Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 V 214



98 V 214

52. Auszug aus dem Urteil vom 16. August 1972 i.S. Mosimann gegen
Ausgleichskasse des Kantons Bern und Versicherungsgericht des Kantons
Bern Regeste

    Art. 12 Abs. 1 IVG.

    Anspruch Jugendlicher auf medizinische Massnahmen bei gewissen
Deformitäten der Wirbelsäule (Änderung der Rechtsprechung).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Es fragt sich, ob Käthi Mosimann allenfalls gestützt auf Art. 12
IVG ein Anspruch auf medizinische Massnahmen zusteht.

    Gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG hat der Versicherte Anspruch auf medizinische
Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern
unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet
sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor
wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Um "Behandlung des Leidens
an sich" geht es in der Regel bei der Heilung oder Linderung labilen
pathologischen Geschehens. Unter solchen Umständen ist die Vorkehr nicht
"unmittelbar" auf die Eingliederung gerichtet. Die Invalidenversicherung
übernimmt im Prinzip nur unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur
stabiler Defektzustände oder Funktionsausfälle gerichtete Vorkehren, sofern
diese die Wesentlichkeit und Beständigkeit des angestrebten Erfolges im
Sinn von Art. 12 Abs. 1 IVG voraussehen lassen (EVGE 1966 S. 212). Bei
nichterwerbstätigen minderjährigen Versicherten ist insbesondere zu
beachten, dass diese als invalid gelten, wenn ihr Gesundheitsschaden
künftig wahrscheinlich eine Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben wird (Art. 5
Abs. 2 IVG). Nach der Rechtsprechung können daher medizinische Vorkehren
bei Jugendlichen schon dann überwiegend der beruflichen Eingliederung
dienen und trotz des einstweilen noch labilen Leidenscharakters von der
Invalidenversicherung übernommen werden, wenn ohne diese Vorkehren in
absehbarer Zeit eine Heilung mit Defekt oder ein sonstwie stabilisierter
Zustand einträte, wodurch die Berufsbildung oder die Erwerbsfähigkeit oder
beide beeinträchtigt würden. Selbstverständlich müssen auch die übrigen
Voraussetzungen erfüllt sein (EVGE 1963 S. 117, 1966 S. 213, 1968 S. 48,
1969 S. 51 und 230).

    Im Bereich der idiopathischen Skoliose hat die Rechtsprechung
ursprünglich erkannt, dass Jugendliche nur in den allerschwersten
Fällen Anspruch auf medizinische Eingliederungsmassnahmen der
Invalidenversicherung und nur in Form von Operationen gegen Ende des
evolutiven Stadiums haben. Konservative Vorkehren hingegen wurden als
Behandlung des Leidens an sich betrachtet; dies vor allem in Anwendung des
bis zum 31. Dezember 1967 gültig gewesenen Art. 2 Abs. 1 IVV, wonach als
medizinische Eingliederungsmassnahmen nur einmalige oder während begrenzter
Zeit wiederholte Vorkehren gewährt werden durften (ZAK 1968 S. 345, EVGE
1964 S. 27, 1963 S. 51 und 59). Die am 1. Januar 1968 in Kraft getretene
revidierte Fassung des Art. 2 IVV hat diese Schranke beseitigt.

    Neulich ist die Frage, inwieweit Jugendliche nach Abschluss
des akuten Stadiums von Poliomyelitis medizinische Massnahmen
beanspruchen können, gemäss folgenden Überlegungen entschieden worden:
Poliomyelitische Restlähmungen seien geeignet, bis zum Abschluss
der Wachstumsperiode, d.h. bis gegen das 20. Altersjahr, stabile
Skelettveränderungen herbeizuführen, die es im Interesse der künftigen
Erwerbsfähigkeit des Invaliden zu verhüten gelte; in diesen Fällen werde
mit physiotherapeutischen Massnahmen einem die berufliche Ausbildung
oder die künftige Erwerbsfähigkeit beeinträchtigenden Defektzustand
vorgebeugt, weshalb die Invalidenversicherung für die Kosten solcher
Präventivbehandlung bis zur Volljährigkeit aufzukommen habe.

    Nicht nur bei Skelettveränderungen poliomyelitischer Genese, sondern
auch bei Skoliosen, Kyphosen (Scheuermannscher Rundrücken) und Lordosen
drohen stabile Defektzustände, welche ohne entsprechende Therapie die
spätere Erwerbsfähigkeit des Jugendlichen voraussichtlich beeinträchtigen
würden. Im Rahmen des Art. 12 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 IVG lässt
sich eine unterschiedliche rechtliche Behandlung der Skelettveränderungen
poliomyelitischen Ursprungs einerseits und der Skoliosen, Kyphosen und
Lordosen anderseits nicht rechtfertigen. Demzufolge haben - generell
typisiert - an Kyphose, Skoliose oder Lordose leidende Jugendliche
bis zum Abschluss des Wachstumsalters Anspruch auf jene medizinischen
Vorkehren, welche notwendig sind, um dauernde Skelettschäden zu verhüten,
die ihre Berufsbildung oder ihre spätere Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen
würden. Dieser Anspruch besteht im Einzelfall nur dann nicht, wenn und
solange kein derart schwerwiegender Defektzustand droht. Da durch frühen
Behandlungsbeginn die Entstehung einer schweren Wirbelsäulenverkrümmung
und damit allenfalls eine Operation sich vermeiden lassen, sind die
indizierten Massnahmen frühzeitig genug zu gewähren. - In diesem Sinn ist
die bisherige Rechtsprechung gemäss Beschluss des Gesamtgerichts zu ändern.

Erwägung 3

    3.- Käthi Mosimann leidet an schwerer Skoliose, die zur Zeit noch
mit einer Milwaukee-Korsett-Behandlung angegangen wird, später allenfalls
sogar einer Operation bedarf. Nach den Darlegungen in Erwägung 2 hat die
Beschwerdeführerin bis zu ihrer Volljährigkeit Anspruch auf die notwendigen
medizinischen Massnahmen gemäss Art. 12 IVG, zu denen auch die Behandlung
mit dem Milwaukee-Korsett gehört. - Es ist Sache der Ausgleichskasse,
in einer neuen Verfügung festzulegen, welche Massnahmen der Versicherten
im einzelnen zustehen.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 12. Januar 1972 sowie die
Kassenverfügung vom 27. Juli 1971 aufgehoben und die Sache im Sinn der
Erwägung 3 an die Verwaltung zurückgewiesen.