Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 II 28



99 II 28

5. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 1. Februar 1973
i.S. Erben Hartmann gegen Broder. Regeste

    Grundlast; Einfriedungspflicht.

    1.  Eindringen von Vieh als ungerechtfertigte Einwirkung auf ein
Grundstück (Art. 641 Abs. 2 ZGB; Erw. 3 b).

    2.  Der Grundeigentümer ist verpflichtet, sein Grundstück einzufrieden,
wenn er es anders nicht bewerben kann, ohne Dritte zu schädigen (Erw. 3
b und c).

    3.  Pflichten, die ohne Zweifel schon von Rechts wegen bestehen,
können nicht zum Gegenstand einer Grundlast gemacht werden (Erw. 4).

    4.  Kann eine Grundlast ausserordentlich ersessen werden? Frage offen
gelassen (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Anton Broder erwarb im Jahre 1969 die in der Gemeinde Valzeina
gelegene Hüschiweid, die auf eine Länge von ca. 800 m an das Stamserälpli
grenzt, das heute im Eigentum der Erben des Andreas Hartmann steht. Beide
Liegenschaften bestehen aus Weide und Wald.

    Die Rechtsvorgänger Broders hatten die Hüschiweid bewirtschaftet
und mit Vieh bestossen. Um zu verhindern, dass das Vieh sich auf das
Stamserälpli verlaufe und dort Schaden anrichte, hatten sie auf der Grenze
gegen das Stamserälpli einen etwa 800 m langen Zaun errichtet. Anton
Broder, der nicht Landwirt ist, unterhielt nach dem Erwerb der Hüschiweid
den Zaun nicht mehr.

    Am 6. Juli 1970 verlangte Andreas Hartmann beim Kreisamt Seewis,
es sei gegen Anton Broder ein Amtsbefehl zu erlassen, damit dieser den
Zaun längs der beiden Liegenschaften unterhalte. Das Kreisamt lehnte das
Gesuch ab und wies den Gesuchsteller auf den Zivilweg. Hartmann leitete in
der Folge beim Kreisamt Seewis ein Verfahren betreffend ausserordentliche
Ersitzung ein, in dem er beantragte, es sei zugunsten des Stamserälpli
und zulasten der Hüschiweid eine Zaunpflicht entlang der Grundstückgrenze
als Grundlast im Grundbuch der Gemeinde Valzeina einzutragen. Broder erhob
dagegen Einsprache, worauf ihm das Kreisamt Seewis eine bis zum 2. April
1971 laufende Frist zur Klageerhebung beim ordentlichen Richter ansetzte.

    B.- Am 29. März 1971 stellte Anton Broder beim Vermittleramt Seewis ein
Sühnbegehren gegen Andreas Hartmann. Nach erfolglosem Sühnversuch leitete
Broder beim Bezirksgericht Unterlandquart Klage ein mit dem Rechtsbegehren,
es sei gerichtlich festzustellen, dass das vom Beklagten zugunsten des
Stamserälpli und zulasten der Hüschiweid beanspruchte beschränkt dingliche
Recht auf Zäunung nicht bestehe und es sei demzufolge der vom Beklagten
anbegehrte Eintrag im Grundbuch der Gemeinde Valzeina zu verweigern.

    Am 15. August 1971 starb Andreas Hartmann, worauf seine Erben in den
Prozess eintraten.

    Das Bezirksgericht Unterlandquart wies die Klage am 13. Oktober 1971
ab, im wesentlichen mit der Begründung: Die Rechtsvorgänger des Klägers
hätten seit 1935 ununterbrochen gezäunt; Andreas Hartmann habe diese
Leistung während über dreissig Jahren unangefochten entgegengenommen und
damit die Zäunungspflicht zugunsten des Stamserälpli und zulasten der
Hüschiweid als Grundlast (ausserordentlich) ersessen.

