Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IA 26



99 Ia 26

5. Urteil vom 28. Februar 1973 i.S. Baudraz gegen Baudraz und
Appellationshof des Kantons Bern. Regeste

    Art. 4 BV (Willkür, Rechtsverweigerung); kant.  Prozessrecht.

    Nichtigkeitsklage und Appellation nach bernischer ZPO. Verhältnis der
beiden Rechtsmittel zueinander. Bedeutung von Art. 337 ZPO, der besagt,
dass die Einlegung eines andern Rechtsmittels ausgeschlossen ist, solange
die Appellation offensteht.

Sachverhalt

    A.- Das Amtsgericht Wangen a.A. (BE) sprach am 16. Mai 1972 die
Scheidung der Ehe des Fredy Henri Baudraz und der Ursula Baudraz-Studer
aus. Das Urteil wurde dem Ehemann, der durch keinen Anwalt vertreten war,
keine Rechtsschrift eingereicht und an der mündlichen Hauptverhandlung
nicht teilgenommen hatte, am 16. Juni 1972 (Zustelldatum) schriftlich
eröffnet.

    Am 26. Juni 1972 reichte Fredy Baudraz, nun vertreten durch
Fürsprecher Dr. X., Bern, beim Amtsgericht ein Gesuch um Wiedereinsetzung
und beim Appellationshof des Kantons Bern eine Beschwerde gegen das
Amtsgericht wegen Amtspflichtverletzung ein. Gleichzeitig erklärte er
"vorsorglicherweise" die Appellation gegen das Scheidungsurteil. -
Die Beschwerde wurde am 4. Juli 1972 und das Wiedereinsetzungsgesuch am
31. Oktober 1972 abgewiesen.

    Am Montag, dem 17. Juli 1972 (Datum des Poststempels), erhob Fredy
Baudraz gegen das Scheidungsurteil auch noch Nichtigkeitsklage gemäss
Art. 359 Ziffer 2 ZPO/BE (Rüge der nicht gesetzlichen Vorladung zum
Urteilstermin), um - wie er mit Hinweis auf die bereits eingereichte
Appellation und das Wiedereinsetzungsgesuch erklärte - "alle in Frage
kommenden prozessualen Massnahmen getroffen zu haben".

    B.- Mit Entscheid vom 25. September 1972 trat der Appellationshof
des Kantons Bern auf die Nichtigkeitsklage nicht ein. Er erklärte,
das Rechtsmittel sei verspätet eingelegt worden und zudem stehe der
Nichtigkeitsklage Art. 337 ZPO entgegen. Dieser lautet:

    "Solange die Appellation offen steht, ist die Einlegung eines andern
Rechtsmittels ausgeschlossen."

    Da der Nichtigkeitskläger seine Appellation aufrechterhalte, sei für
das Rechtsmittel der Nichtigkeitsklage kein Platz.

    C.- Gegen diesen Nichteintretensentscheid vom 25.  September 1972
hat Baudraz staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV
und Art. 72 KV erhoben.

    Die Beschwerdegegnerin und der Appellationshof beantragen Abweisung
der Beschwerde. Beide anerkennen zwar, dass der Beschwerdeführer die
Nichtigkeitsklage fristgerecht eingereicht habe und dass insofern der
angefochtene Entscheid auf einem Irrtum beruhe. Sie machen aber geltend,
der zweite Nichteintretensgrund (Ausschluss der Nichtigkeitsklage wegen
offenstehender Appellation) treffe nach wie vor zu, weshalb der Entscheid
des Appellationshofes trotzdem richtig sei.

