Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 V 95



98 V 95

26. Auszug aus dem Urteil vom 19. Januar 1972 i.S. Friedli gegen
Ausgleichskasse VATI und Verwaltungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 12 IVG und 2 IVV.
   -  Physiotherapie in Lähmungsfällen: Bestätigung und Präzisierung
   der Praxis.

    - Alleinige Kompetenz des Bundesrates, Teilgebiete im Bereich der
medizmischen Massnahmen gesondert zu ordnen.

Sachverhalt

    A.- Bei der 1942 geborenen Johanna Friedli, die im Jahre 1961 an
Poliomyelitis erkrankt war, bestehen noch mehrere Restlähmungen. Die
Invalidenversicherung gewährte ihr zahlreiche Eingliederungsmassnahmen. Mit
Verfügung vom 13. Februar 1969 sprach ihr die Ausgleichskasse VATI
bis 31. März 1973 erneut medizinische Massnahmen zu. Im Sommer 1970
hob sie jene Verfügung jedoch mit sofortiger Wirkung wieder auf,
weil nach der neuern Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts
die Physiotherapie, insbesondere die Badekuren, in Lähmungsfällen gegen
sekundäres pathologisches Geschehen gerichtet sei. In diesem Sinn verfügte
die Kasse am 28. Juli 1970.

    B.- Auf Beschwerde hin verpflichtete das Verwaltungs gericht des
Kantons Bern die Invalidenversicherung, die Kosten der Badekur, die Johanna
Friedli bei Erlass der Verfügung vom Februar 1969 bereits begonnen hatte,
noch zu übernehmen. Im übrigen wies es die Beschwerde mit Entscheid vom
21. Dezember 1970 ab.

    C.- Die Versicherte liess gegen diesen Entscheid
Verwaltungsgerichtsbeschwerde einreichen und beantragen, "es seien
die Kosten für die notwendige Therapie, einschliesslich der jährlichen
Badekuren, als medizinische Eingliederungsmassnahmen weiterhin von der
Invalidenversicherung zu übernehmen"...

    Die Ausgleichskasse trägt auf Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an...

    Das Bundesamt für Sozialversicherung beantragt in einer grundsätzlichen
Vernehmlassung die Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde... Es
erblickt zwischen den vom Eidg. Versicherungsgericht aufgestellten
Grundsätzen zu Art. 12 IVG und dem Willen des Gesetzgebers,
auch Massnahmen zur Bewahrung der Erwerbsfähigkeit vor wesentlicher
Beeinträchtigung als Invalidenversicherungsleistungen vorzusehen, "eine
gewisse Unvereinbarkeit". Medizinische Massnahmen, die bezwecken, die
Erwerbsfähigkeit vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren, seien
nämlich ihrer Art nach stabilisierende Vorkehren, die in der Regel gegen
das Fortschreiten labilen pathologischen Geschehens gerichtet seien. Aus
den Vorarbeiten zur Revision des Invalidenversicherungsgesetzes von 1968
gehe deutlich hervor, dass mit dem Verzicht auf die bisher in Art. 2
IVV enthaltene zeitliche Beschränkung eine wiederholte Gewährung von
Badekuren zur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit namentlich in Lähmungsfällen
ermöglicht werden sollte. Nach Auffassung des Bundesamtes ist daher den
Ausführungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde eine gewisse Berechtigung
nicht abzusprechen. Auch eine etwas weitergehende Praxis lasse sich
mit den geltenden gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere auch mit dem
Erfordernis der Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolges, woran nicht
allzu hohe Anforderungen zu stellen seien, noch vereinbaren. Deshalb seien
wiederholt notwendige Badekuren in Lähmungsfällen auch dann zu übernehmen,
"wenn sie einzig der Bewahrung der Erwerbsfähigkeit vor wesentlicher
Beeinträchtigung dienen, unter der Voraussetzung, dass die Erhaltung
der Erwerbsfähigkeit im Vordergrund steht und das labile pathologische
Geschehen hinsichtlich seiner Bedeutung eindeutig sekundär ist". Dies
treffe in der Regel dann zu, wenn die Physiotherapie nur dazu diene,
die Folgen der lähmungsbedingten Inaktivität, denen nicht eigentlicher
Krankheitscharakter zukomme, zu beheben und damit die Erwerbsfähigkeit
zu erhalten. - Bei Johanna Friedli beständen keine Anhaltspunkte für
ein wesentliches sekundäres labiles pathologisches Geschehen, weshalb
ihr die zur Bewahrung der Erwerbsfähigkeit wiederholt notwendigen
physiotherapeutischen Massnahmen zu gewähren seien...

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- (BGE 97 V 45 Erw. 1).

    Gestützt auf Art. 12 Abs. 2 IVG steht es dem Bundesrat allerdings
zu, nicht nur den Leistungsbeginn, sondern auch die Leistungsdauer bei
Lähmungen und andern motorischen Funktionsausfällen vorzuschreiben,
was hinsichtlich der medizinischen Massnahmen zur Bewahrung der
Erwerbsfähigkeit vor wesentlicher Beeinträchtigung gegebenenfalls zur
Preisgabe des Grundsatzes führen würde, dass die für die Stabilisierung
oder Verhütung labilen Gesundheitsschadens notwendige Therapie
zur Behandlung des Leidens an sich gehört. Solange eine derartige
positivrechtliche Norm fehlt, besteht für das Eidg. Versicherungsgericht
auch heute keine Veranlassung, abweichend von der bisherigen Praxis
dauernd stabilisierende medizinische Vorkehren, wie sie beispielsweise
infolge von Lähmungen indiziert sein können, zu gewähren.

    Aus diesen prinzipiellen, vom Gesamtgericht genehmigten
Überlegungen kann der vom Bundesamt geäusserten Auffassung, "auch eine
etwas weitergehende Praxis lasse sich mit den geltenden gesetzlichen
Bestimmungen ... noch vereinbaren", nicht beigepflichtet werden. Im
übrigen ist den Darlegungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde und in
der bundesamtlichen Vernehmlassung, welche fortdauernde stabilisierende
Massnahmen im Hinblick auf die Bewahrung der Erwerbsfähigkeit in
Lähmungsfällen befürworten, generell entgegenzuhalten, dass der Richter
nicht befugt ist, Sonderlösungen für Lähmungsfälle zu treffen, soweit
dies im Gesetz oder in der Verordnung selber nicht geschieht; denn die
Lähmungen sind nur ein Teil im gesamten Komplex der durch Geburtsgebrechen,
Krankheit oder Unfall bedingten motorischen Funktionsausfälle.

Erwägung 2

    2.- ... Der medizinische Gutachter, welcher die Auffassung vertritt,
"dass feststellbare Verbesserungen der Muskelfunktion sich noch nach vielen
Jahren einstellen" können, zweifelt nicht daran, dass sich der Zustand
der Beschwerdeführerin durch weitere gezielte physiotherapeutische
Behandlung noch verbessern lässt, wenn auch die Geschwindigkeit
des Besserungsvorganges nicht voraussehbar ist. Das Vorliegen eines
sekundären Krankheitsprozesses wird vom Experten verneint. Daraus
ergibt sich, dass das Optimum an physischer Leistungsfähigkeit der
Beschwerdeführerin noch nicht erreicht ist. Deshalb rechtfertigt sich die
weitere Zusprechung physiotherapeutischer Massnahmen bis zur Herstellung
dieses als dauerhaft vorauszusetzenden Zustandes. In diesem Sinne ist
die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gutzuheissen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: In Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts
des Kantons Bern vom 21. Dezember 1970, soweit mit ihm Badekuren
verweigert werden, aufgehoben und die Invalidenversicherung verpflichtet,
der Beschwerdeführerin entsprechend der Kassenverfügung vom 13. Februar
1969 im Sinne der Erwägungen weiterhin physiotherapeutische Massnahmen
zu gewähren.