    Gegen dieses Urteil erhob der Kläger Berufung. Das Kantonsgericht
Graubünden hiess mit Urteil vom 22./23. Juni 1972 die Berufung gut und
stellte fest, dass zulasten der Hüschiweid und zugunsten des Stamserälpli
keine Grundlast im Sinne einer Zäunungspflicht bestehe. Zur Begründung
führte das Gericht im wesentlichen aus: Grundlasten könnten zwar (auch
ausserordentlich) ersessen werden, doch seien an derartige Ersitzungen
strenge Anforderungen zu stellen. Insbesondere tauge jener Rechtsbesitz
nicht zur Ersitzung, welcher mit der Erfüllung von Verpflichtungen
gegeben sei, die sich für den Nachbarn aus unmittelbar gesetzlichen
Eigentumsbeschränkungen ergäben. Ein Grundeigentümer habe sich bei der
Ausübung seines Eigentums schon von Gesetzes wegen jeder übermässigen
Einwirkung auf das Eigentum des Nachbarn zu enthalten. Die Zäunungspflicht
sei hier nur die Folge dieser nachbarrechtlichen Obliegenheiten. Sie
gebe dem Eigentümer des Stamserälpli keinen Anspruch darauf, dass der
Eigentümer der Hüschiweid einen Zaun errichte, sondern nur darauf, dass er
mögliche Störungen unterlasse. Der Rechtspflicht des Klägers, Störungen
zu unterlassen, stehe also nicht ein subjektives Recht der Beklagten auf
Leistung gegenüber. Die Leistungspflicht könne somit auch nicht Gegenstand
einer Grundlast sein. Wenn infolge Änderung der Eigentumsausübung die
bisher bestehende Gefahr übermässiger Einwirkungen auf das Stamserälpli
aufhöre, entfalle auch die Zäunungspflicht, bzw. die Rechtspflicht des
Klägers, Massnahmen zu treffen, um die entsprechenden Einwirkungen zu
verhindern. - Auf Grund der Zeugenaussagen stehe eindeutig fest, dass die
jeweiligen Eigentümer der Hüschiweid nur darum den Zaun erstellt hätten,
damit das Vieh sich nicht auf das Stamserälpli verlaufe und dort Schaden
anrichte. Eine Zäunungspflicht bestehe somit nur unter der Voraussetzung,
dass die Hüschiweid mit Vieh bestossen werde. Die über dreissigjährige
ununterbrochene und unangefochtene Entgegennahme der Zäunung durch Hartmann
gebe diesem keinen Rechtsbesitz an der Leistung. Ohne solchen Rechtsbesitz,
bzw. ohne tatsächliche Ausübung eines Rechts, sei aber eine Ersitzung
nicht möglich.

    C.- Gegen dieses Urteil erklären die Beklagten Berufung an das
Bundesgericht mit dem Antrag auf Abweisung der Klage. Der Kläger beantragt
die Abweisung der Berufung.

    Das Kantonsgericht macht in seiner Vernehmlassung Ausführungen zum
Streitwert und zur Rechtsfrage. Es weist ferner darauf hin, dass es vom
Standpunkt der Gerechtigkeit und Billigkeit aus stossend wäre, wenn ein
Grundeigentümer, der während dreissig Jahren einen Zaun unterhielt, um
Nachbarn vor Schaden zu bewahren, sich zur Belohnung dafür die dingliche
Belastung seines Grundstücks mit einer Grundlast gefallen lassen müsste.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 2

    2.- Eine Einfriedung kann mannigfachen Zwecken dienen; sie kann
zum Beispiel bestimmt sein, das Entlaufen des weidenden Viehs oder das
Eindringen von Wild oder fremdem Vieh zu verhindern, fremden Personen den
Zutritt oder den Einblick zu verwehren, gefährliche Stellen zur Verhütung
von Unfällen abzuschirmen, den Kulturen einen Windschutz zu verschaffen,
das Erdreich vor Abschwemmungen zu bewahren usw. (dazu LEEMANN und HAAB,
je N. 1 zu Art. 697 ZGB).

    Im vorliegenden Fall stellt die Vorinstanz auf Grund einer Würdigung
der Zeugenaussagen "eindeutig fest, dass die jeweiligen Eigentümer
der Hüschiweid nur darum den Zaun erstellten, damit sich ihr Vieh
nicht auf das Nachbargrundstück verlaufe und dort Schaden anrichte",
bzw. dass die Zäunung "nur erfolgte, damit das Vieh sich nicht auf das
Stamserälpli verlaufe und dort Schaden anrichte". Dies ist eine im Rahmen
der Beweiswürdigung getroffene Feststellung tatsächlicher Art. Dass sie
unter Verletzung bundesrechtlicher Beweisvorschriften zustandegekommen
sei oder offensichtlich auf Versehen beruhe, behaupten die Beklagten
nicht. Das Bundesgericht ist deshalb an diese Feststellung gebunden und
hat sie seinem Entscheid zugrunde zu legen (Art. 63 Abs. 2 OG). Soweit
die Beklagten in der Berufungsschrift geltend machen, die Zäunung diene
auch insoweit den wirtschaftlichen Bedürfnissen ihres Grundstücks, als sie
verhindert habe, dass Vieh vom Stamserälpli auf die Hüschiweid gelange,
wenden sie sich gegen verbindliche Feststellungen der Vorinstanz und
versuchen sie, dem Entscheid einen andern als den vom Kantonsgericht
festgestellten Tatbestand zugrunde zu legen. Dies ist nicht zulässig.