    D.- Mit Entscheid vom 29. Dezember 1972/13. Januar 1973 trat der
Appellationshof des Kantons Bern auf die Appellation nicht ein. Die
Begründung lautete, die Appellation sei verspätet, da sie sich gegen ein
Säumnisurteil richte und daher nicht die ordentliche lotägige, sondern
nur die 5tägige Appellationsfrist gelte.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Der Beschwerdeführer macht neben der Verletzung von Art. 4
BV auch eine Verletzung von Art. 72 der bernischen Kantonsverfassung
geltend, welcher bestimmt, dass alle Bürger vor dem Gesetz gleich
seien. Der Beschwerdeführer behauptet nicht, dass diese Bestimmung
mehr oder anderes enthalte als Art. 4 BV. Die Rüge der Verletzung des
bernischen Verfassungsrechts hat demnach keine selbständige Bedeutung;
sie fällt zusammen mit der Rüge der Verletzung von Art. 4 BV.

    b) Der angefochtene Entscheid ist ein letztinstanzlicher Endentscheid
im Sinne von Art. 87 OG, der das Verfahren abschliesst. Daran ändert auch
der Umstand nichts, dass der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall die Rüge
der nicht gesetzlichen Bekanntmachung des Urteilstermins (Art. 359 Ziff. 2
ZPO) noch in der mündlichen Appellationsverhandlung hätte geltend machen
können, wenn die Appellation nicht wegen Verspätung "zurückgewiesen"
worden wäre (vgl. nachstehend Erw. 2 und 3); denn Appellation und
Nichtigkeitsklage sind zwei verschiedene Rechtsmittelverfahren,
die einander grundsätzlich ausschliessen. Die Appellation geht der
Nichtigkeitsklage vor. Auf die Nichtigkeitsklage ist nur einzutreten, wenn
keine gültige Appellation vorliegt. Wird auf die Nichtigkeitsklage nicht
eingetreten und liegt auch keine gültige Appellation vor, so bedeutet dies
regelmässig, dass der behauptete Verfahrensmangel nach kantonalem Recht
nicht mehr gerügt werden kann (vgl. Näheres unter Erw. 2 und 3). Dass
im vorliegenden Fall der Appellationshof die beiden Rechtsmittel in
umgekehrter Reihenfolge beurteilt hat, tut nichts zur Sache.

    Die vorliegende Beschwerde ist daher zulässig.

Erwägung 2

    2.- a) Die Appellation nach bernischer ZPO ist ein ordentliches,
umfassendes Rechtsmittel, mit dem die Überprüfung des gesamten
erstinstanzlichen Verfahrens in formeller und materieller Hinsicht
verlangt werden kann. Die Appellationsfrist beträgt in der Regel 10 Tage
seit der Eröffnung des erstinstanzlichen Urteils, bei Säumnisurteilen
5 Tage (Art. 333 und 338 Abs. 1 und 3 ZPO). Die Appellation richtet
sich gegen noch nicht rechtskräftig gewordene Entscheide (Art. 334 ZPO;
LEUCH, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 3. Aufl., Vorbem. vor
Art. 333 ZPO; KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, S. 169). - Die
Nichtigkeitsklage nach Art. 359 ZPO ist dagegen ein ausserordentliches
Rechtsmittel, mit dem nur bestimmte Verfahrensmängel gerügt werden
können. Sie richtet sich gegen kantonalrechtlich bereits in Rechtskraft
erwachsene Urteile und ist in jedem Fall (auch gegen Säumnisurteile)
innert 30 Tagen seit Eröffnung des Entscheids zu erheben (Art. 361 ZPO;
LEUCH, Vorbem. vor Art. 359 ZPO; KUMMER, S. 175). Alle Rügen, die mit
dieser Nichtigkeitsklage vorgebracht werden können, können ebensogut mit
der Appellation geltend gemacht werden, sofern die Streitsache appellabel
ist (LEUCH, N 2 zu Art. 359 und N 1 zu Art. 337 ZPO; KUMMER, S. 169). -
Die Nichtigkeitsklage nach Art. 360 ZPO, die sich nur gegen Entscheide
richtet, die in die endgültige Zuständigkeit des erstinstanzlichen Richters
fallen, steht hier nicht zur Diskussion, da es sich beim fraglichen
Scheidungsurteil unbestrittenermassen um einen appellablen Entscheid
handelt und vom Beschwerdeführer auch nur die Nichtigkeitsklage nach
Art. 359 ZPO ergriffen wurde.

