Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 V 205



98 V 205

51. Urteil vom 20. Juni 1972 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen
Geissbühler und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich Regeste

    Medizinische Eingliederungsmassnahmen:

    - Über die Unmittelbarkeit, Wesentlichkeit und Dauerhaftigkeit des
erforderlichen voraussichtlichen Eingliederungserfolges (Art. 12 IVG).

    - Die ausnahmsweise Gewährung einer Operation im Ausland (Art. 9 Abs. 1
IVG) lässt sich nicht durch jede Verringerung der damit verbundenen Gefahr
rechtfertigen: Es kommt auf die Erheblichkeit des Risikounterschiedes im
Einzelfall an.

Sachverhalt

    A.- Die 1937 geborene Verena Geissbühler leidet infolge einer
in frühester Kindheit durchgemachten Kinderlähmung an hochgradiger
Skoliose der Brustwirbelsäule, welche Rückenschmerzen und Störungen
der Herz-Lungenfunktion verursacht. Sie arbeitet in der Glätterei der
Orthopädischen Klinik X. Am 18. März 1960 meldete sie sich bei der
Invalidenversicherung an und ersuchte um medizinische Massnahmen und
Hilfsmittel. Mit Verfügung vom 23. November 1960 wurden die Kosten für
orthopädische Gymnastik und Massage ab 1. Januar 1960 bis auf weiteres
übernommen (Revision 31. Dezember 1965). Am 11. November 1965 teilte
die Ausgleichskasse der Versicherten mit, die Voraussetzungen weiterer
Gewährung der Kostengutsprache über den Revisionstermin hinaus seien
nicht erfüllt, da periodisch notwendige medizinische Vorkehren nach Art. 2
Abs. 2 IVV nicht als medizinische Massnahmen gälten. Ein am 5. Mai 1969
gestelltes neues Begehren um medizinische Massnahmen (u.a. physikalische
Therapie) wurde abgewiesen (Verfügung vom 16. Mai 1969).

    B.- Am 21. Dezember 1970 ersuchte Verena Geissbühler erneut
um medizinische Massnahmen; ihr Arzt, PD Dr. med. S., habe sie bei
Prof. Dr. med. St., Lyon, zwecks operativer Behandlung der Skoliose
angemeldet. Der vorgesehene Eingriff (Methode nach Harrington) diene der
Erhaltung der Erwerbsfähigkeit.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung, von der
Invalidenversicherungs-Kommission um Stellungnahme ersucht, vertrat die
Auffassung, dass eine durch Kinderlähmung verursachte Skoliose einen
relativ stabilisierten Defektzustand darstelle; im vorliegenden Fall
könne aber die Operation sicher in jeder grösseren orthopädischen Klinik
in der Schweiz vorgenommen werden; die Behandlung im Ausland müsse daher
aus Gründen der Konsequenz abgelehnt werden.

    Mit Verfügung vom 2. März 1971 wies die Ausgleichskasse das Gesuch
um Übernahme der Skoliose-Operation in Lyon ab.

    C.- Verena Geissbühler erhob Beschwerde mit dem Antrag, die
Invalidenversicherung habe die Kosten der Skoliose-Operation in Lyon
zu übernehmen. Nach dem Wortlaut der angefochtenen Verfügung sei
es nicht streitig, dass die operative Korrektur der Skoliose eine
Eingliederungsmassnahme im Sinne von Art. 12 IVG darstelle. Da wegen
seiner Besonderheit und Seltenheit der Eingriff in der Schweiz nicht oder
noch nicht durchgeführt werden könne, habe ihn die Invalidenversicherung
gestützt auf Art. 9 Abs. 1 IVG zu übernehmen.

    In einem der Beschwerde beigelegten Zeugnis bestreitet Dr. S.,
dass die Operation in der Schweiz hätte durchgeführt werden können;
er habe die Vornahme des Eingriffs trotz eigener Erfahrung abgelehnt
und die Patientin an die Klinik in Lyon verwiesen, in welcher - wie er
aus zahlreichen persönlichen Besuchen und aus vielen wissenschaftlichen
Arbeiten wisse - die Erfahrungen auf dem Gebiete der Skoliose-Operationen
viel grösser seien als in der Schweiz.

    Die AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich hiess mit Entscheid
vom 11. Juni 1971 die Beschwerde gut. Sie erachtete das Leiden der
Versicherten als relativ stabilisiert und dessen operative Korrektur als
Eingliederungsmassnahme im Sinne des Art. 12 IVG; die Operation könne
wegen ihrer Besonderheit und Seltenheit noch nicht ohne allzu grosses
Risiko in der Schweiz vorgenommen werden; anderseits biete Prof. St. -
eine anerkannte Autorität auf dem Gebiete der Skoliose - Gewähr für eine
erfolgreiche Durchführung der Operation.

