Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IA 104



99 Ia 104

13. Urteil vom 31. Januar 1973 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft und
Justizdirektion des Kantons Zürich. Regeste

    Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde; Art. 88 OG.

    Strafprozess; Legitimation des Geschädigten und des Anzeigers
(Präzisierung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Um die Freilassung dreier in Zürich inhaftierter arabischer
Attentäter zu erzwingen, entführten palästinensische Untergrundkämpfer
am 6. September 1970 ein Passagierflugzeug der "Swissair" nach Zerqa
(Jordanien). Nachdem sie die Insassen während einiger Zeit als Geiseln
festgehalten und dabei bedroht hatten, zerstörten sie die Maschine
mitsamt ihrer Zuladung. In der Folge wurden die erwähnten Attentäter
unter Mitwirkung der zürcherischen Behörden auf freien Fuss gesetzt und
ins Ausland geschafft.

    Am 16. November 1970 reichte Rechtsanwalt Dr. Y. im Namen
eines Journalisten bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich
eine Strafanzeige ein. Darin beschuldigte er den Führer der an der
Flugzeugentführung beteiligten palästinensischen Organisation, Dr. Georges
Habbash, und weitere unbekannte Gehilfen der Freiheitsberaubung,
Drohung, Nötigung, des Raubes ev. Diebstahls, der qualifizierten
Sachbeschädigung und der Aussetzung. Gegenüber den Mitgliedern des
zürcherischen Regierungsrates, gegen den kantonalen Polizeikommandanten
und gegen den Direktionspräsidenten der Swissair erhob er den Vorwurf der
Gefangenenbefreiung, des Entweichenlassens von Gefangenen, der Begünstigung
und des Amtsmissbrauchs.

    Nachdem der Kantonsrat beschlossen hatte, von einer Strafuntersuchung
gegen die Mitglieder des zürcherischen Regierungsrats abzusehen, entschied
die Staatsanwaltschaft am 13. Juli 1971, dass die Strafverfolgung
gegen die angeschuldigten Magistraten und Beamten sowie gegen den
Direktionspräsidenten der Swissair nicht an die Hand genommen und dass
jene gegen Dr. Habbash und weitere unbekannte Gehilfen einstweilen
eingestellt werde.

    Mit Schreiben vom 26. Februar 1972 gelangte Rechtsanwalt Dr. Y. erneut
an die Staatsanwaltschaft, wobei er unter anderem beantragte, die
Strafuntersuchung gegen Dr. Habbash und Konsorten weiterzuführen.
Gleichzeitig legte er Vollmachten der Eheleute X. und von vier weiteren
ehemaligen Passagieren des entführten Flugzeugs vor.

    Am 23. März 1972 wies die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich die
in der erwähnten Eingabe vom 26. Februar 1972 gestellten Begehren ab. Sie
führte aus, die noch über schweizerischem Gebiet begangene Nötigung und
Bedrohung der Besatzung zum Flug nach Zerqa unterständen gemäss Art. 98
Abs. 1 des Luftfahrtgesetzes der Bundesgerichtsbarkeit. Eine Delegation
im Sinne von Art. 18 BStP zur Verfolgung dieser Straftaten an den Kanton
Zürich sei nicht erfolgt. Die zürcherischen Behörden seien daher nicht
zuständig, diese strafbaren Handlungen zu verfolgen. Zur Verfolgung
der Festnahme, Gefangenhaltung und grausamen Behandlung wäre gemäss
Art. 5 Abs. 1 StGB schweizerische Gerichtsbarkeit insoweit gegeben,
als die Geschädigten Schweizer waren, und zuständig wären nach Art. 348
Abs. 1 StGB die Behörden des Ortes, "wo der Täter betreten wurde". Da
indessen noch keiner der Täter im Kanton Zürich "betreten" worden sei,
fehle es mithin an der Zuständigkeit dieses Kantons zur Verfolgung der
Freiheitsberaubung und der weiteren den Beschuldigten zur Last gelegten
Handlungen. Ob unter diesen Umständen überhaupt schweizerischerseits ein
Auslieferungsbegehren gestellt werden könnte, möge daher offen bleiben. Die
Annahme, Beamte oder Angestellte der Swissair könnten eventualvorsätzlich
als Gehilfen Habbashs tätig gewesen sein, sei so absurd, dass sich weitere
Untersuchungshandlungen in dieser Richtung erübrigten.

    B.- Gegen die erwähnte Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 23. März
1972 erhoben die Anzeiger Rekurs bei der zürcherischen Direktion der
Justiz. Diese wies die Beschwerde jedoch am 13. November 1972 ab, soweit
sie darauf eintrat.

