Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 V 26



98 V 26

7. Auszug aus dem Urteil vom 15. März 1972 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen Stauffer AG und Verwaltungsgericht des Kantons
Bern Regeste

Art. 52 AHVG.

    Funktion und Verantwortung des Arbeitgebers im beitragsrechtlichen
Bezugsverfahren. Begriff des durch grobfahrlässige Missachtung von
Vorschriften verursachten Schadens (Präzisierung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Die Stauffer AG hatte über die Bezüge der bei ihr seit
Oktober 1958 als Propagandistin, bzw. Vertreterin beschäftigten G.
sozialversicherungsrechtlich nicht abgerechnet, weil sie annahm,
G. sei als Selbständigerwerbende der Ausgleichskasse angeschlossen. Am
30. Dezember 1970 erliess die Ausgleichskasse für die Beitragsjahre
1965-1969 eine Nachzahlungsverfügung im Betrage von Fr. 2790.95, welche
in Rechtskraft erwachsen ist, sowie eine Schadenersatzverfügung, lautend
auf eine Forderung von Fr. 2580.75 für verjährte paritätische Beiträge
zuzüglich Verwaltungskosten für die Jahre 1960 bis 1964. Auf Einsprache
der Stauffer AG machte die Ausgleichskasse die Schadenersatzforderung
klageweise geltend..

    B.- Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies mit Entscheid vom
12. Mai 1971 die Klage ab, weil der beklagten Firma keine grobfahrlässige
Missachtung von Vorschriften im Sinne von Art. 52 AHVG zur Last gelegt
werden könne.

    C.- Gegen diesen Entscheid hat das Bundesamt für Sozialversicherung
rechtzeitig Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben mit dem Rechtsbegehren,
die Stauffer AG sei zu verhalten, fürdieJahre 1960 bis 1964 Schadenersatz
in einer gerichtlich festzusetzenden Höhe zu leisten.

    Die Stauffer AG beantragt, auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei
nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 128 OG beurteilt das Eidg.  Versicherungsgericht
letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen
Verfügungen im Sinne von Art. 97 und 98 lit. b-h OG auf dem
Gebiete der Sozialversicherung. Hinsichtlich des Begriffes der mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechtbaren Verfügungen verweist Art. 97
OG auf Art. 5 VwG. Nach Abs. 1 dieser Bestimmung gelten als Verfügungen
Anordnungen der Behörden im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des
Bundes stützen (und im übrigen noch weitere, nach dem Verfügungsgegenstand
näher umschriebene Voraussetzungen erfüllen).

    Der vorinstanzliche Entscheid entspricht dem Verfügungsbegriff
des Art. 5 VwG. Er fällt unter Art. 98 lit. g OG und ist der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde durch keine Ausschlussbestimmung
entzogen. Insbesondere ist entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin
der Schadenersatzanspruch für entgangene Sozialversicherungsbeiträge
öffentlich-rechtlicher Natur. Auch der Umstand, dass das vorinstanzliche
Verfahren im Sinne der "ursprünglichen Verwaltungsgerichtsbarkeit"
(GYGI, Verwaltungsrechtspflege und Verwaltungsverfahren im Bund, S. 9
f.) ausgestaltet ist (Art. 81 und 82 AHVV), ändert nichts.

    Das Eidg. Versicherungsgericht hat daher auf die vom Bundesamt für
Sozialversicherung erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde einzutreten
(Art. 132 in Verbindung mit Art. 103 lit. b OG und Art. 202 AHVV)...

Erwägung 4

    4.- Werden Beiträge nicht innert fünf Jahren nach Ablauf des
Kalenderjahres, für welche sie geschuldet sind, durch Verfügung geltend
gemacht, so können sie nicht mehr eingefordert oder entrichtet werden
(Art. 16 Abs. 1 AHVG).