    D.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das
Bundesamt für Sozialversicherung, der kantonale Entscheid sei aufzuheben
und die Kassenverfügung vom 2. März 1971 wiederherzustellen. Das
Amt wiederholt bezüglich Art. 9 Abs. 1 IVG seinen Standpunkt, wonach
die Operation auch in der Schweiz hätte vorgenommen werden können;
zusätzlich weist es darauf hin, dass das grosse Operationsrisiko gegen
eine Anerkennung des Eingriffs als Eingliederungsmassnahme spreche; denn
die Operation könne nur verantwortet werden, wenn es unmittelbar um die
Erhaltung der Gesundheit oder des Lebens gehe; der Eingliederungscharakter
trete somit in den Hintergrund.

    Verena Geissbühler schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Sie bestreitet, dass im Zeitpunkt
der Operationsindikation eine lebensbedrohende Situation bestanden
habe; Anlass zum Eingriff habe der Gedanke der funktionellen
Wiederherstellung bei einem stabilisierten Defektzustand einerseits und
der Aufrechterhaltung der Erwerbsfähigkeit anderseits gegeben; die Frage,
ob die Vorkehr eine Eingliederungsmassnahme darstelle, könne nicht von der
medizinischtechnischen Schwierigkeit der Operation abhängig gemacht werden.

    E.- Aus einem nachträglich eingereichten Bericht von Dr. S. ergibt
sich, dass nach Durchführung vorbereitender Behandlungen am 7. September
1971 in Lyon operiert worden sei; das praeoperative Korrekturergebnis
habe verbessert werden können; die Nachbehandlung sei jedoch noch nicht
abgeschlossen, so dass eine endgültige Beurteilung des Ergebnisses nicht
möglich sei.

    Schliesslich teilte der Vertreter der Verena Geissbühler am 10. März
1972 noch mit, diese habe vor einigen Wochen wieder nach Hause zurückkehren
können; dank der erfolgreichen Skoliose-Operation werde sie in absehbarer
Zeit ihre Erwerbstätigkeit, zunächst teilweise, wieder aufnehmen können.

Auszug aus den Erwägungen:

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung
von Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidg.
Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt,
sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen
Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhaltes gebunden und kann über die Begehren
der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).

    b) Nach ständiger Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts
ist der rechtserhebliche Sachverhalt im verwaltungsgerichtlichen
Beschwerdeverfahren in der Regel nach den tatsächlichen Verhältnissen zur
Zeit des Erlasses der angefochtenen Verfügung zu beurteilen (BGE 96 V 144;
EVGE 1968 S. 16/17, 1965 S. 202)...

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Verfahren ist vorab zu prüfen, ob die Annahme
von Verwaltung und Vorinstanz richtig ist, die durch Kinderlähmung
verursachte Gesundheitsschädigung sei ein relativ stabilisierter Zustand,
dessen operative Korrektur eine Eingliederungsmassnahme nach Art. 12
IVG darstelle. Laut dieser Bestimmung hat der Versicherte Anspruch auf
medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich,
sondern unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet
sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor
wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Art. 12 IVG bezweckt namentlich,
die Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung einerseits und der sozialen
Kranken- und Unfallversicherung anderseits gegeneinander abzugrenzen. Die
Abgrenzung "beruht auf dem Grundsatz, dass die Behandlung einer Krankheit
oder einer Verletzung ohne Rücksicht auf die Dauer des Leidens primär in
den Aufgabenbereich der Kranken- und Unfallversicherung gehört" (Bericht
der Eidgenössischen Expertenkommission für die Revision der IV vom 1. Juli
1966 S. 31)...

