Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 V 23



98 V 23

6. Urteil vom 20. Januar 1972 i.S. Tresch gegen Ausgleichskasse des
Kantons Uri und Kantonale Rekurskommission Uri für die AHV Regeste

    Art. 43bis AHVG und 66bis AHVV.

    Voraussetzungen einer Hilflosenentschädigung der AHV (Zusammenfassung
der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Die 1906 geborene, verwitwete Ida Tresch, Bezügerin einer
einfachen Altersrente und einer Ergänzungsleistung, ist seit ihrer
Kindheit vollständig blind. Sie leidet ausserdem an Hypertonie, Arthritis
beider Hüftgelenke und reaktiver Depression mit tagelang dauernden
Kopfschmerzen. Die Versicherte bedarf vollständig oder grösstenteils der
Hilfe Dritter und der persönlichen Überwachung bei der Kontaktaufnahme mit
der Umwelt sowie beim Fortbewegen in der Wohnung und im Freien. Auf keine
oder nur geringe Hilfe angewiesen ist sie dagegen beim An- und Auskleiden,
Absitzen, Aufstehen und Abliegen, Essen, Baden, bei der täglichen Toilette,
der Nahrungsaufnahme sowie beim Verrichten der Notdurft. Mit Verfügung
vom 8. Januar 1971 lehnte die Ausgleichskasse ein Gesuch der Versicherten
um Ausrichtung einer Hilflosenentschädigung der AHV ab.

    B.- Die kantonale Rekurskommission Uri für die AHV wies mit Entscheid
vom 28. Juli 1971 eine von der Versicherten gegen die Verfügung der
Ausgleichskasse erhobene Beschwerde ab.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt Ida
Tresch, es sei ihr eine Hilflosenentschädigung der AHV zuzusprechen.

    Ausgleichskasse und Bundesamt für Sozialversicherung schliessen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- ...

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 43bis Abs. 1 AHVG haben in der Schweiz wohnhafte Männer
und Frauen, denen eine Altersrente zusteht und die in schwerem Grade
hilflos sind, Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung. Der Anspruch
entsteht am ersten Tag des Monats, in dem sämtliche Voraussetzungen
erfüllt sind und die Hilflosigkeit schweren Grades ununterbrochen
mindestens 360 Tage gedauert hat (Art. 43bis Abs. 2 AHVG). Begriff und
Bemessung der Hilflosigkeit bestimmen sich sinngemäss nach den Normen des
Invalidenversicherungsgesetzes. Die Bemessung der Hilflosigkeit zuhanden
der Ausgleichskassen obliegt den Invalidenversicherungs-Kommissionen. Der
Bundesrat kann ergänzende Vorschriften erlassen (Art. 43bis Abs. 5 AHVG
und Art. 66bis Abs. 1 AHVV).

    Laut Art. 42 Abs. 2 IVG gilt als hilflos, wer wegen der Invalidität
für die alltäglichen Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder
der persönlichen Überwachung bedarf. Zu diesen Verrichtungen gehören
nach ständiger Rechtsprechung in erster Linie das An- und Auskleiden,
die Körperpflege, die Nahrungsaufnahme und das Verrichten der Notdurft
(EVGE 1969 S. 112 f., 1966 S. 133 Erw. 1), ferner aber auch das
normalmenschliche, der Gemeinschaft angepasste und an diese gewöhnte
Verhalten, wie es der Alltag mit sich bringt. Wer zu solchem Verhalten
nicht oder nicht mehr fähig ist, muss grundsätzlich als hilflos betrachtet
werden (EVGE 1969 S. 112 Erw. 1). In diesem Zusammenhang ist ferner
die Herstellung des K ontaktes zur Umwelt zu berücksichtigen. Es ist
jedoch zu beachten, dass die notwendige Hilfe bei der Herstellung dieses
Kontaktes in der Regel nur als zusätzliches Element, neben anderen nötigen
Hilfeleistungen, einen Anspruch auf die Entschädigung zu begründen vermag
(EVGE 1969 S. 113).

