Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IA 312



99 Ia 312

33. Auszug aus dem Urteil vom 3. Juli 1973 i.S. Geschwister X. gegen
Y. und Kantonsgerichtspräsidium von Graubünden. Regeste

    Erstreckung des Mietverhältnisses.

    Art. 267 c lit. c OR. Ist Eigenbedarf nach den Umständen ernsthaft
begründet, so sind die Interessen des Eigentümers und des Mieters nicht
gegeneinander abzuwägen.

Sachverhalt

    A.- Die Geschwister X. bewohnen in ihrem Wohnhaus in Trun die
Fünfzimmerwohnung des ersten Stockes. Auf den 1. April 1973 kündeten sie
Y. den Mietvertrag über die Fünfzimmerwohnung des zweiten Stockes mit
der Begründung, A. X. wolle sie wegen bevorstehender Heirat beziehen.

    Der Präsident des Bezirksgerichtes Vorderrhein erstreckte am 24. Januar
1973 auf Begehren des Y. das Mietverhältnis bis zum 30. September 1973.

    Das Kantonsgerichtspräsidium von Graubünden wies am 19. Februar
1973 die Beschwerde der Geschwister X. ab. Es verneinte den Eigenbedarf
(Art. 267c lit. c OR) mit der Begründung, auf den 1. April 1973 werde die
Z. vermietete Dreizimmerwohnung im dritten Stock des gleichen Hauses frei,
weshalb A. X. nicht auf die Wohnung des zweiten Stockes angewiesen sei,
und zwar selbst dann nicht, wenn seine Braut, wie in der Beschwerde
behauptet werde, bereits Möbel für eine Fünfzimmerwohnung angeschafft
habe. Zur Frage, ob die Nichterstreckung des Mietverhältnisses für
Y. eine Härte zur Folge hätte (Art. 267a Abs. 1 OR), führte das
Kantonsgerichtspräsidium im wesentlichen aus: Die Feststellung des
Vorderrichters, wonach der Wohnungsmarkt in Trun sehr angespannt sei,
stütze sich auf bei der Gemeindekanzlei eingezogene Erkundigungen, die
gegenüber dem Kantonsgerichtspräsidium bestätigt worden seien. Im Dorfe
sei bekannt, dass Y. sich mit dem Bau eines eigenen Hauses befasse. Es
liege deshalb auf der Hand, dass er bei der Suche nach einer Wohnung
für nur ein halbes Jahr auf besondere Schwierigkeiten stossen müsse.
Die Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkt in einem Dorfe seien leicht zu
überblicken. Es seien daher von Y. nicht weitergehende Beweise für seine
vergeblichen Anstrengungen bei der Suche nach einer neuen Wohnung zu
verlangen. Es sei davon auszugehen, dass er für die Zeit vom 1. April
bis 30. September 1973 für seine fünfköpfige Familie keine geeignete
Wohnung finden könne. Sein grosses Interesse, in der Wohnung bleiben zu
können, überwiege das Interesse der Vermieter an der Nichterstreckung
des Verhältnisses eindeutig. Für Y. gehe es um die notwendige Wohnung
für seine Familie, für A. X. dagegen nur darum, seine Verheiratung
allenfalls für kurze Zeit hinauszuschieben oder sich vorerst mit der
Dreizimmerwohnung zu begnügen. Der Einwand, es seien bereits Möbel
für eine Fünfzimmerwohnung bestellt, vermöge abgesehen davon, dass
die Beschwerdeführer diese Behauptung nicht unter Beweis stellten,
die Interessenlage nicht zu ihren Gunsten zu ändern. Wenn A. X. oder
dessen Braut ihr Mobiliar kauften, bevor sie die Gewissheit hatten, die
Fünfzimmerwohnung beziehen zu können, hätten sie allfällige Nachteile
ihrem eigenen Verschulden zuzuschreiben. Jedenfalls müsse ihnen viel eher
zugemutet werden, mit dem Bezug aller Möbel zuzuwarten, als der Famillie
Y., allenfalls ohne Wohnung zu sein.

    B.- Die Geschwister X. beantragen mit staatsrechtlicher Beschwerde,
den Entscheid des Kantonsgerichtspräsidiums wegen Verletzung des Art. 4
BV aufzuheben.

    Auf ihr Gesuch blieb das Verfahren vom 23. März bis am 16. April 1973
eingestellt, weil sie gegen den angefochtenen Entscheid ein Revisionsgesuch
einreichten. Das Kantonsgerichtspräsidium wies dieses am 3. April 1973 ab.

    C.- Der Beschwerdegegner hält die Beschwerde für unbegründet, erklärt
aber, keinen Gegenantrag zu stellen.

    Das Kantonsgerichtspräsidium beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 267c lit. c OR darf das Mietverhältnis nicht erstreckt
werden "bei Eigenbedarf des Vermieters für sich, nahe Verwandte oder
Verschwägerte".