    C.- Die Eheleute X. führen staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung
von Art. 4 BV (Willkür) mit dem Antrag, den angefochtenen Entscheid
der zürcherischen Justizdirektion vom 13. November 1972 aufzuheben.
Zur Begründung machen sie im wesentlichen geltend, die Zuständigkeit
des Kantons Zürich sei insbesondere gemäss Art. 346 StGB für die Delikte
des Raubes, der Nötigung und der Sachbeschädigung im Sinne von Art. 145
Abs. 2 StGB gegeben, weil in diesen Fällen jedenfalls der Erfolg im Kanton
Zürich eingetreten sei. Dies ergebe sich daraus, dass von den Entführern
ein grosser Geldbetrag zum Nachteil der im Kanton Zürich domizilierten
Swissair bzw. einer Grossbank bzw. einer Versicherungsgesellschaft geraubt
worden sei, dass die zürcherischen Behörden genötigt worden seien, die
im Kanton Zürich inhaftierten Attentäter freizulassen und die Entführer
durch Sprengung der Swissair-Maschine eine Sachbeschädigung zum Nachteil
der Swissair bzw. der Versicherungsgesellschaften begangen hätten, die
im Kanton Zürich domiziliert seien.

    D.- Die Eheleute X. sowie die vier übrigen Anzeiger haben gegen den
angefochtenen Entscheid ausserdem eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
gemäss Art. 268 BStP erhoben. Mit Urteil vom 22. Dezember 1972 trat der
Kassationshof des Bundesgerichts jedoch mangels Legitimation nicht darauf
ein, im wesentlichen mit der Begründung, den Beschwerdeführern komme nicht
die Eigenschaft von Antragstellern im Sinne von Art. 270 Abs. 1 BStP zu
und sie könnten auch nicht als Privatstrafkläger im Sinne von Art. 270
Abs. 3 BStP angesehen werden, da sie nicht ohne Mitwirkung der öffentlichen
Anklage über die in Frage stehende Strafklage verfügen könnten.

    E.- Am 2./4. Januar 1973 gelangten die Beschwerdeführer
sodann an die Anklagekammer des Bundesgerichts mit dem Antrag, die
Strafverfolgungsbehörden für berechtigt und verpflichtet zu erklären,
für die erwähnten Straftaten eine Strafuntersuchung durchzuführen. Mit
Urteil vom 25. Januar 1973 (erscheint im ersten Heft des Jahrgangs 99,
IV. Teil) trat die Anklagekammer auf das Gesuch nicht ein.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die staatsrechtliche Beschwerde steht den Bürgern (Privaten)
hinsichtlich solcher Rechtsverletzungen zu, die sie durch allgemein
verbindliche oder sie persönlich treffende Erlasse oder Verfügungen
erlitten haben (Art. 88 OG). Zur staatsrechtlichen Beschwerde ist demnach
nur legitimiert, wer durch den angefochtenen Hoheitsakt in seinen rechtlich
geschützten Interessen berührt ist.

    Nachdem das Bundesgericht während Jahrzehnten auf staatsrechtliche
Beschwerde eingetreten war, die der Geschädigte gegen die Nichteröffnung
oder Einstellung eines Strafverfahrens oder gegen ein freisprechendes
Urteil erhoben hatte, änderte es im Jahre 1943 seine Rechtsprechung
und sprach dem Geschädigten die Legitimation zu solchen Beschwerden
ab, ohne Rücksicht auf die Stellung, die ihm das kantonale Recht im
Strafverfahren einräumte (BGE 69 I 18 ff.). Im wesentlichen ist es bis
heute bei dieser Rechtsprechung geblieben, und es ist auch weiterhin
daran festzuhalten. Wie im Entscheid 96 I 600 ausgeführt wurde,
steht der Strafanspruch ausschliesslich dem Staate zu. Das Interesse
des Geschädigten, im Hinblick auf das ihm die Kantone einen mehr oder
weniger weitgehenden Einfluss auf den Gang des Strafverfahrens einräumen,
erscheint als bloss mittelbares. Die Durchführung des Strafverfahrens bis
zur gerichtlichen Beurteilung erleichtert ihm vor allem die Verfolgung
seiner privatrechtlichen Ansprüche gegen den Angeschuldigten, indem
er entweder diese im Strafverfahren adhäsionsweise geltend machen oder
aber sich in einem selbständigen Zivilprozess auf das Beweisergebnis der
Strafuntersuchung berufen kann. Bei diesem Interesse des Geschädigten
an der Erleichterung der Verfolgung seiner zivilrechtlichen Ansprüche
wie auch bei seinem Interesse an einer gerechten Bestrafung des Täters
handelt es sich um bloss tatsächliche Interessen, nicht um rechtlich
erhebliche Interessen oder "Rechte", zu deren Wahrung die staatsrechtliche
Beschwerde nach Massgabe von Art. 88 OG allein offen steht (BGE 96 I 600
mit Verweisungen).

