Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 V 186



98 V 186

47. Auszug aus dem Urteil vom 31. August 1972 i.S. Dreher gegen
AHV-Ausgleichskasse des schweizerischen Gewerbes und AHV-Rekurskommission
des Kantons... Regeste

Art. 4 AHVG.

    Schulderlass bildet kein der Beitragspflicht unterliegendes
Erwerbseinkommen, ausser wenn er eine Gegenleistung für üblicherweise
entgeltliche Tätigkeit des Schuldners im Interesse des Gläubigers
darstellt. Art. 23 Abs. 4 AHVV.

    Die rechtskräftige Steuerveranlagung bindet die AHV-Organe hinsichtlich
der beitragsrechtlichen Qualifikation des Schulderlasses nicht.

Sachverhalt

    A.- Der Beschwerdeführer Dreher ist Inhaber eines Geschäftes
für Lebensmittel und als solcher der Beschwerdegegne rin als
Selbständigerwerbender angeschlossen. Am 20. Dezember 1968 meldete die
kantonale Wehrsteuerverwaltung der Ausgleichskasse, Dreher habe 1965 ein
Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit von Fr. 51 854.-- und 1966
ein solches von Fr. 20 322.-- erzielt; dies ergab nach Aufrechnung des
Sozialversicherungsbeitrages ein durchschnittliches Einkommen beider Jahre
von Fr. 36 102.--. Mit Beitragsverfügung vom 20. Januar 1969 setzte die
Kasse die persönlichen Beiträge des Beschwerdeführers für die ordentliche
Beitragsperiode 1968/69 gestützt auf diese Steuermeldung auf Fr. 1821.80
fest.

    B.- Dreher erklärte beschwerdeweise, die Steuermeldung gebe ein
falsches Bild über sein Einkommen. Denn 1965 habe ihm sein Hauptlieferant
Fr. 50 000.-- und 1966 nochmals rund Fr. 12 000.-- Schulden erlassen. Diese
Fr. 62 000.-- seien steuerrechtlich als Einkommen erfasst worden und daher
in der Steuermeldung enthalten; tatsächlich habe der Schulderlass zwar
seine Schulden verringert, ihm aber kein Einkommen verschafft, über das
er verfügen könnte.

    Das Steueramt bestätigte die Angaben des Beschwerdeführers hinsichtlich
des Schulderlasses, hielt jedoch an der Steuermeldung fest und teilte
überdies mit, die Veranlagung sei noch nicht rechtskräftig.

    Hierauf stellte die AHV-Rekurskommission das Beschwerdeverfahren ein
und zog nach Vorliegen der rechtskräftigen Wehrsteuerveranlagung die
Steuerakten erneut bei. Aus der im Einspracheverfahren festgesetzten
rechtskräftigen Veranlagung ergaben sich keine für die Meldung an die
Ausgleichskasse beachtlichen Änderungen.

    Mit Entscheid vom 30. Dezember 1971 wies die kantonale Rekurskommission
die Beschwerde ab.

    C.- Die Treuhandgesellschaft ... erhebt gegen diesen Entscheid mit
Vollmacht von Dreher Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, das
für die Beitragsfestsetzung 1968/69 massgebende Erwerbseinkommen sei
auf Fr. 5166.-- festzusetzen. Die Differenz zu dem der angefochtenen
Beitragsverfügung zugrunde liegenden Einkommen ergebe sich aus der
Nichtanrechnungdes Schulderlasses von insgesamt Fr. 61 873.-- in den
beiden Jahren der Berechnungsperiode.

    Ausgleichskasse und Bundesamt für Sozialversicherung pflichten in
ihren Vernehmlassungen dem vorinstanzlichen Entscheid bei und tragen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Streitig ist im vorliegenden Verfahren zunächst die Frage, ob
Schulden eines Selbständigerwerbenden, auf deren Eintreibung der Gläubiger
rechtswirksam verzichtet (Forderungsverzicht bzw. Schulderlass), zu dem der
Beitragspflicht gemäss Art. 4, 8 und 9 AHVG unterliegenden Erwerbseinkommen
gehören. Das ist eine im Verwaltungsgerichtsbeschwerde-Verfahren vom
Gericht frei überprüfbare Rechtsfrage (Art. 104 in Verbindung mit
Art. 132 OG); denn es geht - im Unterschied zur tatbeständlichen Frage
nach der Höhe des Einkommens - um den Umfang der Beitragspflicht,
im besonderen um die Auslegung des bundesrechtlichen Begriffes des
für die sozialversicherungsrechtliche Beitragspflicht massgebenden
Erwerbseinkommens.

Erwägung 2

    2.- a) Die Ermittlung des für die Berechnung der Beiträge
massgebenden Erwerbseinkommens obliegt gemäss Art. 23 Abs. 1 AHVV
den kantonalen Steuerbehörden; diese melden der Ausgleichskasse das
Erwerbseinkommen auf Grund der rechtskräftigen Wehrsteuerveranlagung
und das im Betrieb des Selbständigerwerbenden investierte Eigenkapital
auf Grund der entsprechenden rechtskräftigen kantonalen Veranlagung. Die
diesbezüglichen Angaben der Steuerbehörden sind für die Ausgleichskassen
im Beitragsfestsetzungsverfahren verbindlich (Art. 23 Abs. 4 AHVV).