    b) Der Beschwerdeführer stellte gegen das im Säumnisverfahren
ergangene Scheidungsurteil vorerst beim Amtsgericht Wangen a.A. ein
Wiedereinsetzungsgesuch gemäss Art. 288 ZPO mit der Begründung, er habe vom
Urteilstermin ohne Verschulden keine Kenntnis erlangt. Gleichzeitig erhob
er "vorsorglicherweise" - gemeint war wohl: für den Fall der Abweisung
des Wiedereinsetzungsgesuchs - Appellation innert der ordentlichen
Appellationsfrist von 10 Tagen und beantragte, das erstinstanzliche
Verfahren von Amtes wegen (Art. 90 ZPO) aufzuheben, eventuell die
Scheidungsklage abzuweisen. Obwohl eine Appellation grundsätzlich erst in
der mündlichen Parteiverhandlung vor der Appellationsinstanz begründet
werden soll (LEUCH, N 3 zu Art. 339 ZPO; KUMMER, S. 171), fügte der
Appellant kurz bei, er sei in erster Instanz nicht säumig gewesen,
da ihm weder eine Vorladung noch eine andere richterliche Verfügung
zugekommen sei. Er brachte diese summarische Begründung offensichtlich
deshalb schon in der Appellationserklärung an, weil er damit rechnete,
es könnte die 5tägige Appellationsfrist zur Anwendung kommen und daher
seine Appellation verspätet sein, so dass das Scheidungsurteil in diesem
Verfahren nur noch von Amtes wegen aufgehoben werden könnte (Art. 90
ZPO). Sein hauptsächliches Rechtsbegehren ging denn auch von Anfang an
in dieser Richtung.

    c) Bis zum Ablauf der 30tägigen Frist für die Einreichung einer
Nichtigkeitsklage waren weder das Wiedereinsetzungsgesuch noch die
Appellation beurteilt. Der Beschwerdeführer erhob deshalb auch noch die
Nichtigkeitsklage und beanstandete, der Urteilstermin sei ihm nicht
gesetzlich bekanntgemacht worden (Art. 359 Ziff. 2 ZPO). Er tat dies
augenscheinlich für den Fall, dass er mit den beiden andern Rechtsmitteln
nicht durchdringen würde. Es wird heute vom Appellationshof und von der
Beschwerdegegnerin mit Recht anerkannt, dass der Nichtigkeitskläger die
30tägige Frist wahrte. Die gegenteilige Feststellung im angefochtenen
Entscheid beruht auf einem Irrtum. Sie widerspricht ganz eindeutig Art. 120
ZPO (Bestimmung über das Auslaufen einer Frist am Sonntag usw.). Fraglich
kann somit nur noch sein, ob sich der Entscheid wenigstens mit der zweiten
vom Appellationshof gegebenen Begründung vor Art. 4 BV halten lasse.

Erwägung 3

    3.- Art. 337 ZPO bestimmt, dass die Einlegung eines andern
Rechtsmittels ausgeschlossen ist, solange die Appellation offensteht. Der
Appellationshof legt diese Bestimmung im angefochtenen Entscheid dahin
aus, dass die Nichtigkeitsklage nach Art. 359 ZPO unzulässig sei a)
während der Appellationsfrist und b) solange eine erklärte Appellation
hängig sei. Weiter führt er aus, im vorliegenden Fall werde in gleicher
Sache eine Appellation "aufrechterhalten" - in der Vernehmlassung sagt er,
diese Appellation sei "hängig", der Kostenvorschuss sei inzwischen bezahlt
worden -, weshalb für die Nichtigkeitsklage kein Platz sei. Im Entscheid
vom 29. Dezember 1972/13. Januar 1973 stellte er dann fest, dass die
Appellation verspätet eingereicht worden sei und deshalb "zurückgewiesen"
werden müsse und dass eine Aufhebung des Scheidungsurteils von Amtes wegen
nicht möglich sei. Der Appellationshof hat also eine verspätete, d.h.
ungültige Appellation zum Anlass genommen, auf die Nichtigkeitsklage
nicht einzutreten. Das ist vor Art. 4 BV nicht haltbar:

    a) Der vom Appellationshof vertretenen Auffassung steht schon der
Wortlaut von Art. 337 ZPO ("Solange die Appellation offensteht...")
entgegen. Ist die Appellationsfrist - betrage sie nun 10 oder 5 Tage -
abgelaufen, so steht dem Rechtsuchenden die Appellation eben nicht
mehr offen. Er hat die Frist versäumt, und eine verspätete Eingabe
ist unwirksam. Es heisst in Art. 337 ZPO nicht, "wenn" oder "sofern"
die Appellation offensteht, sondern "solange". Es kann also auch nicht
angenommen werden, schon die blosse Appellabilität der Streitsache
schliesse die Nichtigkeitsklage nach Art. 359 ZPO aus. Das scheint übrigens
auch nicht die Meinung des Appellationshofes zu sein. Er geht vielmehr
davon aus, die Nichtigkeitsklage sei immer dann unzulässig, wenn eine
Appellation hängig sei, unbesehen darum, ob sich die Appellation später
als gültig erweise oder nicht. Diese Ansicht findet aber keine Stütze
in Art. 337 ZPO. Ist die Appellation ungültig, so ist sie es von Anfang
an. Dem zu spät Appellierenden steht im Zeitpunkt der Appellation dieser
Rechtsweg nicht mehr offen, auch wenn sich die Rechtsmittelinstanz
zur Rechtzeitigkeit der Eingabe noch nicht ausgesprochen hat. Zwar
vermag auch eine verspätete (oder sonstwie ungültige) Appellation die
Rechtskraft des angefochtenen Urteils einstweilen zu hemmen (LEUCH,
N 1 zu Art. 334 ZPO). Mit der "Rückweisung" einer solchen Eingabe durch
den Appellationshof, d.h. mit dessen Nichteintretensentscheid, wird aber
festgestellt, dass das Urteil trotz der Appellationserklärung schon mit dem
Ablauf der Appellationsfrist rechtskräftig wurde (vgl. LEUCH, daselbst).
Damit steht auch fest, dass die Appellation, die sich nur gegen noch
nicht rechtskräftige Entscheide richten kann, nicht mehr zur Verfügung
stand und der Weg für die Nichtigkeitsklage nach Art. 359 ZPO frei war.

    b) Wollte man einräumen, der Wortlaut von Art. 337 ZPO könnte,
isoliert betrachtet, notfalls noch so verstanden werden, wie das der
Appellationshof tat, so ist andererseits doch augenscheinlich, dass
eine derartige Auslegung vollständig Sinn und Zweck dieser Bestimmung
sowie des ganzen Rechtsmittelsystems der bernischen ZPO widerspräche
und zu einem unhaltbaren Ergebnis führte. Die Nichtigkeitsklage nach
Art. 359 ZPO ist gegen appellable und nichtappellable Entscheide
zulässig (LEUCH, N 2 zu Art. 359 ZPO; KUMMER, S. 175), und zwar in
jedem Fall innert 30 Tagen nach deren Eröffnung (Art. 361 ZPO). Die
ratio des Gesetzes ist klar: Mit diesem Rechtsbehelf sollen - von hier
nicht in Betracht fallenden Ausnahmen abgesehen (vgl. Art. 314 ZPO) -
schwere Verfahrensmängel auch dann gerügt werden können, wenn entweder
gegen einen Entscheid gar keine Appellation zulässig ist oder wenn in
einer appellablen Streitsache die kurze Appellationsfrist von 10 oder 5
Tagen versäumt wurde. Ist hingegen in einer appellablen Streitsache die
Appellationsfrist noch nicht verstrichen, so können sämtliche in Art. 359
ZPO aufgezählten Rügen ebensogut mit der Appellation geltend gemacht werden
(vgl. Erw. 2 a). Offensichtlich aus diesem Grunde und im Bestreben, eine
Häufung von Rechtsmitteln zu vermeiden, schreibt Art. 337 ZPO vor, dass
innerhalb der Appellationsfrist - "solange die Appellation offensteht" -
nur die Appellation ergriffen werden dürfe, die alle andern Rechtsmittel
mitumfasst (KUMMER, S. 169). Wurde gültig appelliert, so ist auf eine
in gleicher Sache erhobene Nichtigkeitsklage nicht einzutreten, da der
Appellant seine sämtlichen Beanstandungen auf einmal in der mündlichen
Appellationsverhandlung vorbringen soll (Art. 344 ff. ZPO; vgl. vorn
Erw. 2 b). Die Nichtigkeitsklage als ausserordentliches Rechtsmittel ist
in appellablen Sachen nur als letzte Rettung gedacht, für solche Fälle,
wo die Appellationsfrist ungenutzt verstrich und das erstinstanzliche
Urteil in Rechtskraft erwuchs (vgl. LEUCH, Vorbem. vor Art. 359 ZPO,
N 1 zu Art. 337 und N 4 a.E. zu Art. 338 ZPO), wo also keine oder keine
gültige Appellation erhoben wurde. Dass mit dieser Möglichkeit, mit der
Nichtigkeitsklage Versäumtes nachzuholen, die Appellationsfrist restlos
entwertet würde, wie das der Vertreter der Beschwerdegegnerin behauptet,
trifft keineswegs zu, denn mit der Nichtigkeitsklage nach Art. 359 ZPO
können nur sehr wenige, das Verfahren betreffende Rügen angebracht werden,
mit der Appellation hingegen auch Beanstandungen in der Sache selbst.