    Nach der Auffassung der Beschwerdeführer setzt sich der angefochtene
Entscheid willkürlich über den Begriff des Eigenbedarfes hinweg.

    a) Die Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 98 II 108 und
nicht veröffentlichter Entscheid der I. Zivilabteilung vom 1. Februar
1973 i.S. Stierli/Maurer) geht davon aus, Art. 267c lit. c OR wolle
gegenüber dem Vermieter nicht strenger sein, als Art. 5 lit. b BRB
vom 15. Oktober 1941 betreffend Massnahmen gegen die Wohnungsnot (BMW)
und Art. 35 lit. c der Verordnung vom 11. April 1961 über Mietzinse und
Kündigungsbeschränkungen (VMK) waren. Nach den unter diesem Notrecht
ergangenen Entscheiden (BGE 74 I 3 und 100, 92 I 194 Erw. 2) bejaht sie
den Eigenbedarf, wenn der Vermieter den Wunsch, die Mietsache selber zu
benützen oder durch einen nahen Verwandten oder Verschwägerten benützen
zu lassen, nicht bloss vorschiebt, um einen lästigen Mieter loszuwerden,
sondern nach den Umständen ernsthaft zu begründen vermag. Eigenbedarf
erfordert dagegen nicht, dass das ernsthafte Bedürfnis auch dringlich
sei, dass derjenige, für den die Mietsache benötigt wird, also erheblich
benachteiligt wäre, wenn es nicht befriedigt würde. Insbesondere setzt
Eigenbedarf nicht voraus, dass der Vermieter oder sein naher Verwandter
oder Verschwägerter obdachlos würde oder an einem unzumutbaren Orte
unterkommen müsste, wenn ihm die Mietsache nicht zur Verfügung stände.

    Das Kantonsgerichtspräsidium setzt sich mit dieser Rechtsprechung
nicht auseinander. Der Beschwerdegegner seinerseits macht nur geltend,
BGE 74 I 3 sei nicht zu Art. 267c lit. c OR ergangen, die kantonale
Gerichtspraxis sei etwas strenger, nach der Auffassung des Obergerichts
des Kantons Zürich setze Eigenbedarf triftige Gründe und Dringlichkeit
voraus und im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren habe das Bundesgericht
nur beschränkte Kognition.

    Diese Anbringen tragen zur Ermittlung des Sinnes des Art. 267c
lit. c nichts bei. Wer das nach den Umständen ernsthafte Bedürfnis des
Vermieters oder seines nahen Verwandten oder Verschwägerten nur für
schutzwürdig hält, wenn es dringlich ist und triftige Gründe den Schutz
aufdrängen, wägt es gegen das Interesse des Mieters an der Erstreckung
des Mietverhältnisses ab. Gerade die Abwägung der gegenseitigen
Interessen, wie Art. 267 a Abs. 1 OR sie in anderen Fällen der Kündigung
des Mietverhältnisses verlangt, wird durch die Ausnahmebestimmung des
Art. 267c lit. c bei Eigenbedarf durch das ausdrückliche Verbot der
Erstreckung des Verhältnisses ausgeschlossen. Darauf wurde schon in BGE 98
II 108 hingewiesen. Der Wille des Gesetzes ist derart klar, dass ihm auch
unter dem Gesichtspunkt des Art. 4 BV Nachachtung verschafft werden muss.

    Das Bundesgericht hat denn auch schon unter der Herrschaft von Art. 5
lit. b BMW und Art. 35 lit. c VMK Entscheide, die trotz ernsthaften
und nicht spekulativ verursachten Eigenbedarfs den Schutz der Kündigung
verweigerten, als willkürlich aufgehoben (BGE 74 I 97 ff., 92 I 191 ff).

    b) Das Kantonsgerichtspräsidium stellt fest, dass A. X.  zu heiraten
beabsichtigt, und zieht auch nicht in Zweifel, dass er im Falle der
Nichterstreckung des Mietverhältnisses mit seiner Ehefrau die vom
Beschwerdegegener besetzte Wohnung beziehen würde. Das hat denn auch der
Beschwerdegegner nicht bestritten. Selbst vor dem Bundesgericht behauptet
er nichts Gegenteiliges. Er macht in der Beschwerdeantwort vom 24. Mai
nur geltend, A. X. habe noch nicht geheiratet. Selbst wenn das am 24. Mai
zugetroffen haben und auch heute noch richtig sein sollte, käme indessen
darauf nichts an. Massgebend sind die Verhältnisse im Zeitpunkt des
angefochtenen Entscheides. Dass damals, am 19. Februar 1973, A. X. nicht
beabsichtigt habe, ungefähr auf den 1. April zu heiraten und in die
Wohnung einzuziehen, wurde nie vorgetragen. Dass er seither angeblich
nicht heiratete, kann gerade die Folge davon sein, dass ihm die Wohnung
noch nicht zur Verfügung steht. Das Kantonsgerichtspräsidium hat ihm ja
geradezu zugemutet, die Verehelichung allenfalls hinauszuschieben.

    Daher ist von der Ernsthaftigkeit der von den Beschwerdeführern
behaupteten Absicht des A. X. und damit seines Eigenbedarfes auszugehen,
um so mehr als Heirat einer Person, die wie A. X. mit Geschwistern
zusammenwohnt, üblicherweise das Bedürfnis nach einer eigenen Wohnung
schafft.

    Das Kantonsgerichtspräsidium verneint denn auch den Eigenbedarf nur
deshalb, weil das junge Ehepaar die auf Ende März 1973 frei werdende
Dreizimmerwohnung im dritten Stock beziehen könne, selbst wenn die Braut
bereits Möbel für eine Fünfzimmerwohnung angeschafft habe. Damit widerlegt
es nicht die Ernsthaftigkeit des Vorhabens zum Bezug der Fünfzimmerwohnung,
sondern seine Dringlichkeit. Der Vorhalt, A. X. könne sich mit der
Dreizimmerwohnung begnügen, kehrt denn auch in der anschliessenden Erwägung
über das Vorliegen eines Härtefalles im Sinne des Art. 267a Abs. 1 wieder,
wo das Kantonsgerichtspräsidium das Interesse des Beschwerdegegners an der
Erstreckung des Mietverhältnisses höher bewertet als das Interesse des
Ehepaares am Beziehen der Fünfzimmerwohnung. Der angefochtene Entscheid
verkennt somit in klarer Weise den Begriff des Eigenbedarfes und verletzt
damit Art. 4 BV.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Kantonsgerichtspräsidiums von Graubünden vom 19. Februar 1973 aufgehoben.