    Art. 39 Abs. 2 IVV kennt drei Grade der Hilflosigkeit, nämlich den
leichteren, den mittleren und den schweren Grad. Der leichtere Grad gilt
als erfüllt, wenn der Versicherte weniger als zur Hälfte, aber mindestens
zu einem Drittel hilflos ist. Eine Hilflosigkeit mittleren Grades liegt
vor, falls der Versicherte mindestens zur Hälfte, jedoch weniger als
zu zwei Dritteln hilflos ist. Bei einer Hilflosigkeit von mindestens
zwei Dritteln ist der schwere Grad erreicht, der nach Art. 43bis Abs. 1
AHVG den Altersrentnern Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der AHV
verleiht. Dabei ist die jeweils zu beurteilende Hilflosigkeit mit jener
zu vergleichen, welche ein vollständig Hilfloser aufweist. Da unter den
alltäglichen Lebensverrichtungen vor allem das An- und Auskleiden, die
Körperpflege, die Nahrungsaufnahme, das Verrichten der Notdurft und das
normal-menschliche Verhalten zu verstehen sind, ist der Grad der Hilfs-
und Überwachungsbedürftigkeit in erster Linie nach diesen Tätigkeiten
zu schätzen. Ob Hilfe und persönliche Überwachung notwendig sind, ist
objektiv, nach dem Zustand des Versicherten zu beurteilen. Grundsätzlich
unerheblich ist die Umgebung, in welcher sich der Versicherte aufhält. Es
darf hinsichtlich der Bemessung der Hilflosigkeit keinen Unterschied
ausmachen, ob ein Versicherter allein oder in der eigenen Familie, in der
offenen Gesellschaft oder in einem Spital bzw. in einer Anstalt lebt (EVGE
1966 S. 134 f. Erw. 2). Würde anders entschieden, d.h. die Hilflosigkeit
nach der Mühe bemessen, die im Rahmen der jeweiligen Umgebung erwächst,
so wären stossende Konsequenzen unumgänglich, insbesondere dann, wenn ein
Wechsel von der Haus- in die Spitalpflege stattfände (EVGE 1969 S. 115
Erw. 3). Das Gericht hat wiederholt festgestellt, dass die gesetzliche
Ordnung und die Natur der Sache dem Ermessen der Verwaltung bei der
Würdigung der Umstände des Einzelfalles für die Ermittlung des Grades
der Hilflosigkeit einen weiten Spielraum lassen, sofern der massgebende
Sachverhaltmit hinreichen der Zuverlässigkeit abgeklärt worden ist (EVGE
1969 S. 119; ferner EVGE 1966 S. 243 und dort zitierte Rechtsprechung
und Literatur).

Erwägung 3

    3.- Auf den vorliegenden Fall angewendet, führen diese Grundsätze
zum Ergebnis, dass die Voraussetzungen einer Hilflosenentschädigung der
AHV bei Erlass der angefochtenen Verfügung (BGE 96 V 141, EVGE 1968 S.
16/17, 1965 S. 202) nicht erfüllt waren. Der Entscheid der Vorinstanz
ist daher nicht zu beanstanden. Da die Beschwerdeführerin für die
alltäglichen Lebensverrichtungen (An- und Auskleiden, Körperpflege,
Nahrungsaufnahme und Verrichten der Notdurft) nur in geringem Masse
oder überhaupt nicht hilfsbedürftig ist, fehlt es im massgebenden
Zeitpunkt andervom Gesetzgeforderten Schwere der Hilflosigkeit. Die
Behinderungen der Versicherten bei der Kontaktaufnahme mit der
Umwelt und beim Fortbewegen im Freien und in der Wohnung sind
weitgehend auf ihre Blindheit zurückzuführen, welche indessen nach der
Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts noch keinen Anspruch auf die
Hilflosenentschädigung zu begründen vermag. Denn der blinde Versicherte ist
in der Regel nicht von vorneherein als selbst in leichtem Grade hilflos
zu betrachten (EVGE 1969 S. 115; ZAK 1970 S. 36). Eine Späterblindung,
der gebührend Rechnung zu tragen wäre (ZAK 1970 S. 39 Erw. 3 c), liegt
bei der Beschwerdeführerin nicht vor.

    Sollte der Grad der Hilflosigkeit in letzter Zeit erheblich zugenommen
haben, so wird sich die Verwaltung auf neue Anmeldung hin erneut mit der
Sache zu befassen haben; der Beschwerdeführerin bleiben daher auch nach
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde alle Rechte gewahrt.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.