Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IA 557



99 Ia 557

67. Auszug aus dem Urteil vom 28. November 1973 i.S. SBB gegen Schmid
und Obergericht des Kantons Bern. Regeste

    Art. 89 OG (Beschwerdefrist).

    Zustellung der Entscheidungsgründe von Amtes wegen im bernischen
Strafverfahren.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Der Präsident der staatsrechtlichen Kammer hat beim Obergericht des
Kantons Bern, Strafkammern, einen Amtsbericht zur Frage eingeholt, ob die
Urteilsmotive den Parteien in jedem Fall von Amtes wegen zugestellt würden.
Im Namen des Plenums der Strafkammern des Obergerichts hat dessen Präsident
dem Bundesgericht mitgeteilt, die Strafkammern seien im Verlaufe des Jahres
1972 dazu übergegangen, ihre motivierten Entscheide sämtlichen in oberer
Instanz an einem Strafverfahren beteiligten Parteien ohne besonderes
Verlangen zuzustellen. Die Zustellung erfolge für jene Parteien, welche
die eidg. Nichtigkeitsbeschwerde angemeldet hätten, in der vom Gesetz
für die Zustellung gerichtlicher Akte vorgeschriebenen Weise, für die
übrigen Parteien mittels einfachem Brief.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Nach Art. 89 Abs. 1 OG ist die Beschwerde binnen dreissig Tagen, von
der nach dem kantonalen Recht massgebenden Eröffnung oder Mitteilung des
Entscheides an gerechnet, dem Bundesgericht einzureichen. Werden von Amtes
wegen nachträglich Entscheidungsgründe zugestellt, so kann die Beschwerde
noch innert dreissig Tagen seit dem Eingang der Ausfertigung geführt
werden (Art. 89 Abs. 2 OG). Von Amtes wegen geschieht die nachträgliche
Zustellung der schriftlichen Motive, wenn das Gesetz sie in allgemeiner
Weise - also nicht bloss für den Fall, dass eine Partei es verlangt oder
gegen ein Urteil ein Rechtsmittel eingelegt werden kann - vorschreibt
(BGE 97 I 58 mit Hinweisen auf frühere Entscheide). Dem gleichgestellt
sind nach der neueren Rechtsprechung die Fälle, wo die Zustellung des
begründeten Urteils an die Parteien auf ständiger Gerichtspraxis beruht und
in jedem Fall erfolgt (BGE 97 I 58). Das bernische Strafprozessrecht kennt
keine Vorschrift über eine nachträgliche, von Amtes wegen zu erfolgende
Mitteilung der Urteilsbegründung. Das Bundesgericht hat daraus in ständiger
Rechtsprechung den Schluss gezogen, dass die Beschwerdefrist des Art. 89
OG mit der mündlichen Urteilsverkündung bzw. - wenn die Parteien abwesend
sind - mit der Zustellung des schriftlichen Dispositivs zu laufen beginne
(vgl. Art. 218 und 302 bern. Strafverfahren sowie die unveröff. Entscheide
vom 14. Oktober 1958 i.S. Stucki, vom 25. Oktober 1961 i.S. Schlumpf
und vom 28. März 1972 i.S. Gautschi). Demnach wäre die vorliegende
Beschwerde, die fast 2 1/2 Monate nach der Zustellung des Urteilsspruchs
erhoben wurde, verspätet.

    Nun sind aber die Strafkammern des Obergerichts "im Verlaufe des
Jahres 1972" dazu übergegangen, die schriftlichen Entscheidungsgründe
allen in oberer Instanz beteiligten Parteien ohne besonderes
Verlangen zuzustellen. Es fragt sich deshalb, ob die am 4. Juni 1973
erfolgte Zustellung der vollständigen Urteilsausfertigung an die
Beschwerdeführerinnen der Zustellung von Amtes wegen gemäss Art. 89
Abs. 2 OG gleichgestellt werden kann. Das ist zu bejahen. Zwar kann
die heutige Praxis des Obergerichts noch nicht als "langjähriger"
Gerichtsgebrauch bezeichnet werden, wie das im Falle von BGE 97 I
57 ff. oder auch im Falle Jeanbourquin (unveröff. Entscheid vom 4.
Februar 1970), wo die Zustellung eines bernischen Zivilurteils in Frage
stand, zutraf. Indessen scheint die neue Praxis des Obergerichts in
Strafsachen doch feststehend und auch unangefochten zu sein. Zumindest
heute findet sie die Zustimmung des Plenums der Strafkammern. Sie beruht
somit nicht nur auf einer Übung der Gerichtskanzlei, von der befürchtet
werden müsste, dass sie in nächster Zeit wieder geändert werden könnte. Es
scheint der feste Wille des Gerichts zu sein, auch in Zukunft an dieser
Praxis festzuhalten. Die Zustellung der Entscheidungsgründe erfolgt in
jedem Fall. Dass ein Unterschied in der Zustellungsart (als gerichtlicher
Akt oder als einfacher Brief) gemacht wird, je nachdem, ob die Partei
Nichtigkeitsbeschwerde angemeldet hat oder nicht, tut nichts zur Sache
(im Interesse der einwandfreien Feststellung des Zustellungszeitpunktes
auch in Fällen, wo einzig die staatsrechtliche Beschwerde erhoben wird,
wäre es freilich zu wünschen, dass alle Entscheidungen wenigstens als
eingeschriebene Sendungen zugestellt würden).

    Kann somit davon ausgegangen werden, dass das Berner Obergericht
den Parteien die schriftlich begründeten Entscheide in Strafsachen
nach ständiger Praxis unaufgefordert und in jedem Fall zustellt, so
läuft die Beschwerdefrist gemäss Art. 89 Abs. 2 OG vom Eingang dieser
schriftlichen Urteilsausfertigungen an und ist im vorliegenden Fall diese
Frist eingehalten. Demnach kann auf die Beschwerde eingetreten werden.