Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 V 265



98 V 265

67. Urteil vom 15. Dezember 1972 i.S. Maurer gegen Ausgleichskasse des
Kantons Bern und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Invaliditätsschätzung bei einer Frau, die bis zur Heirat trotz
Gesundheitsschädigung voll erwerbsfähig war, seither aber wegen des
(unveränderten) Gesundheitsschadens nur noch den ehelichen Haushalt zu
besorgen vermag (Art. 5 Abs. 1 und 28 IVG).

Sachverhalt

    A.- Hildegard Maurer leidet im wesentlichen an den Folgen einer im
Kindesalter durchgemachten Poliomyelitis. Sie war von 1964-1969 in vollem
Umfang als Büroangestellte tätig. Ende August 1969 verehelichte sie sich
und seit dem 3. Februar 1970 ist sie Mutter eines Knaben. Im Juni 1970
ersuchte die Versicherte um eine Invalidenrente. Den Haushalt und ihr
Kind könne sie nur mit der Hilfe ihres Ehemannes besorgen und den Beruf
einer Büroangestellten nicht mehr ausüben.

    Pro Infirmis stellte fest, dass Hildegard Maurer, die mit ihrer Familie
eine Vierzimmerwohnung bewohnt, weder schwere Reinigungsarbeiten verrichten
noch schwere Lasten tragen könne. Bei verschiedenen Tätigkeiten müsse
darum der Ehemann ihr behilflich sein. Sie habe Mühe beim Treppensteigen
und vermöge im Freien höchstens eine halbe Stunde zu gehen. Während des
Winters würden fast alle Einkäufe vom Ehemann besorgt. Ärztlicherseits
wurde festgestellt, dass noch vermehrte Schwäche im rechten Unterschenkel
und Fuss bestehe; im übrigen sei der Vorzustand wieder hergestellt. Die
Beantwortung der von der Invalidenversicherungs-Kommission gestellten
Frage, ob die Versicherte wegen der Beinschwäche mindestens zur Hälfte bei
der Besorgung des Haushalts eingeschränkt sei, bezeichnete der Orthopäde
als äusserst schwierig. Das Ausmass der Behinderung bzw. der Zumutbarkeit
lasse sich kaum vom Sprechzimmer aus beantworten, da es sich um einen
Grenzfall handle, bei dem es auch auf die psychische Einstellung der
Patientin ankomme. Die Gesamtinvalidität auf 75% zu veranschlagen, wie die
Versicherte meine, gehe bestimmt zu weit, wenn auch die Umstellung von
der Büroarbeit zur Haushalttätigkeit sicher Probleme verursache, welche
durch die ihr von der Invalidenversicherung abgegebenen Hilfsmittel nicht
vollständig kompensiert würden.

    Die Invalidenversicherungs-Kommission nahm an, dass Hildegard Maurer
ohne Behinderung keiner ausserhäuslichen Tätigkeit nachgehen würde, da sie
ein Kleinkind zu besorgen habe. In ihrem Tätigkeitsbereich als Hausfrau
und Mutter sei sie aber nicht mindestens zur Hälfte behindert, weshalb
ihr keine Rente zustehe. In diesem Sinn verfügte die Ausgleichskasse des
Kantons Bern am 27. Juli 1971.

    B.- Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hat die Beschwerde der
Versicherten mit Entscheid vom 24. November 1971 abgewiesen. Es behandelte
Hildegard Maurer als Hausfrau, die in ihrem Tätigkeitsbereich nicht
mindestens zur Hälfte gesundheitlich behindert sei. Ein Rentenanspruch
bestehe demnach nicht.

    C.- Hildegard Maurer reicht Verwaltungsgerichtsbeschwerde ein mit
dem Begehren um Ausrichtung einer halben Invalidenrente. Im wesentlichen
macht sie geltend, sie habe einmal versucht, mit Heimarbeit etwas zum Lohn
ihres Mannes hinzuzuverdienen. Aber dann müsse wegen ihrer Gehbehinderung
der Haushalt darunter leiden. Ihren Beruf habe sie aufgeben müssen,
weil sie geheiratet habe, Mutter geworden sei und für den Haushalt
mehr Zeit benötige als eine gesunde Frau. Schwerere Arbeiten müssten
von ihrem Ehemann verrichtet werden, der auch einen Teil der Einkäufe
besorge. Ihre Wohnung befinde sich 20 Minuten vom nächsten Geschäft und
von der Busendstation entfernt.

    Die Ausgleichskasse verzichtet ausdrücklich auf eine Stellungnahme
zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung meint, Hildegard Maurer müsse
als Hausfrau behandelt werden, da ihre Leistungsfähigkeit erst mit
der Eheschliessung deutlich beeinträchtigt worden sei. Es sei aber
nicht zum vornherein von der Hand zu weisen, dass sie ohne Invalidität
noch einer bescheidenen Erwerbstätigkeit nachginge, die im Rahmen des
Betätigungsvergleichs angemessen zu berücksichtigen wäre. Aber selbst
dann würde kein Invaliditätsgrad von 50% erreicht, und ein möglicher
Härtefall könne ausgeschlossen werden. Das Bundesamt beantragt deshalb
die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) ...