    Das Gesetz umschreibt die Vorkehren medizinischer Art, welche von
der Invalidenversicherung nicht zu übernehmen sind, mit dem Rechtsbegriff
"Behandlung des Leidens an sich". Wo und solange labiles pathologisches
Geschehen besteht und mit medizinischen Vorkehren angegangen wird,
seien sie kausal oder symptomatisch, auf das Grundleiden oder auf
dessen Folgeerscheinungen gerichtet, stellen solche Heilmassnahmen,
sozialversicherungsrechtlich betrachtet, Behandlung des Leidens an
sich dar. Dem labilen pathologischen Geschehen hat die Rechtsprechung
seit jeher im Prinzip alle nicht stabilisierten Gesundheitsschäden
gleichgestellt, die Krankheitswert haben. Demnach gehören jene Vorkehren,
welche auf die Heilung oder Linderung pathologischen oder sonstwie
Krankheitswert aufweisenden Geschehens labiler Art gerichtet sind, nicht
ins Gebiet der Invalidenversicherung. Erst wenn die Phase des (primären
oder sekundären) pathologischen Geschehens insgesamt abgeschlossen und ein
stabiler bzw. relativ stabilisierter Zustand eingetreten ist, kann sich
- beim volljährigen Versicherten - überhaupt die Frage stellen, ob eine
Vorkehr Eingliederungsmassnahme sei (BGE 97 V 45; EVGE 1969 S. 100; 1968
S. 112; 1967 S. 100). Stabilisierende Vorkehren richten sich gegen labiles
pathologisches Geschehen. Deshalb muss eine kontinuierliche Therapie,
die notwendig ist, um das Fortschreiten eines Leidens zu verhindern,
als Behandlung des Leidens an sich bewertet werden. Im Anwendungsbereich
des Art. 12 IVG besteht zwischen derartigen Vorkehren und therapeutischen
Akten, welche das Fortschreiten irreversibler Lähmungsfolgen verhindern
sollen, kein rechtlicher Unterschied. Unerheblich ist, ob die
Lähmungsfolgen eine Zeitlang als praktisch stabilisiert gelten konnten oder
nicht (EVGE 1969 S. 98 f. Erw. 3 a). Keine stabile Folge von Krankheit,
Unfall oder Geburtsgebrechen ist daher ein Zustand, der sich nur dank
therapeutischen Massnahmen einigermassen im Gleichgewicht halten lässt,
gleichgültig welcher Art die Behandlung ist (BGE 98 V 95).

Erwägung 3

    3.- Nach den Angaben von Dr. med. H. vom 20. Juni 1960 ist Verena
Geissbühler seit 1951 in der Klinik X hospitalisiert, wo sie als Glätterin
ausgebildet wurde und in beschränktem Masse arbeitet. Solange sie
behandelt und regelmässig kontrolliert werde, sei kein Gesundheitsschaden
zu erwarten, der sich auf die Teilerwerbsfähigkeit in der Klinik auswirken
werde; die Patientin werde hingegen "nur teilerwerbsfähig bleiben, wenn
sie die Möglichkeit hat, täglich massiert und behandelt zu werden".

    PD Dr. med. G. bestätigte in seinem Bericht vom 20. September 1965
die anhaltende Behandlungsbedürftigkeit der Versicherten, die trotz der
Schwere ihrer körperlichen Behinderung ihren Posten vollumfänglich versehe,
wie folgt:

    "Soll die Leistungsfähigkeit der Patientin erhalten werden und
die zeitweilig, vor allem bei Ermüdung auftretenden Rückenschmerzen in
Schach gehalten werden, dann ist die tägliche Anwendung von Heilgymnastik
durch die Patientin selbst und die 2x wöchentliche Überwachung derselben
durch eine unserer Therapeutinnen notwendig. Daneben ist Massage der
Rückenmuskulatur notwendig, um die Schmerzen zu beseitigen. Täglich
führt die Patientin auch in unserer Klinik Zugübungen zur Dehnung der
Wirbelsäule sowie Atemgymnastik durch. Mit diesen Massnahmen ist zu
erwarten, dass die Patientin ihre Erwerbsfähigkeit auch in Zukunft
vollumfänglich erhalten kann."

    Am 26. Januar 1971 berichtete PD Dr. med. S., Verena Geissbühler
leide an einer ganz hochgradigen poliomyelitischen Skoliose. Im Laufe
der letzten Jahre seien zunehmend "sehr hartnäckige und zum Teil
sehr intensive Rückenschmerzen entstanden". Sie leide ferner an einer
"zunehmenden Störung der Herz-Lungenfunktion", die im Frühjahr 1969 "zu
einem akut lebensbedrohlichen Zustand infolge einer wahrscheinlich an sich
geringfügigen pneumonischen Komplikation" geführt habe. Dr. S. spricht
zudem von hochgradigen Lähmungen auch an den Extremitäten, während nach
Dr. H. Arme, Beine, Hände und Füsse in allen Teilen ausserordentlich
grazil, aber frei beweglich waren. Der progressive Charakter der
kardiopulmonalen Störungen wird ebenfalls erst durch Dr. S. hervorgehoben,
desgleichen die Tatsache, dass die Versicherte ohne die vorgeschlagene
Behandlung in relativ kurzer Zeit arbeitsunfähig werde.