    Ob nun aber eine gültige Appellation vorliegt, wird vom
Appellationshof wohl meistens erst nach Ablauf der 30tägigen Frist
für die Nichtigkeitsklage entschieden (im vorliegenden Fall dauerte
es 6 Monate). In der Regel dürfte es also nicht möglich sein, mit der
Nichtigkeitsklage zuzuwarten, bis feststeht, ob auf die Appellation
eingetreten wird. Andererseits kommt die Anhandnahme einer ungültigen
Appellation als Nichtigkeitsklage schon deshalb nicht in Frage,
weil die Appellationserklärung keine Begründung enthalten darf, eine
Nichtigkeitsklage aber begründet sein muss (LEUCH, N 1 zu Art. 337
und N 3 zu Art. 339 ZPO; Art. 361 Abs. 1 ZPO). Dem Rechtsuchenden,
der über die Gültigkeit seiner Appellation im Zweifel ist, bleibt somit
nichts anderes übrig, als sicherheitshalber auch die Nichtigkeitsklage
zu ergreifen, wenn er einen in Art. 359 ZPO erwähnten Verfahrensmangel
rügen will. Gerade das soll ihm aber nach dem angefochtenen Entscheid
verwehrt sein, denn nach diesem schlösse auch eine ungültig erhobene
Appellation die andern Rechtsmittel aus. Das kann unmöglich der Sinn des
bernischen Rechtsmittelverfahrens und im besondern des Art. 337 ZPO sein;
denn dies hätte zur Folge, dass sich ein in erster Instanz Unterlegener im
Zweifel über die Rechtslage vor die unhaltbare Alternative gestellt sähe,
entweder zu appellieren und zu riskieren, dass auf die Appellation nicht
eingetreten wird und eine Nichtigkeitsklage wegen Ablaufs der Frist nicht
mehr möglich ist, oder aber zum vornherein auf das umfassende Rechtsmittel
der Appellation zu verzichten und mit einer Nichtigkeitsklage blosse
Verfahrensmängel zu rügen. Ein solches Verbot, eventualiter - d.h. für
den Fall der Ungültigkeit der Appellation - noch andere Rechtsbehelfe,
insbesondere die Nichtigkeitsklage, zu ergreifen, kann aus den massgebenden
Vorschriften der ZPO nicht herausgelesen werden. Die gegenteilige Meinung
hält vor Art. 4 BV nicht stand.

