Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 V 255



98 V 255

64. Urteil vom 14. November 1972 i.S. Gisler gegen Ausgleichskasse des
Kantons Zürich und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich Regeste

    Der Abruf der gemäss Art. 39 AHVG aufgeschobenen Rente hat keine
Rückwirkung.

    Bedeutung der auf Irrtum beruhenden Willenserklärung im
Verwaltungsrecht.

Sachverhalt

    A.- Mit Schreiben vom 6. März 1970 machte die Schweizerische Botschaft
in Algerien die damals noch in diesem Land als Missionsschwester tätig
gewesene Emmy Gisler darauf aufmerksam, dass sie vom 1. April 1970 an eine
Altersrente der AHV beanspruchen könne. Sie forderte die Versicherte auf,
das ihr zugestellte Anmeldeformular ausgefüllt wieder zurückzusenden und
mitzuteilen, ob die Auszahlung der Rente in Algerien oder in der Schweiz
gewünscht werde. Im gleichen Brief schrieb die Botschaft: "Enfin, ainsi
que vous pourrez le constater en lisant le Merkblatt cijoint, concernant
l'ajournement des rentes de vieillesse, vous avez la possibilité de
solliciter l'ajournement de votre rente. Il y a lieu de marquer d'une
croix la rubrique "oui" ou, dans le cas contraire, d'inscrire la croix
dans la rubrique "non" (chiffre 16, page 2)."

    Auf dem vom 19. März 1970 datierten Anmeldeformular bejahte Emmy Gisler
die Frage Nr. 16, ob sie "den Anfang des Rentenbezuges um mindestens ein
Jahr und höchstens fünf Jahre aufschieben" wolle. Auf die weitere Frage,
an welche Adresse die Rente ausbezahlt werden solle, antwortete sie:
"Sie soll nicht jetzt ausbezahlt werden."

    Am 12. Mai 1970 übermittelte die Botschaft der Versicherten die
Verfügung über den Rentenaufschub mit dem Hinweis:

    "Vous trouverez également en annexe une demande de révocation
d'ajournement de la rente AVS. A ce sujet, je me permets d'attirer votre
attention sur le fait que l'assuré qui révoque l'ajournement de sa rente
plus d'un an après la date à laquelle elle a pris naissance, n'a droit
à aucun versement rétroactif et ne bénéficie de sa rente augmentée du
supplément d'ajournement qu'avec effet au premier jour du mois qui suit
la révocation (un délai d'au moins 4 semaines est cependant demandé)."

    Als in der Folge Emmy Gisler die AHV-Rente auf November 1971 abrief
und die Auszahlung an die Schweizerische Bankgesellschaft in Winterthur
verlangte, erliess die Ausgleichskasse des Kantons Zürich am 16. November
1971 eine entsprechende Rentenverfügung.

    B.- Die Versicherte beschwerte sich gegen diese Verfügung, indem
sie sinngemäss beantragte, es seien das Aufschubbegehren aufzuheben
und die seit April 1970 aufgeschobene Rente auszuzahlen. Der Bruder
der Beschwerdeführerin begründete dieses Begehren damit, dass die Rente
seinerzeit hauptsächlich deshalb nicht bezogen worden sei, weil das Geld
nicht aus Algerien habe ausgeführt werden können. So sei "das Geld auf
der AHV stehen" geblieben in der Annahme, "dass es nach Bedarf abgehoben
werden kann". Zudem sei die Versicherte auf die Rente angewiesen.

    Die AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich hat die Beschwerde mit
Entscheid vom 4. April 1972 abgewiesen.

    C.- Emmy Gisler liess durch ihren Bruder Verwaltungsgerichtsbeschwerde
erheben und beantragen, es sei ihr die Altersrente "rückwirkend per
8. März 1970 auszubezahlen", und geltend machen, sie sei einem "Irrtum
erlegen, indem sie glaubte, die Rentenbeträge werden nur zurückgestellt,
sofern sie vom Ausland her diese vorerst nicht zu beziehen wünsche... Es
wäre ungerecht, müsste sie jetzt, obigen Irrtums wegen, dafür büssen."...

    Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung stellen
den Antrag auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 39 Abs. 1 AHVG können Personen, die Anspruch auf eine
ordentliche Altersrente haben, den Beginn des Rentenbezuges mindestens
ein Jahr und höchstens fünf Jahre aufschieben und innerhalb dieser
Frist die Rente nach freier Wahl im voraus von einem bestimmten Monat an
abrufen. Wird eine aufgeschobene Rente abgerufen, so wird sie vom folgenden
Monat an ausbezahlt; eine Nachzahlung von Renten ist ausgeschlossen (Art.
55quater Abs. 3 AHVV).