    Das bedeutet indessen nicht, dass der an einem Strafverfahren
beteiligte Geschädigte überhaupt schutzlos bleibt. Wie das Bundesgericht
im Entscheid 94 I 554 f. erkannt und seither wiederholt bestätigt hat,
ist der Geschädigte unbekümmert um die fehlende Legitimation in der
Sache selbst befugt, mit staatsrechtlicher Beschwerde die Verletzung
solcher Rechte zu rügen, die ihm das kantonale Recht wegen seiner
Stellung als am Strafverfahren beteiligte Partei einräumt und deren
Missachtung einer formellen Rechtsverweigerung gleich oder nahe kommt. Wer
beispielsweise nach dem kantonalen Recht befugt ist, als Geschädigter oder
Anzeiger in einem Strafprozess Beweisanträge zu stellen, kann daher mit
staatsrechtlicher Beschwerde geltend machen, man habe ihm in Missachtung
der entsprechenden kantonalen Vorschriften keine Gelegenheit zur Stellung
solcher Anträge gegeben, nicht dagegen, sie seien zu Unrecht wegen
Unerheblichkeit oder aufgrund antizipierter Beweiswürdigung abgewiesen
worden, und noch weniger, das Ergebnis der abgenommenen Beweise sei
willkürlich gewürdigt worden (vgl. BGE 94 I 555/6).

    Richtig ist freilich, dass das Bundesgericht in zwei neuesten
Urteilen (BGE 97 I 109 ff. und 772 ff.) erkannt hat, es komme einer
Verweigerung des rechtlichen Gehörs gleich oder nahe, wenn eine
Strafklage aus einer Erwägung, die ganz klar und offensichtlich der
Strafprozessordnung oder dem materiellen Strafrecht widerspricht, von
der Hand gewiesen werde. Mit Rücksicht darauf führte das Bundesgericht
aus, der an einem Strafverfahren beteiligte Geschädigte sei berechtigt,
sich wegen einer Verletzung seines verfassungsmässigen Anspruchs auf
rechtliches Gehör zu beschweren, wenn dem Verfahren wegen Fehlens
eines hinreichenden Verdachts oder eines gültigen Strafantrags keine
Folge gegeben worden sei. Diese Erweiterung der Beschwerdelegitimation
des Geschädigten erweist sich jedoch bei näherer Prüfung als sachlich
unbegründet. Kommt dem Anzeiger bzw. Geschädigten nach dem kantonalen
Recht die Stellung einer am Strafverfahren beteiligten "Partei" zu,
so hat er - wie oben ausgeführt - von Verfassungs wegen einen Anspruch
darauf, dass seine Anzeige im gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren und
unter Wahrung des rechtlichen Gehörs geprüft wird. Geschieht dies, so ist
seinen prozessualen Rechten Genüge getan. Ob es die kantonale Behörde im
konkreten Fall mit haltbaren Gründen abgelehnt hat, ein Strafverfahren zu
eröffnen oder weiterzuführen, kann das Bundesgericht auf staatsrechtliche
Beschwerde hin nicht überprüfen. Denn würde es dies tun, so vermöchte
sich der Anzeiger oder Geschädigte auf dem Umweg über die Behauptung
einer angeblichen Gehörsverweigerung die Beschwerdelegitimation in der
Sache selbst zu verschaffen. Wie oben ausgeführt, steht ihm diese jedoch
nicht zu. Der Anzeiger oder Geschädigte kann sich mit staatsrechtlicher
Beschwerde vielmehr nur wegen einer formellen Rechtsverweigerung,
d.h. wegen einer Verletzung von prozessualen Vorschriften beschweren,
die ihm bestimmte "Parteirechte" einräumen (BGE 96 I 599 ff.). Er vermag
demnach nur ganz bestimmte Verfahrensmängel zu rügen (BGE 94 I 554 ff.),
nicht aber geltend zu machen, die Begründung eines im vorgeschriebenen
Verfahren zustandegekommenen Entscheids über die Nichtanhandnahme einer
Strafanzeige oder über die Einstellung eines Strafverfahrens verstosse
gegen Art. 4 BV. Soweit in den erwähnten Entscheiden 97 I 109 ff. und 772
ff. etwas anderes ausgeführt wurde, kann daran nicht festgehalten werden.

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführer rügen keine Verletzung der ihnen nach den
kantonalen Prozessvorschriften zustehenden Parteirechte, sondern machen
geltend, die Nichteröffnung eines Strafverfahrens gegen Dr. Habbash und
Konsorten verstosse klarerweise gegen Vorschriften des Strafgesetzbuches,
weshalb der angefochtene Entscheid willkürlich sei. Zu diesem Vorwurf
sind sie nach dem Gesagten nicht legitimiert. Auf die Beschwerde kann
daher nicht eingetreten werden.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.