Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 V 42



98 V 42

11. Auszug aus dem Urteil vom 1. Februar 1972 i.S. Trachsler gegen
Ausgleichskasse des Kantons Bern und Versicherungsgericht des Kantons
Bern Regeste

    Art. 21 Abs. 1 IVG: Hilfsmittel für das Sehvermögen.  Voraussetzungen
der Abgabe von Kontaktschalen.

Sachverhalt

                      Aus dem Tatbestand:

    Karin Trachsler (geb. 1966) verletzte am 8. Januar 1971 mit
einem Messer ihr rechtes Auge. Dessen Visus ist laut einem ärztlichen
Bericht trotz Korrektur schlecht, was teilweise durch unregelmässigen
Astigmatismus erklärt werden könne. Es bestehe aber noch die Möglichkeit
einer Amblyopie. Wegen Astigmatismus und fehlender Augenlinse seien
Haftschalen nötig.

    Mit Verfügung vom 28. Mai 1971 wies die Ausgleichskasse gestützt
auf einen Beschluss der Invalidenversicherungs-Kommission das Gesuch
um medizinische Massnahmen und Kontaktschalen ab. Ebenso wies das
Versicherungsgericht des Kantons Bern durch Entscheid vom 10. August
1971 die Beschwerde des Vaters der Versicherten sowohl hinsichtlich der
medizinischen Massnahmen als auch des Hilfsmittels ab.

    Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird beantragt, es seien der
Versicherten zu Lasten der Invalidenversicherung Kontaktschalen für die
Fernsicht des rechten Auges und eine Brille für die Nahsicht abzugeben.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 21 Abs. 1 IVG "hat der Versicherte im Rahmen einer
vom Bundesrat aufzustellenden Liste Anspruch auf jene Hilfsmittel, deren
er für die Ausübung der Erwerbstätigkeit oder der Tätigkeit in seinem
Aufgabenbereich, für die Schulung, die Ausbildung oder zum Zwecke der
funktionellen Angewöhnung bedarf. Kosten für Zahnprothesen, Brillen
und Schuheinlagen werden nur übernommen, wenn diese Hilfsmittel eine
wesentliche Ergänzung medizinischer Eingliederungsmassnahmen bilden."

    Als Brille gilt jede optische Vorrichtung, welche, unmittelbar vor dem
anormalen menschlichen Auge befestigt, das Sehvermögen durch Linsenwirkung
verbessert und es dem Träger ermöglicht, auch solche Verrichtungen
vorzunehmen, die eine normale Sehfähigkeit erfordern. Kontaktschalen
sind Brillen gleichzustellen, sofern sie spezifisch optische Funktionen
erfüllen; üben sie jedoch eine rein mechanische Funktion aus, so gelten sie
nicht als Brillen. Dies gilt selbst dann, wenn mit den Kontaktschalen ein
wesentlich besseres Sehvermögen erreicht wird als mit den Brillen (nicht
publiziertes Urteil i.S. Locher vom 4. September 1970). Der Versicherte
kann also Kontaktschalen nur dann unabhängig von Art. 21 Abs. 1 zweiter
Satz IVG beanspruchen, wenn sie sein Sehvermögen durch einen anderen
Effekt als durch optische Linsenwirkung verbessern (ZAK 1965 S. 158,
1969 S. 189, 1970 S. 565). Selbst in Fällen, in denen die Kontaktschalen
neben der rein mechanischen auch eine optische Funktion erfüllen, hat das
Eidg. Versicherungsgericht die Übernahme der zusätzlichen Kosten, die mit
der Ausgestaltung der Schalen zu optischen Korrekturgläsern verbunden sind,
grundsätzlich davon abhängig gemacht, dass die Voraussetzungen der Abgabe
einer Brille an sich vorliegen.

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall stellt die Kontaktschale keine wesentliche
Ergänzung medizinischer Eingliederungsmassnahmen dar. Es ist daher
zu prüfen, ob die vom Augenarzt verordnete Kontaktlinse mechanischen
oder optischen Zwecken dient. Die Akten erlauben es indessen nicht,
diese Frage zu entscheiden. Die Invalidenversicherungs-Kommission,
an welche die Sache zurückgewiesen wird, hat ergänzende Abklärungen
vorzunehmen. Insbesondere wird zu untersuchen sein, welche Bedeutung dem
Astigmatismus beizumessen ist. Der irreguläre Astigmatismus ist in schweren
Fällen oft nur durch Kontaktschalen korrigierbar, welchen eine andere als
nur optische Linsenwirkung zukommt. In solchen Fällen vermögen nämlich die
Schalen die unregelmässige Hornhautkrümmung durch die zwischen Hornhaut
und Linse gelagerte Tränenflüssigkeit auszugleichen (nicht publiziertes
Urteil i.S. Löffel vom 13. Juli 1971). Sollte zwischen dem mit Starbrille
korrigierten Visus des verletzten Auges und dem mit Kontaktschalen
korrigierten ein deutlicher Unterschied bestehen, so spräche dies für
eine mechanische Wirkung dieser letzten und deren Abgabe als Hilfsmittel.
Sollte die Invalidenversicherungs-Kommission den streitigen Anspruch der
Versicherten bejahen, hätte sie zu berücksichtigen, dass Mehrkosten, welche
durch die Ausgestaltung der Kontaktschale zum optisch wirksamen Hilfsmittel
entstehen, von der Versicherten getragen werden müssen (ZAK 1969 S. 191).

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 10. August 1971 und
die angefochtene Verfügung vom 28. Mai 1971 insoweit aufgehoben, als
sie die Abgabe eines Hilfsmittels verweigerten. Die Sache wird an die
Invalidenversicherungs-Kommission zur weitern Abklärung im Sinne der
Erwägungen und zu neuer Beschlussfassung zurückgewiesen.