    Nach Art. 39 Abs. 2 AHVG wird die aufgeschobene Altersrente
um den versicherungsmässigen Gegenwert der nicht bezogenen
Leistung erhöht. Zutreffend bemerkt dazu das Bundesamt, dass der
versicherungsmässige Gegenwert nicht nur den Gegenwert der Leistungen
beinhaltet, auf die ein einzelner Rentner vorher verzichtet hat,
sondern auch einen durchschnittlichen Anteil an den Beträgen, die
infolge Hinschieds anderer Rentenbezüger innerhalb der Aufschubsdauer
nicht ausbezahlt worden sind. Dieser Anteil kann nur berechnet werden,
wenn eine Wahl zwischen Nachzahlung oder Zuschlag ausgeschlossen
ist. Andernfalls könnte jeder Rentner, der ursprünglich den Rentenaufschub
verlangt hat, kurz vor seinem Tod noch die Nachzahlung verlangen. Der
versicherungsmässige Gegenwert liesse sich bei einer Wahlmöglichkeit
betreffend die Festsetzung und Auszahlung der Rente nicht ermitteln,
weshalb diese nach Art. 55quater Abs. 3 AHVV ausgeschlossen ist. Dieser
Ausschluss ist somit versicherungstechnisch begründet und nicht als
Schikane gegenüber dem Rentner zu betrachten, welcher den Aufschub
verlangt hat.

Erwägung 2

    2.- Es stellt sich die Frage, ob die Beschwerdeführerin seinerzeit
irrtümlich den Rentenaufschub verlangt hat und nun nachträglich die
Auszahlung der nicht aufgeschobenen Altersrente von der Vollendung
ihres 62. Altersjahres hinweg verlangen kann.

    Wie aus den Briefen der Schweizerischen Botschaft vom 6. März und
12. Mai 1970 an die Beschwerdeführerin hervorgeht, wurde diese eindeutig
und klar über die Bedeutung des Rentenaufschubs und insbesondere darüber
orientiert, dass sie für die Dauer des Aufschubs keine rückwirkenden
Rentenzahlungen würde verlangen können. Es ist schwer verständlich, dass
die Versicherte in diesem Punkt geirrt haben soll. Aber selbst wenn dies
zuträfe, so vermöchte sie daraus doch nichts zu ihren Gunsten abzuleiten,
wie sich aus folgenden Darlegungen ergibt.

    Nicht nur im Privatrecht, sondern auch im Verwaltungsrecht können
auf Irrtum beruhende Willensmängel von rechtserheblicher Bedeutung
sein. Die Erheblichkeit von Willensmängeln im Verwaltungsrecht ergibt
sich aus einem allgemeinen Rechtsgrundsatz und nicht aus direkter oder
analogieweiser Geltung des Privatrechts (GRISEL, Droit administratif
suisse, S. 40). Regelmässig ist der Willensmangel aber nur dann zu
beachten, wenn der zugrunde liegende Irrtum nicht von der Person, an die
sich der beanstandete Verwaltungsakt richtet, verschuldet worden ist (vgl.
BGE 97 V 160). Dieser Fall ist hier nicht gegeben. Hätte nämlich die
Beschwerdeführerin besonders das Schreiben der Schweizerischen Botschaft
vom 12. Mai 1970 mit gebührender Aufmerksamkeit gelesen, so hätte sie
ohne weiteres erkennen können, dass sie mit Beendigung des Rentenaufschubs
keine nachträglichen Rentenzahlungen für die zurückliegende Zeit zwischen
Anfang und Ende des Rentenaufschubs würde beanspruchen können. Sie muss
deshalb ihre seinerzeitige Willenserklärung über den Rentenaufschub, die
von der Schweizerischen Ausgleichskasse am 5. Mai 1970 noch schriftlich
bestätigt worden ist, gegen sich gelten lassen. Übrigens machte die
Ausgleichskasse sie bei diesem Anlass nochmals darauf aufmerksam, dass
"die Rente von dem dem Abruf folgenden Monat an zugesprochen" werde,
wenn keine Mitteilung eingehe, von welchem Datum hinweg künftig die Rente
ausbezahlt werden solle.

    Dem Bundesamt ist auch darin beizupflichten, dass es sich um einen
Rechtsirrtum handeln würde, wenn sich die Beschwerdeführerin über die
rechtliche Tragweite ihrer Willenserklärung vom 19. März 1970 geirrt hätte.
Nach einem allgemeinen Grundsatz kann aber niemand aus der eigenen
Rechtsunkenntnis Rechte zu seinen Gunsten ableiten (ZAK 1968 S. 642)...

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.