Erwägung 4

    4.- Der Appellationshof führt im angefochtenen Entscheid für
seine Auffassung einen Satz aus dem Kommentar LEUCH (N 1 zu Art. 337
ZPO) an. Abgesehen davon, dass das Zitat nebst einer falschen Zahl
einen sinnverändernden Kommafehler aufweist (Leuch setzt ein Komma
nach der eingeklammerten Zahl 338), zeigen die weiteren Bemerkungen
des Autors in der gleichen Note, dass er gerade nicht der Auffassung
des Appellationshofes ist. Schon im erwähnten Satz selber setzt Leuch
den Ausdruck "solange die Appellation offensteht" gleich mit "während
der Appellationsfrist (338)" und sagt nur, dass in dieser Zeit und
während der Hängigkeit der erklärten Appellation die Nichtigkeitsklage
entbehrlich sei. Aus dem folgenden Satz könnte man zwar allenfalls
e contrario schliessen, Leuch meine, eine eigene Appellation mache
die Nichtigkeitsklage unmöglich. Indessen fährt er weiter unten
fort: "Eventuelle Nichtigkeitsklage ist auch sonst für den Fall des
Nichteintretens auf die Appellation zulässig. Nach unbenütztem Ablauf
der Appellationsfrist oder nach Rückzug der Appellation oder neben einer
erhobenen aber unzulässigen Appellation ist die Nichtigkeitsklage im
ordentlichen Verfahren unbeschränkt zulässig, solange die Frist nach
361 noch läuft." Der Appellationshof kann sich demnach für seine Meinung
keineswegs auf Leuch stützen.

Erwägung 5

    5.- Der im angefochtenen Entscheid und in der Vernehmlassung
eingenommene Standpunkt des Appellationshofes scheint übrigens auch
im Gegensatz zu dessen eigener Rechtsprechung zu stehen, jedenfalls
soweit diese publiziert ist. Das Gericht hat nämlich in mehreren
Entscheiden festgestellt, dass in an sich appellabler Sache nach Ablauf
der Appellationsfrist noch die Nichtigkeitsklage gemäss Art. 359 ZPO
ergriffen werden könne (ZBJV 75, S. 313, 82, S. 349/350, 86, S. 375 oben,
101, S. 479/480). In zwei nichtappellablen Fällen hat es zudem implizite
entschieden, dass eine ungültig erhobene Appellation die Nichtigkeitsklage
nicht auszuschliessen vermöge (ZBJV 74, S. 33, 100, S. 287). Aus ZBJV
82, S. 349/350 könnte e contrario höchstens geschlossen werden, dass
eine gültig, d.h. innerhalb der Appellationsfrist erhobene Appellation
die Nichtigkeitsklage ausschliesse. Dafür, dass auch eine verspätete
Appellation diese Wirkung hätte, finden sich in der veröffentlichten
Rechtsprechung jedenfalls keine Anhaltspunkte.

Erwägung 6

    6.- Wie ausgeführt (Erw. 2 b), ergriff der Beschwerdeführer
die Nichtigkeitsklage offensichtlich nur für den Fall, dass das
Wiedereinsetzungsgesuch und die Appellation keinen Erfolg haben
sollten. Dass er die Nichtigkeitsklage als Eventual-Rechtsmittel verstand,
brauchte er nicht noch ausdrücklich zu sagen; dies ergab sich sowohl aus
der gesetzlichen Stellung und Funktion der Nichtigkeitsklage als auch
aus den konkreten Umständen. Da die Appellation von Gesetzes wegen das
prinzipale Rechtsmittel ist und die Nichtigkeitsklage nur bestehen kann,
wenn keine gültige Appellation vorliegt, wäre eigentlich zu erwarten
gewesen, der Appellationshof entscheide zuerst über Eintreten auf die
Appellation. Indem er auf die Nichtigkeitsklage mit der Begründung nicht
eintrat, es sei eine Appellation hängig, obwohl diese nach seinem späteren
Entscheid gar nicht gültig war, handelte er willkürlich. Er schrieb
Art. 337 ZPO eine Behauptung zu, die dieser Bestimmung schlechterdings
nicht zukommen kann. Damit verschloss er dem Beschwerdeführer in
willkürlicher Weise einen ihm gesetzlich zustehenden Rechtsweg, was einen
Verstoss gegen Art. 4 BV darstellt und zur Aufhebung des angefochtenen
Entscheids führen muss.

Erwägung 7

    7.- Warum die Ausschöpfung aller in Frage kommenden Rechtsmittel,
wie es der Beschwerdeführer getan hat, rechtsmissbräuchlich sein sollte
(vgl. die diesbezügliche Bemerkung des Appellationshofes in seiner
Vernehmlassung), ist nicht einzusehen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Appellationshofes des Kantons Bern vom 25. September 1972 aufgehoben.