    Es ist im vorliegenden Verfahren also davon auszugehen, dass die
Rechtsvorgänger des Klägers den Zaun einzig und allein deshalb errichteten,
um zu verhindern, dass ihr Vieh aus ihrem Grundstück weglaufe, das heisst
dass es aus der Hüschiweid auf das Stamserälpli eindringe und dort Schaden
anrichte. Zu prüfen ist, ob eine zu diesem (einzigen) Zweck errichtete
Einfriedung überhaupt Gegenstand einer Grundlast sein könne.

Erwägung 3

    3.- a) Das Recht zur Einfriedung des Grundeigentums wird im Gesetz
zwar nicht ausdrücklich erwähnt, gilt aber als selbstverständlich und als
bundesrechtlich gewährleistet (BGE 56 I 271; LEEMANN, N. 3 und HAAB, N. 2
zu Art. 697 ZGB; NEUENSCHWANDER, Die Leistungspflichten der Grundeigentümer
im französischen Code civil und im schweizerischen ZGB unter besonderer
Berücksichtigung des Nachbarrechts, Diss. Bern 1966, S. 338). Über die
Einfriedungspflicht befinden die Kantone (Art. 697 Abs. 2 ZGB; BGE 88 II
268 E. 5). Soweit sie darüber Bestimmungen erlassen haben, sehen sie die
Einfriedungspflicht in der Regel vor für Grundstücke mit Weidebetrieb
(LEEMANN, N. 11 und HAAB, N. 3 zu Art. 697 ZGB; NEUENSCHWANDER, aaO
S. 346 ff).

    Das angefochtene Urteil sagt nicht, dass das kantonale Recht den
Rechtsvorgängern des Klägers vorgeschrieben habe, ihr Grundstück
einzuzäunen. Nach der unwidersprochen gebliebenen Darstellung
der Beklagten hat der Kanton Graubünden keine Vorschriften über die
Zaunpflicht erlassen. Dass eine entsprechende Pflicht sich aus kommunalen
Bestimmungen ergäbe, ist den Akten nicht zu entnehmen. Entgegen der Ansicht
der Beklagten kann die Einfriedungspflicht aber auch aus allgemeinen
Rechtsgrundsätzen hervorgehen.

    b) Der Grundeigentümer darf seine aus dem Grundeigentum erwachsenden
Befugnisse nicht unbegrenzt, sondern nur innerhalb jener Schranken
ausüben, welche die Rechtsordnung im Interesse der Öffentlichkeit und des
nachbarlichen Zusammenlebens aufgestellt hat. Seine Eigentumsherrschaft
reicht nur soweit, als sie mit den ihm obliegenden Pflichten vereinbar
ist. Der Eigentumsinhalt wird nicht nur umschrieben durch die Art. 667
ff. ZGB, sondern durch die ganze Rechtsordnung. Diese gebietet dem
Grundeigentümer ganz allgemein, seinen Grund und Boden so zu bewerben,
dass Schädigungen Dritter ausgeschlossen sind (MEIER-HAYOZ, N. 22 zu
Art. 641 und N. 76 zu Art. 679 ZGB; LEEMANN, N. 6 und 10 und HAAB, N. 4
zu Art. 679 ZGB; KOLB, Die Haftung des Grundeigentümers nach Art. 679
ZGB, ZSR 1952 S. 106 a, 121 a und 122 a). Insbesondere braucht sich
der Nachbar keine ungerechtfertigte Einwirkung auf sein Grundstück
gefallen zu lassen (Art. 641 Abs. 2 ZGB). Ungerechtfertigt und von der
Rechtsordnung schlechthin verpönt ist eine Einwirkung immer dann wenn
sie eine unmittelbare ist und somit einer Besitzesstörung im Sinne von
Art. 928 ZGB gleichkommt (z.B. das Betreten eines Grundstücks), es sei
denn, der Störer könne sich zu seiner Rechtfertigung auf eine besondere
gesetzliche Vorschrift oder auf ein dingliches oder vertragliches
Recht berufen (BGE 95 II 401, 88 II 265; MEIER-HAYOZ, N. 63 zu Art. 641
ZGB; HAAB, N. 11 zu Art. 684 ZGB; KOLB, aaO S. 141 a; BACHMANN, Die
nachbarliche Überschreitung des Grundeigentumsrechts, Diss. Bern 1937,
S. 86). Entsteht durch eine solche Einwirkung auf dem Nachbargrundstück
ein Schaden, so hat der Nachbar nach Art. 41 OR Anspruch auf Schadenersatz
(STARK, N. 46 zu Art. 928 ZGB mit Verweisungen).