    Weil im vorliegenden Fall die für die Jahre 1960 bis 1964 von der
Beschwerdegegnerin nicht bezahlten paritätischen Beiträge verwirkt sind
(EVGE 1955 S. 194, 1956 S. 180 Erw. 3), ist der AHV ein Schaden entstanden,
wie sich aus den in EVGE 1961 S. 229 ff. dargelegten Grundsätzen
ergibt. Ein Schaden liegt danach immer dann vor, wenn der AHV paritätische
Beiträge, auf die sie einen gesetzlichen Anspruch hatte, vorenthalten
worden sind. Ob und welche Leistungen sie später dem Versicherten zu
gewähren hat, für den die Beiträge nicht geleistet wurden, ist für
die Frage des Schadeneintrittes bedeutungslos. Bei Nichtbezahlung von
paritätischen Beiträgen ist daher der Schaden dem Betrag gleichzusetzen,
den der Arbeitgeber nach Gesetz hätte bezahlen müssen.

Erwägung 5

    5.- Gemäss Art. 52 AHVG hat der Arbeitgeber den Schaden, den er durch
absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften verschuldet,
der Ausgleichskasse zu ersetzen.

    In derLiteraturwirddie Auffassung vertreten, der Arbeitgeber sei ein
Organ des Bundes (SOMMERHALDER, Die Rechtsstellung des Arbeitgebers in
der AHV, Diss. Zürich 1958, S. 49 ff.; WINZELER, Die Haftung der Organe
und der Kassenträger in der AHV, Diss. Zürich 1952, S. 24). Nach WINZELER
handelt der Arbeitgeber im Beitragsbezugs- und Abrechnungsverfahren jedoch
nur hinsichtlich der Arbeitnehmerbeiträge als Organ; demnach wäre seine
Haftung nach Art. 52 AHVG auf diesen Bereich beschränkt. Insoweit es
um die vom Arbeitgeber als Sozialpartnerdes Arbeitnehmers geschuldeten
Arbeitgeber- und Verwaltungskostenbeiträge gehe, befinde sich der
Arbeitgeber in der Stellung eines gewöhnlichen Beitragspflichtigen. Daraus
folge, dass verwirkte Arbeitgeber- und Verwaltungskostenbeiträge nicht
auf dem Umweg über Art. 52 AHVG in Form von Schadenersatzforderungen
geltend gemacht werden könnten (WINZELER, aaO S. 69 Anm. 27). In EVGE
1956 S. 179 erklärte das Gericht demgegenüber, dem Arbeitgeber komme
in seinen Beziehungen zum Arbeitnehmer keine Organ- oder organähnliche
Stellung zu, welches im übrigen auch immer die verwaltungsmässigen
Aufgaben des Arbeitgebers sein mögen, die diesem unbestrittenermassen
obliegen. Diese Auffassung bestätigte das Eidg. Versicherungsgericht
auch im Urteil i.S. Pré-de-Vers vom 21. März 1957 (ZAK 1957 S. 448),
wo es die Organstellung des Arbeitgebers verneinte, dagegen ausführte,
der Arbeitgeber handle bei der Entrichtung paritätischer Beiträge als
vom Gesetz bezeichneter Substitut. In BGE 96 V 124 bemerkte das Gericht
ohne nähere Begründung, in der AHV komme den Arbeitgebern nebst ihrer
Eigenschaft als Beitragspflichtige (Art. 12 AHVG) auch Organfunktion
hinsichtlich Beitragsbezug und Rentenauszahlung zu (Art. 51 AHVG).

