Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IA 22



99 Ia 22

4. Urteil vom 28. März 1973 i.S. Prof. Dr. X. Regeste

    Art. 4 BV; rechtliches Gehör im Disziplinarverfahren.

    Sofortige vorläufige Einstellung eines Chefarztes am Kantonsspital in
seinem Amt, nachdem ein Gutachten zum Schluss gekommen ist, der Arzt habe
einen schweren Kunstfehler begangen und dadurch den Tod eines Patienten
mitverursacht. Kein Verstoss gegen Art. 4 BV, dass die Aufsichtsbehörde
dem Arzt vor der vorläufigen Einstellung im Amt keine Gelegenheit gegeben
hat, zum Gutachten Stellung zu nehmen.

Sachverhalt

    A.- Prof. Dr. med. X. wurde 1968 zum Chefarzt der
Ohren-Nasen-Hals-Abteilung eines Kantonsspitals gewählt und nahm seine
Tätigkeit am 1. September 1968 auf.

    Im Juni 1971 beschloss der Regierungsrat des betreffenden Kantons,
gegen Prof. X. ein Disziplinarverfahren einzuleiten. Es wurde eine
Untersuchungskommission eingesetzt. Die Vorwürfe, die Prof. X. in diesem
Verfahren gemacht wurden, bezogen sich zum Teil auf seine medizinische
Tätigkeit, indem behauptet wurde, er habe in einzelnen Fällen Patienten
unrichtig behandelt. Das Verfahren ist noch hängig. Prof. X. hatte
Gelegenheit, sich zu den Vorhalten zu äussern.

    B.- Am 24. September 1972 trat der 1932 geborene H. F.
als Privatpatient des Prof. X. in die Ohren-Nasen-Hals-Abteilung
des Kantonsspitals ein. Die Diagnose lautete auf "chronische
Nebenhöhlenentzündung beidseits". Prof. X. nahm am 25. September eine
Kieferhöhlen-Operation beidseits vor, die in Vollnarkose durchgeführt
wurde. Im Verlauf der Operation stellte sich eine starke Blutung
ein. Gegen Ende der Operation starb der Patient. Der Kantonsarzt verlangte
von Prof. X. einen Bericht über die Operation, und am 3. November wurde
Prof. Dr. med. Y, Spezialarzt für Ohren-, Nasen- und Hals-Krankheiten
in Z., beauftragt, ein Gutachten über die Operation zu erstatten. Dieses
traf am 21. November 1972 beim Personalamt des Kantons ein. Der Experte
führte darin abschliessend aus: "Unter den vorliegenden Umständen muss die
bei einem Blutdruck von 65/35 mm Hg vorgenommene beidseitige Conchotomie
als schwerer Kunstfehler bezeichnet werden, der den Tod des Patienten
mitverursacht hat."

    Am 22. November 1972, am Tag nach dem Eintreffen des
Gutachtens, beschloss der Regierungsrat gestützt auf das kantonale
Verantwortlichkeitsgesetz, Prof. X. mit sofortiger Wirkung in seinem
Amt als Chefarzt mit Gehaltsentzug vorläufig einzustellen. Es wurde ihm
damit untersagt, am Kantonsspital auf medizinischem Gebiet in irgendeiner
Weise weiterhin tätig zu sein. Ferner beschloss der Regierungsrat, das
Vorkommnis, welches Anlass zur vorläufigen Amtseinstellung gab, in das
Disziplinarverfahren mit einzubeziehen.

