

    4.- Die Berufung der Beklagten erweist sich somit als begründet. In
der Sache selber kann jedoch das Bundesgericht nicht entscheiden, da
zu wenig tatbeständliche Unterlagen vorliegen, um zu beurteilen, ob
und allenfalls inwieweit alle Forderungen der Klägerin missbräuchlich
sind oder nicht. Die Sache ist deshalb gemäss Art. 64 Abs. 1 OG zu neuer
Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die
Forderungen der Klägerin auf Nachzahlung eines Mehrbetrages an Mietzins
vom 1. Januar 1968 bis 23. März 1972 und die Erhöhung des Mietzinses vom
24. März bis 31. Juli 1972 sind unter dem Gesichtspunkt der Art. 16 und 20
BMM zu würdigen. Gemäss Art. 16 BMM sind andere Forderungen des Vermieters
(als Mietzinsansprüche), beispielsweise die Übernahme der Wohnung oder
des Geschäftsraumes durch den Mieter zu Eigentum, der Kauf von Aktien,
Kopplungsgeschäfte, wie der Abschluss eines Versicherungsvertrages,
oder dergleichen, missbräuchlich, wenn sie mit dem Mietverhältnis in
keinem direkten Zusammenhang stehen und in Ausnützung der Wohnungsnot
gestellt werden. Die Voraussetzungen dieses Artikels liegen hier vor, so
dass die Vorinstanz im Verfahren nach Art. 29 BMM diese Forderungen als
missbräuchlich zu erklären haben wird. Sie stehen mit dem Mietverhältnis in
keinem direkten Zusammenhang; ein solcher besteht nur für eine allfällige
Mietzinserhöhung ab 1. August 1972; denn vorher konnte sich die Beklagte
auf den bestehenden, fest abgeschlossenen Mietvertrag berufen. Die Klägerin
hat die bestehende Wohnungsnot ausgenützt, um sich über ihre vertraglichen
Rechte hinaus Vorteile zu sichern. Daran ändert nichts, dass die im Gesetz
angeführten Beispiele nicht auf den vorliegenden Sachverhalt passen.
Der Gesetzgeber hatte offenbar nicht an solche Methoden der Vermieter
gedacht. Wesentlich ist Sinn und Zweck der Missbrauchsgesetzgebung,
die in Art. 1 BMM zum Ausdruck kommen.

    Hinsichtlich der Mietzinserhöhung ab 1. August 1972 wird die Vorinstanz
zu entscheiden haben, ob und in welchem Masse sie allenfalls missbräuchlich
ist.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen, der Entscheid der Justizkommission des
Kantons Zug vom 28. Mai 1973 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung
im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.