    In Präzisierung dieser Rechtsprechung ist hinsichtlich der rechtlichen
Stellung des Arbeitgebers im Beitragsbezugs- und Abrechnungsverfahren
folgendes festzuhalten: Die Abrechnungspflicht des Arbeitgebers
gegenüber der Ausgleichskasse über die paritätischen Beiträge lässt
sich zwar theoretisch unterteilen in eine Organpflicht bezüglich
der Arbeitnehmerbeiträge einerseits und in eine persönliche Pflicht
bezüglich der Arbeitgeberbeiträge zuzüglich Verwaltungskostenbeiträge
anderseits. Indessen ist sowohl der Bezug der Arbeitnehmerbeiträge durch
den Arbeitgeber als auch dessen Pflicht, über diese Beiträge zusammen
mit dem Arbeitgeberbeitrag der Ausgleichskasse gegenüber abzurechnen,
als Einheit aufzufassen. Es rechtfertigt sich daher, den Begriff des
Organs nicht in überspitzter Form anzuwenden. Die Beitragsbezugs- und
Abrechnungspflicht des Arbeitgebers in ihrer Gesamtheit ist vielmehr
eine gesetzlich vorgeschriebene öffentlich-rechtliche Aufgabe. Deren
Unterlassung bedeutet eine Missachtung von Vorschriften gemäss Art. 52
AHVG und zieht die Schadensdeckung in vollem Umfange nach sich (EVGE
1961 S. 230 Erw. 2). Wie es sich verhält, wenn ein Arbeitgeber zwar
den Arbeitnehmerbeitrag abgezogen und mit der Ausgleichskasse über
die paritätischen Beiträge abgerechnet, diese aber vor Ablauf der
Verwirkungsfrist nicht bezahlt hat, kann im vorliegenden Verfahren offen
bleiben.

Erwägung 6

    6.- Der Arbeitgeber hat indessen den verursachten Schaden gemäss
Art. 52 AHVG nur zu ersetzen, wenn er ihn durch "absichtliche oder
grobfahrlässige" Missachtung von Vorschriften verschuldet hat. Dafür,
dass die Beschwerdegegnerin den Vorschriften über die Abrechnungspflicht
absichtlich nicht nachgekommen sei, fehlen Anhaltspunkte; es kann sich
einzig fragen, ob sie diese Vorschriften grobfahrlässig verletzt hat.

    Grobe Fahrlässigkeit ist gegeben, wenn ein Arbeitgeber das ausser
acht lässt, was jedem verständigen Menschen in gleicher Lage und unter
gleichen Umständen als beachtlich hätte einleuchten müssen (EVGE 1957
S. 219, 1961 S. 232).

    Im Schrifttum wird zu Recht die Auffassung vertreten, dass diese
im Hinblick auf die Praktikabilität und Rechtssicherheit erforderliche
Objektivierung des Fahrlässigkeitsbegriffes nicht starr zu handhaben
ist; dies schon mit Rücksicht darauf, dass den Arbeitgebern in
der AHV verwaltungsrechtliche Aufgaben von Gesetzeswegen alseine
unausweichliche Folge ihrer sozialen Stellung und ohne Berücksichtigung
ihrer persönlichen Fähigkeiten und ohne Entgelt auferlegt werden (WINZELER,
aaO, S. 68). Das Mass der zu verlangenden Sorgfalt ist daher abzustufen
entsprechend der Sorgfaltspflicht, die in den kaufmännischen Belangen
jener Arbeitgeberkategorie, welcher der betreffende Arbeitgeber angehört,
üblicherweise erwartet werden kann und muss.

    In diesem Sinne hat die Beschwerdegegnerin die Vorschriften über
die Abrechnungspflicht grobfahrlässig verletzt. Eine Aktiengesellschaft
gehört in Anbetracht der ihr eigenen rechtlichen Struktur zu jener
Arbeitgeberkategorie, an deren Sorgfaltspflicht grundsätzlich strenge
Anforderungen zu stellen sind. Es hätte der Beschwerdegegnerin bei
der gegebenen Sachlage ernstlich als zweifelhaft erscheinen müssen,
ob die Tätigkeit von G. wirklich als selbständige Erwerbstätigkeit
bewertet werden dürfe. Wenn siees nicht für nötig erachtete, sich über
die Abrechnungspflicht zu vergewissern und die Frage zu prüfen, ob die
angeblich von G. selbständig vorgenommene Abrechnung zulässig sei, so
liegt hierin eine grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften...

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: In Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts
des Kantons Bern vom 12. Mai 1971 aufgehoben und es wird die Sache zu
weiterer Abklärung im Sinne der Erwägungen und zu neuer Verfügung an die
Ausgleichskasse zurückgewiesen.