    Eine unmittelbare Einwirkung auf das Nachbargrundstück kann auch
durch das Eindringen von Tieren bewirkt werden. Wer sein Vieh auf fremdem
Boden weiden lässt, verletzt daher das Eigentumsrecht des Nachbarn und
macht sich nach Art. 56 OR haftbar (MEIER-HAYOZ, N. 19 zu Art. 679 ZGB;
L'HUILLIER, La responsabilité du propriétaire foncier selon l'art. 679
du CCS, ZSR 1952 S. 22 a).

    c) Die Rechtsvorgänger des Klägers waren somit verpflichtet,
beim Bestossen der Hüschiweid mit Vieh darauf zu achten, dass das
Nachbargrundstück nicht beeinträchtigt werde. Wie sie das taten, war ihre
Sache. Sie hätten Hirten anstellen und diese Tag und Nacht darüber wachen
lassen können, dass ihr Vieh sich nicht auf das angrenzende Stamserälpli
verlaufe. Wenn sie statt dessen einen Zaun errichteten, erfüllten sie
auf diese Weise die ihnen von der Rechtsordnung vorgeschriebene Pflicht,
ihr Eigentum so zu bewerben, dass daraus den Nachbarn kein Schaden
erwächst. Die Erstellung des Zaunes durch die Rechtsvorgänger des Klägers
stellte demnach eine Sicherungsvorkehr dar, die bei der damaligen Art der
Eigentumsnutzung (Weidenlassen von Vieh ohne dauernde Beaufsichtigung)
durch die allgemeine Rechtsordnung vorgeschrieben war.

Erwägung 4

    4.- Nach Rechtsprechung und Lehre kann die Unterlassung von Handlungen,
die ohnehin schon durch das Gesetz (z.B. durch das Nachbarrecht) eindeutig
verboten sind, nicht zum Gegenstand einer Dienstbarkeit gemacht werden,
weil der Berechtigte kein Interesse daran haben kann, ein Recht, das ihm
schon von Gesetzes wegen eindeutig zusteht, noch als Dienstbarkeit zu
erwerben oder zu sichern (LIVER, N. 90 und 93 ff. zu Art. 730 ZGB mit
Verweisungen; PFISTER, Der Inhalt der Dienstbarkeit, ZSR 1933 S. 341
ff; vgl. auch BGE 84 I 131; DESCHENAUX, Les restrictions légales de la
propriété foncière et le registre foncier, ZBGR 1957 S. 329; AUER, Die
Prüfungspflicht des Grundbuchverwalters, Diss. Bern 1932 S. 65).

    Analog verhält es sich mit der Grundlast. Pflichten, die ohne Zweifel
schon von Rechts wegen bestehen, können demnach nicht zum Gegenstand
einer Grundlast gemacht werden. Das Grundbuch soll nicht mit Eintragungen
belastet werden, die lediglich bereits bestehende gesetzliche Pflichten
bestätigen. In diesem Sinne hat der Bundesrat schon im Jahre 1918
entschieden (SJZ 1917/18 S. 243 f).

    Im vorliegenden Fall war den Rechtsvorgängern des Klägers
die Erstellung des Zauns schon durch die allgemeine Rechtsordnung
vorgeschrieben. Diese Pflicht kann daher nicht Gegenstand einer Grundlast
sein. Somit hat die Vorinstanz die Klage zu Recht gutgeheissen. Ob eine
Grundlast (ausserordentlich)

    ersessen werden könne, muss unter diesen Umständen nicht geprüft
werden.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Kantonsgerichts von
Graubünden vom 22./23. Juni 1972 bestätigt.