    C.- Gegen den Entscheid des Regierungsrats vom 22.  November 1972 hat
Prof. X. gestützt auf Art. 4 BV staatsrechtliche Beschwerde eingereicht.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

    Prof. X. beschwert sich einzig über eine Verweigerung des rechtlichen
Gehörs. Er macht geltend, er habe vom Gutachten des Prof. Y. keine Kenntnis
erhalten und sich gegen den darin enthaltenen Vorwurf des Kunstfehlers
nicht verteidigen können. Wenn ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben
worden wäre, wäre ihm der Nachweis leicht gefallen, dass er für den Tod
des Patienten H. F. in keiner Weise verantwortlich sei. Er führt sodann
aus, auf welche Weise er diesen Beweis hätte erbringen können.

    a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird zunächst grundsätzlich
durch die kantonalen Verfahrensvorschriften umschrieben. Wo sich dieser
Rechtsschutz als ungenügend erweist, greifen die unmittelbar aus Art. 4
BV folgenden, also bundesrechtlichen Verfahrensregeln zur Sicherung
des rechtlichen Gehörs Platz, die dem Bürger in allen Streitsachen ein
bestimmtes Mindestmass an Verteidigungsrechten gewährleisten. Ob der
bundesrechtliche Gehörsanspruch verletzt ist, prüft das Bundesgericht frei
(BGE 98 Ia 6, 76 und 131).

    b) Das Disziplinarrecht, wie es unter anderem für die Chefärzte
des Kantonsspitals gilt, ist im kantonalen Verantwortlichkeitsgesetz
geordnet. Nach diesem kann die zuständige Disziplinarbehörde die vorläufige
Amtseinstellung mit Gehaltsentzug anordnen. Das Verantwortlichkeitsgesetz
enthält ausführliche Vorschriften, die die Verteidigungsrechte des
Beschuldigten sichern. Ein Disziplinarentscheid darf nur getroffen
werden, wenn dem Beschuldigten vorher Gelegenheit gegeben wurde, sich zum
Sachverhalt und zur Schuldfrage zu äussern. Es muss ihm Einsicht in die
Akten und Gelegenheit gegeben werden, eine Ergänzung der Untersuchung
zu beantragen. Damit ist aber nur gesagt, dass dem Beschuldigten diese
Verteidigungsrechte einzuräumen sind, bevor ein Disziplinarentscheid
getroffen wird. Prof. X. ist nicht disziplinarisch bestraft worden. Er
wurde vorläufig im Amt eingestellt. Das Verantwortlichkeitsgesetz schreibt
nicht vor, dass der Beamte vor der vorläufigen Amtseinstellung Gelegenheit
erhalten müsse, sich zu den Vorwürfen zu äussern, die zu einer solchen
provisorischen Massnahme Anlass geben. Der Beschwerdeführer behauptet
denn auch nicht, dass der Regierungsrat kantonale Verfahrensvorschriften
verletzt hätte, die sich auf die Gewährung des rechtlichen Gehörs beziehen.

    c) Es kann demnach nur fraglich sein, ob die kantonale Behörde
unmittelbar aus Art. 4 BV fliessende Verfahrensregeln verletzt hat,
indem sie Prof. X. vorläufig im Amt einstellte, ohne ihm vorher
Gelegenheit zu geben, zu dem Gutachten von Prof. Y. Stellung zu nehmen
und Entlastungsbeweise zu beantragen.

    Die vorläufige Einstellung im Amt, die es Prof. X. verunmöglicht,
seine bisherige Tätigkeit am Kantonsspital weiterzuführen, stellt
einen empfindlichen Eingriff in die Rechtssphäre des Beschwerdeführers
dar, auch wenn die Massnahme nur provisorischen Charakter hat. Bei
einem so bedeutenden Eingriff muss dem Betroffenen grundsätzlich
vorher Akteneinsicht und die Gelegenheit gewährt werden, sich
zu den erhobenen Vorwürfen zu äussern. Nach der Rechtsprechung
des Bundesgerichts kann indessen die zeitliche Dringlichkeit der zu
treffenden Massnahme das Recht des Betroffenen, sich vor deren Erlass
zu äussern, ausschliessen (BGE 74 I 248/9, 87 I 155, 98 Ia 8 lit. c;
vgl. IMBODEN, Schweiz. Verwaltungsrechtsprechung, 3. A, II, S. 615). Wenn
das öffentliche Interesse dringend eine sofortige Verfügung verlangt, ist
die Behörde befugt, sie ohne Anhörung der betroffenen Person zu treffen
(TINNER, Das rechtliche Gehör, ZSR 83, 1964, II, S. 380 ff; vgl. LEVI,
in: Rechtsprobleme der Stadtgemeinden, S. 229).