    Gestützt auf die in Erwägung 2 dargelegten Grundsätze erscheint nach
dem Gesagten die Annahme von Verwaltung und Vorinstanz, der Zustand der
Beschwerdegegnerin sei als relativ stabilisiert zu betrachten, als zum
mindesten fragwürdig. Auf Grund der vorliegenden Akten rechtfertigt es
sich jedenfalls nicht, von einer solchen Annahme auszugehen. ...

Erwägung 4

    4.- Selbst wenn indessen die hinreichende Stabilität des voroperativen
Zustandes erwiesen wäre - was noch abzuklären sein wird -, muss geprüft
werden, ob die bereits vorgenommenen und zum Teil noch durchzuführenden
Behandlungen unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet
und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit der Beschwerdegegnerin dauernd
und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung
zu bewahren.

    a) Unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet sind
medizinische Vorkehren nur dann, wenn sie in einen stabilen bzw. relativ
stabilisierten Defektzustand mit dem primären Zweck und der begründeten
Voraussicht eingreifen, diesen Zustand zu beseitigen oder doch zu
verbessern.

    Nach Dr. med. B. (Zeugnis vom 3. Februar 1971) dient der Eingriff "in
erster Linie der Erhaltung der heute bestehenden Arbeitsfähigkeit". Der
Arzt fährt indessen fort:

    "Wenn nichts getan wird, nimmt die Invalidität zu. Die Arbeitsfähigkeit
wird dann nicht zuletzt beeinträchtigt sein durch Komplikationen von
seiten des Herzens und der Lungen. Die eigentliche Lebensgefahr kommt
eigentlich erst mit der Verschlechterung des heutigen Zustandes und die
zu befürchtende weitgehende Invalidität wird dann nicht zuletzt durch
das Cor pulmonale bedingt sein."

    Nach diesem Bericht bestand das primäre und unmittelbare Ziel
der auch von diesem Arzt befürworteten Behandlung in Lyon darin, die
befürchtete Verschlechterung des labilen kardiopulmonalen Zustandes
zu verhindern. Ferner ergibt sich aus den Ausführungen von Dr. S. vom
13. Dezember 1971, wonach erst die Verbesserung der Vitalkapazität
(intensive korrigierende Behandlung) eine Operation überhaupt möglich
machte, dass jedenfalls die 6monatige praeoperative Behandlung in Lyon
nicht unmittelbar auf die Erwerbsfähigkeit gerichtet war.

    b) Hinsichtlich der Wesentlichkeit des Eingliederungserfolges genügt
es nicht, dass durch die medizinischen Vorkehren die Lebensdauer eines
Versicherten verlängert und erst sekundär eine seit jeher eingeschränkte,
auf die Dauer nur durch Stütztherapie zu konservierende Erwerbsfähigkeit
erhalten wird. Wesentlich ist vielmehr der durch eine Behandlung erzielte
Nutzeffekt nur dann, wenn er in einer bestimmten Zeiteinheit einen
erheblichen absoluten Grad erreicht.

    Bereits im Jahre 1960 wurde die Erwerbsfähigkeit der damals 23jährigen
Versicherten, welche noch keine kardiopulmonalen Störungen aufwies,
als eingeschränkt bezeichnet. Dies war deshalb richtig, weil Verena
Geissbühler dauernd intensiver Therapie bedurfte, deren Kosten als
kontinuierliche Aufwendungen für die Erhaltung ihrer Arbeitskraft die
Erwerbsfähigkeit negativ beeinflussten. Den Akten lässt sich nicht
entnehmen, ob diese Behandlungsbedürftigkeit nach der Operation
andauern wird. Bejahendenfalls müsste angenommen werden, dass die
Skoliose-Operation im wesentlichen der Beseitigung oder Linderung der
zunehmenden Störungen der Herz-Lungenfunktion - also labilen Anomalien
- gegolten hat. Ferner kann heute die Frage nicht beantwortet werden,
ob die Beschwerdegegnerin auch nach der Operation damit rechnen muss,
weiterhin mit Skelettdeformitäten behaftet zu sein; insbesondere fragt
es sich, ob die von Dr. H. erwähnte höchstgradige lordotische Einziehung
der Wirbel der unteren Brustwirbelsäule überhaupt korrekturfähig war. Aus
den Akten geht auch nicht hervor, wie weit die Versicherte den normalen
Anforderungen des Berufes einer Klinik-Lingère vor und nach der Operation
genügte bzw. genügen wird. Im Jahre 1960 war Verena Geissbühler 133
cm gross und 32 kg schwer; sie litt an Muskelschwäche. 1971 war ihr
Allgemeinzustand nach Dr. S. sehr prekär; zudem litt sie an hochgradigen
Lähmungen der Extremitäten. Die von diesem Arzt im Bericht vom 30. März
1971 prognostizierte grosse Wahrscheinlichkeit der Wiederherstellung
bzw. Erhaltung mindestens einer partiellen Arbeitsfähigkeit genügt nicht
zur Beantwortung der Frage, ob die Operation unmittelbar auf die berufliche
Eingliederung gerichtet und geeignet war, einen wesentlichen erwerblichen
Nutzeffekt zu zeitigen.

    c) Schliesslich muss der zu erwartende erwerbliche Eingliederungserfolg
auch dauernd sein, d.h. dass die konkrete Aktivitätserwartung bei
der Beschwerdegegnerin gegenüber dem statistischen Durchschnitt nicht
wesentlich herabgesetzt ist. Auch in dieser Hinsicht ist den Akten nichts
zu entnehmen.

Erwägung 5

    5.- Sowohl die Verwaltung als auch die Vorinstanz haben den
erwähnten Fragen nicht die erforderliche Aufmerksamkeit geschenkt und
die Beschwerdegegnerin in den Glauben versetzt, es gehe nur noch darum,
zu entscheiden, ob die Skoliose-Operation im Ausland zu übernehmen sei. Die
Invalidenversicherungs-Kommission, an welche die Sache zurückgewiesen wird,
hat der Versicherten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, ergänzende
tatbeständliche Erhebungen vorzunehmen und über den streitigen Anspruch
neu zu befinden. Sie wird insbesondere zu prüfen haben, ob die allgemeinen
Voraussetzungen des Art. 12 IVG zur Gewährung der beanspruchten Massnahme
erfüllt sind.

Erwägung 6

    6.- Die gesetzlich vorgesehenen Eingliederungsmassnahmen der
Invalidenversicherung werden gemäss Art. 9 Abs. 1 IVG in der Schweiz,
ausnahmsweise auch im Ausland gewährt. Diese Beschränkung gilt nach
dem Wortlaut des Gesetzes für alle Eingliederungsmassnahmen. Unter
Hinweis auf die Materialien zum Invalidenversicherungsgesetz
hat das Eidg. Versicherungsgericht in ständiger Rechtsprechung
Eingliederungsmassnahmen im Ausland nur zugesprochen, wenn die Massnahmen
mangels geeigneter Einrichtungen oder wegen ihrer Besonderheit und
Seltenheit in der Schweiz nicht oder noch nicht durchgeführt werden
konnten, wenn also eine gleichwertige Behandlung in der Schweiz nicht
zu finden war (BGE 97 V 155; EVGE 1966 S. 102 f.). Diese Voraussetzung
des Ausnahmefalles muss objektiv vorliegen; blosse Vorzüge im
Einzelfall genügen nicht (EVGE 1967 S. 248, 1966 S. 103). Denn die
Invalidenversicherung gewährt den Versicherten grundsätzlich nur die dem
jeweiligen Eingliederungszweck angepassten notwendigen Massnahmen (Art. 8
Abs. 1 IVG), nicht aber das nach den gegebenen Umständen Bestmögliche
(EVGE 1963 S. 202). Aus dem Grundsatz des Art. 2 Abs. 1 IVV folgt ferner,
dass nicht jede Verringerung des mit einer Operation verbundenen Risikos
die Durchführung des Eingriffs im Ausland rechtfertigt. Vielmehr kommt
es auf das Mass des Risikounterschiedes an, der sich nur im Einzelfall
beurteilen lässt...

    Sollte die Verwaltung zum Schluss kommen, dass die Skoliose-Operation
eine medizinische Massnahme gemäss Art. 12 IVG darstellt, so wird sie
bei der Prüfung der Frage, ob die Massnahme im Ausland zu gewähren sei,
nach diesen Grundsätzen zu verfahren haben. Sie wird ausserdem das
Mass des Risikounterschiedes berücksichtigen und entscheiden, ob die
vorbereitenden Behandlungsmassnahmen auch zu übernehmen sind und wieweit
der in Art. 14 Abs. 2 letzter Satz IVG niedergelegte Grundsatz auch auf
einen ausländischen Durchführungsort anwendbar ist.