    b) Eine Hausfrau ist als Erwerbstätige zu behandeln, wenn sie vor
der Invalidierung neben der Besorgung ihres Haushaltes mindestens den
überwiegenden Teil dessen erwarb, was sie bei ganztägiger Erwerbstätigkeit
gleicher oder ähnlicher Art hätte verdienen können (EVGE 1964 S. 262
und ZAK 1969 S. 520). Nach der neuesten Rechtsprechung muss ferner die
Erwerbstätigkeit, die eine hauptsächlich im eigenen Haushalt und mit
der Kindererziehung beschäftigte Versicherte für Drittpersonen ausübt,
bei der Invaliditätsschätzung nach der spezifischen Methode des Art. 27
IVV angemessen berücksichtigt werden, sofern die erwerbliche Betätigung
zum Aufgabenbereich der betreffenden Hausfrau gehört. Dies trifft dann
zu, wenn das Erwerbseinkommen, welches die Versicherte ohne Invalidität
wahrscheinlich erzielen würde, einen wesentlichen Teil des gesamten
Familieneinkommens bildet (BGE 98 V 259).

    c) Die soeben unter lit. b zitierte Praxis galt bisher indessen
nicht für eine Versicherte, die als Ledige trotz ihres prekären
Gesundheitszustandes in vollem Umfang erwerbsfähig war und daher keine
Invalidenrente beanspruchen konnte, mit ihrer Verehelichung aber die
Berufstätigkeit aufgeben muss, weil sie wegen ihrer (unveränderten)
Gesundheitsschädigung ausserstande ist, neben der Besorgung des Haushalts
auch noch einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Es lässt sich jedoch nicht
rechtfertigen, eine solche Versicherte im Hinblick auf die Schätzung
ihrer Invalidität zum vornherein als Nichterwerbstätige zu behandeln
mit der Begründung, sie habe sich mit ihrer Verehelichung aus eigenem
Willensentschluss in die Kategorie der Nichterwerbstätigen eingeordnet. Das
Eidg. Versicherungsgericht hat denn auch im Falle einer Versicherten,
die vor ihrer Verehelichung eine ganze Invalidenrente bezog, erkannt,
dass das vor der Heirat angewandte Kriterium für die Bestimmung der
Bemessungsmethode nicht mehr unbedingt auch für die Invaliditätsschätzung
nach der Heirat entscheidend sei. Massgebend sei vielmehr jene Tätigkeit,
welche die Versicherte seit der Verehelichung ausüben würde, wenn sie
nicht invalid wäre. Ebenso müsse bei einer invaliden Ehefrau, die - unter
Umständen gestützt auf ihren freien Willensentschluss - von ihrem Mann
getrennt lebt, untersucht werden, ob sie, wäre sie gesund, angesichts ihrer
konkreten persönlichen Verhältnisse wahrscheinlich einer Erwerbstätigkeit
nachginge oder sich auf die Führung ihres Haushaltes beschränken würde
(BGE 97 V 243, 98 V 262).

    In analoger Weise ist bei einer trotz Gesundheitsschädigung
bisher erwerbstätig gewesenen Versicherten, die heiratet und nunmehr
bloss noch den Haushalt zu bewältigen oder nur in geringem Umfang eine
Erwerbstätigkeit auszuüben vermag, zu prüfen, ob und gegebenenfalls in
welchem Ausmass sie angesichts ihrer persönlichen Verhältnisse einem Beruf
nachginge, wenn sie gesund wäre. Vom Ergebnis dieser Prüfung hängt die Wahl
der Bemessungsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG oder Art. 5 Abs. 1 IVG bzw.
27 IVV) ab. Wo die Methode des Betätigungsvergleichs zur Anwendung
kommt, fragt sich - im Sinn des Urteils BGE 98 V 259 - weiter, ob die
hauptsächlich im eigenen Haushalt beschäftigte Versicherte eine erwerbliche
Nebenbeschäftigung ausüben würde, die bei der Invaliditätsschätzung
angemessen berücksichtigt zu werden verdient.

Erwägung 2

    2.- Trotz ihrer Restlähmungen war die Beschwerdeführerin bis zum
Sommer 1969 in vollem Umfang erwerbstätig. Nach ihren eigenen Angaben
in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gab sie ihren Beruf auf, als sie im
August 1969 heiratete und nun gesundheitlich ausserstande war, neben der
Besorgung des Haushalts und der Pflege ihres im Februar 1970 geborenen
Kindes weiterhin erwerbstätig zu sein; Versuche, Heimarbeit zu übernehmen,
seien gescheitert. Anscheinend wollte die Beschwerdeführerin auch nach
ihrer Heirat einem Erwerb nachgehen. Nach den Darlegungen in Erwägung
1 lit. c ist daher zu prüfen, ob und allenfalls in welchem Ausmass sie
angesichts ihrer konkreten persönlichen Verhältnisse trotz Verehelichung
weiterhin einer Erwerbstätigkeit nachginge, wenn die Gesundheit ihr dies
erlauben würde. Das Resultat dieser Prüfung wird bestimmend sein für die
Wahl der Invaliditätsbemessungsmethode. Gelangt man zur Anwendung des
Betätigungsvergleichs, wird sich weiter fragen, ob die Beschwerdeführerin
ohne ihre Invalidität neben der Betätigung im Haushalt wenigstens einen
wesentlichen Teil des gesamten Familieneinkommens erwerben würde, der
bei der Invaliditätsschätzung angemessen zu berücksichtigen wäre.

    Die Verwaltung wird die erforderlichen Abklärungen noch vornehmen
und alsdann über den Rentenanspruch neu verfügen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: In teilweiser
Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 24. November 1971 sowie die
Kassenverfügung vom 27. Juli 1971, diese soweit sie den Rentenanspruch zum
Gegenstand hat, aufgehoben, und es wird die Sache an die Ausgleichskasse
zurückgewiesen, damit diese nach Abklärung im Sinn der Erwägungen neu
verfüge.