    Es ist ausser Zweifel, dass der Regierungsrat die sofortige
vorläufige Amtseinstellung für dringend hielt, hat er doch die
angefochtene Massnahme bereits am Tag nach dem Eintreffen des
Gutachtens von Prof. Y. getroffen. Die Auffassung des Regierungsrates,
die sofortige vorläufige Amtseinstellung sei im öffentlichen Interesse
geboten, lässt sich mit guten Gründen vertreten. Es steht zwar dahin,
ob das Gutachten schlüssig ist. Bei vorläufiger Prüfung, wie sie die
kantonale Behörde vorzunehmen hatte, konnte diese indessen davon ausgehen,
der Beschwerdeführer habe möglicherweise durch einen Kunstfehler den Tod
eines Patienten mitverursacht. Der beigezogene Experte ist Fachmann auf dem
Gebiet der Ohren-Nasen-Hals-Krankheiten, und der Regierungsrat hatte keinen
sichtbaren Grund, von vornherein an der Zuverlässigkeit des Gutachtens zu
zweifeln. Nachdem schon im frühern Stadium des Disziplinarverfahrens, zum
Teil von Ärzten, behauptet worden war, Prof. X. habe Patienten unrichtig
behandelt, und nachdem der Experte in einem neuen Fall einen Kunstfehler
festgestellt hatte, konnte der Regierungsrat mit Fug annehmen, es sei nicht
mehr zu verantworten, Prof. X. weiterhin als Chefarzt amten zu lassen,
bevor die fraglichen Fälle abgeklärt seien, und es dränge sich daher
die unverzügliche vorläufige Einstellung im Amte auf. Wäre, was immerhin
im Bereich des Möglichen lag, bei Fortführung der Chefarzttätigkeit des
Beschwerdeführers von ihm ein Patient unrichtig behandelt worden, hätte
sich der Regierungsrat den Vorwurf machen lassen müssen, er habe von den
von einzelnen Personen, zum Teil Ärzten, erhobenen Vorwürfen und von der
Expertise des Prof. Y. Kenntnis gehabt, ohne dass er eingeschritten sei.

    Steht das Wohl der Patienten und das Vertrauen der Bevölkerung in die
ärztliche Betreuung in einem Kantonsspital auf dem Spiel, so erheischt das
öffentliche Interesse in Fällen wie dem zu beurteilenden rasches Handeln
der staatlichen Aufsichtsbehörde. Der Regierungsrat hatte das öffentliche
Interesse an der vorläufigen Amtseinstellung eines Chefarztes, dessen
medizinische Tätigkeit nach dem bisherigen Ergebnis der Untersuchung zu
schweren Bedenken Anlass geben konnte, gegenüber dem privaten Interesse des
Beschwerdeführers an der Gewährung des rechtlichen Gehörs gegeneinander
abzuwägen. Er durfte mit Rücksicht auf die bedeutenden Interessen der
Patienten und des Spitals füglich der Meinung sein, das Moment der
Dringlichkeit der Massnahme habe den Vorrang, weshalb davon abzusehen
sei, dem Beschwerdeführer vor der Anordnung der vorläufigen Einstellung
im Amt Gelegenheit zur Verteidigung zu geben. Bei dieser Sachlage kann
der kantonalen Behörde keine Verletzung des sich aus Art. 4 BV ergebenden
Anspruchs auf rechtliches Gehör zur Last gelegt werden.

    d) Es versteht sich, dass Prof. X. im weitern Verlauf des
Disziplinarverfahrens Gelegenheit erhalten muss, zu dem Gutachten des Prof.
Y. Stellung zu nehmen und Entlastungsbeweise zu beantragen. Die kantonale
Behörde hat das Verfahren mit tunlicher Beschleunigung durchzuführen,
damit die vorläufige Amtseinstellung rückgängig gemacht werden kann,
falls sich die erhobenen Vorwürfe als haltlos erweisen sollten.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen.