Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 V 277



98 V 277

71. Auszug aus dem Urteil vom 12. Dezember 1972 i.S. Ausgleichskasse
des Schweizerischen Verbandes der Tapezierermeister-Dekorateure und des
Möbel-Detailhandels gegen Grunder und Kantonale Rekurskommission für
die Ausgleichskassen... Regeste

    Art. 107 OG.

    Mangelnde Rechtsmittelbelehrung durch die Vorinstanz heilt an sich
die Versäumung der Beschwerdefrist von seiten einer Ausgleichskasse nicht.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 106 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 132 OG ist die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Eidg. Versicherungsgericht innert 30
Tagen seit Eröffnung des vorinstanzlichen Entscheides einzureichen. Die
Entscheide der kantonalen Rekursbehörden auf dem Gebiete der AHV und der
Invalidenversicherung sind gemäss Art. 85 Abs. 2 lit. g AHVG bzw. Art. 69
IVG mit Begründung und Rechtsmittelbelehrung zu versehen. Gemäss dem
gleichfalls einschlägigen Art. 35 Abs. 2 VwG hat im Verfahren letzter
kantonaler Instanzen, die gestützt auf öffentliches Recht des Bundes
nicht endgültig verfügen (Art. 1 Abs. 3 VwG), eine ordnungsgemässe
Rechtsmittelbelehrung das zulässige ordentliche Rechtsmittel, die
Rechtsmittelinstanz und die Rechtsmittelfrist zu nennen.

    Ausserdem bestimmt Art. 107 Abs. 3 OG für das
Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren: aus mangelhafter Eröffnung,
insbesondere aus fehlender, unvollständiger oder unrichtiger
Rechtsmittelbelehrung dürfen den Parteien keine Nachteile erwachsen. Aus
dieser - im Verfahren vor dem Eidg. Versicherungsgericht gestützt
auf Art. 132 OG anwendbaren - Bestimmung ergibt sich, dass nicht
jede mangelhafte Eröffnung, insbesondere auch nicht die Eröffnung ohne
Rechtsmittelbelehrung, schlechthin nichtig ist mit der Konsequenz, dass die
Rechtsmittelfrist nicht zu laufen beginnen könnte. Aus dem Grundsatz, es
dürften den Parteien aus mangelhafter Eröffnung keine Nachteile entstehen,
folgt vielmehr, dass dem beabsichtigten Rechtsschutz schon dann Genüge
getan wird, wenn eine objektiv mangelhafte Eröffnung trotz ihres Mangels
ihren Zweck erreicht (nicht veröffentlichtes Urteil i.S. Steiner vom
5. September 1972).

    Das bedeutet nichts anderes, als dass nach den konkreten Umständen des
Einzelfalles zu prüfen ist, ob die betroffene Partei durch den gerügten
Eröffnungsmangel tatsächlich irregeführt und dadurch benachteiligt worden
ist. Richtschnur für die Beurteilung dieser Frage ist der auch in diesem
prozessualen Bereich geltende Grundsatz von Treu und Glauben, an welchem
die Berufung auf Formmängel in jedem Fall ihre Grenze findet (vgl. GYGI,
Verwaltungsrechtspflege und Verwaltungsverfahren im Bund, Bern 1969, S.
41 Ziff. 2.5; GRISEL, Droit administratif suisse, Neuchâtel 1970, IV/II.5
b, S. 507 und dortige Hinweise; BGE 97 V 189, 96 III 99 mit Hinweisen
und 78 I 297).

    Das Gesamtgericht, dem die Rechtsfrage unterbreitet worden ist,
stimmt diesen Erwägungen zu.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall fehlte in dem der Ausgleichskasse zugestellten
Rekursentscheid die Rechtsmittelbelehrung. Das ist unbestritten. Nach dem
Gesagten ist daher massgebend, ob die Kasse den Lauf der gesetzlichen
Rechtsmittelfrist kannte oder - nach Treu und Glauben - hätte kennen
müssen. Das ist ohne Zweifel zu bejahen: Die Ausgleichskasse ist
ein rechtsanwendendes Durchführungsorgan der Invalidenversicherung; es
gehört zu ihren Amtspflichten, sich in diesen Belangen auszukennen. Zudem
besitzt die Kasse hierüber ausdrückliche Weisungen des Bundesamtes für
Sozialversicherung als Aufsichtsbehörde. In dem vom Bundesamt erlassenen
Kreisschreiben über die Rechtspflege, gültig ab 1. Oktober 1964, werden
die Obliegenheiten der Ausgleichskassen im Prozessfalle klar umschrieben
(Rz. 46 ff., insbesondere Rz. 57) und im Kreisschreiben betreffend
die neue Bundesgesetzgebung über die Verwaltungsrechtspflege, gültig
ab 1. Oktober 1969, sind die Kassen auf die durch das neue Verfahren
bedingten Änderungen hingewiesen worden (besonders Rz. 12/13 und 19 bis
23). Unter diesen Umständen hält die Berufung der beschwerdeführenden
Ausgleichskasse auf den Formmangel der fehlenden Rechtsmittelbelehrung
im Lichte von Treu und Glauben nicht stand; die von der Kasse erhobene
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist mithin offensichtlich verspätet. Auf
das Rechtsmittel ist daher nicht einzutreten...

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird nicht eingetreten.