    Demgemäss begründet nach der ständigen Rechtsprechung des Eidg.
Versicherungsgerichts jede rechtskräftige Steuerveranlagung die nur mit
Tatsachen widerlegbare Vermutung, dass sie der Wirklichkeit entspreche. Der
Sozialversicherungsrichter hat daher die Kassenverfügung grundsätzlich
nur auf ihre Gesetzmässigkeit zu überprüfen und darf von rechtskräftigen
Steuertaxationen nur dann abweichen, wenn diese klar ausgewiesene Irrtümer
enthalten, die ohne weiteres richtiggestellt werden können, oder wenn
sachliche Umstände zu würdigen sind, die steuerrechtlich belanglos,
sozialversicherungsrechtlich aber bedeutsam sind (BGE 98 V I 8 Erw. 2,
EVGE 1969 S. 136 und 145, 1968 S. 42; ZAK 1970 S. 398, 1969 S. 65
und 734 ff. sowie das nicht veröffentlichte Urteil vom 22. März 1972
i.S. Oschwald).

    b) Ein solcher Umstand, der wehrsteuerrechtlich als belanglos,
sozialversicherungsrechtlich jedoch als bedeutsam erscheint, ist die Frage,
ob eine Einnahme Erwerbseinkommen im Sinne der AHV-Gesetzgebung ist oder
nicht; denn das Steuerobjekt des Wehrsteuerrechts ist nicht identisch mit
dem Beitragsobjekt gemäss AHVG. Der Wehrsteuer unterliegt laut Art. 21 Abs.
1 WStB das gesamte Einkommen eines Steuerpflichtigen aus Erwerbstätigkeit,
Vermögensertrag oder andern Einnahmequellen, insbesondere aus den unter
den Buchstaben a-f genannten Quellen (vgl. BGE 96 I 657 Erw. 1). Dagegen
sind Sozialversicherungsbeiträge nur vom Einkommen aus Erwerbstätigkeit
geschuldet. Im Hinblick auf Art. 21 WStB konnte der Beschwerdeführer
die Frage, ob es sich um Erwerbseinkommen handle oder nicht, im
Steuereinspracheverfahren - weil für dessen Ausgang belanglos - nicht zur
Diskussion stellen. Somit präjudiziert die wehrsteuerrechtliche Erfassung
des fraglichen Schulderlasses die beitragsrechtliche Qualifikation dieses
Veranlagungsfaktors nicht (vgl. sinngemäss BGE 97 V 30, 96 V 61, EVGE
1966 S. 208).

Erwägung 3

    3.- a) Die Beiträge der erwerbstätigen Versicherten werden in Prozenten
des Einkommens aus unselbständiger bzw. selbständiger Erwerbstätigkeit
festgesetzt (Art. 4 AHVG). Nach der Rechtsprechung sind jene Einkünfte
zum Erwerbseinkommen gemäss Art. 4 AHVG und Art. 6 Abs. 1 AHVV zu zählen,
die einem Versicherten aus einer Tätigkeit zufliessen und dadurch seine
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erhöhen (BGE 97 V 28). Art. 6 Abs. 2
AHVV nennt Einkünfte, die im Sinne von Ausnahmen nicht zum Erwerbseinkommen
gehören; der Schulderlass wird dort nicht erwähnt. Die Aufzählung ist
jedoch nicht abschliessend (EVGE 1955 S. 172 = ZAK 1956 S. 36).

    Art. 9 Abs. 1 AHVG zählt zum Einkommen aus selbständiger
Erwerbstätigkeit "jedes Erwerbseinkommen, das nicht Entgelt für in
unselbständiger Stellung geleistete Arbeit darstellt". Unter dem Marginale
"Begriff des Einkommens aus selbständiger Erwerbstätigkeit" nennt Art. 17
AHVV u.a. "eingetretene und verbuchte Wertvermehrungen und Kapitalgewinne
von zur Führung kaufmännischer Bücher verpflichteten Unternehmungen"
(Buchstabe d).

    b) Die Frage, ob der Erlass von Geschäftsschulden Erwerbseinkommen
im Sinne dieser Bestimmungen darstelle, kann nicht generell beantwortet
werden. Es ist durchaus denkbar, dass der Erlass die Gegenleistung für
eine üblicherweise entgeltliche Tätigkeit des Schuldners im Interesse
des verzichtenden Gläubigers ausdrückt; wirtschaftlich betrachtet,
wäre in solcher Lage wohl Erwerbseinkommen im Umfange des Erlasses
anzunehmen. Indessen bestehen im konkreten Fall keine aktenmässigen
Anhaltspunkte für einen derartigen Leistungscharakter des Erlasses. Zwar
steht dieser in unmittelbarem Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit
des Beschwerdeführers, aber er ist offensichtlich nicht Entgelt für
diese Tätigkeit. Der verzichtende Gläubiger ist ein Warenlieferant
des Beschwerdeführers. Sein Guthaben war infolge Zahlungsverzuges des
Schuldners auf über Fr. 90 000.-- angestiegen und erschien als teilweise
uneinbringlich. Diese Einsicht und die Erstellung eines realistischen
Amortisationsplanes für die Restschuld dürften Motive des Erlasses gewesen
sein. Die rund Fr. 12 000.-- Verzugszinse, die dem Beschwerdeführer
1966 nachgelassen worden sind, stellen offenbar keinen Erlass im
schuldrechtlichen Sinne dar; es handelt sich vielmehr um eine buchmässige
Berichtigung im Abrechnungsverhältnis des Beschwerdeführers zum gleichen
Gläubiger. Beitragsrechtlich ist dieser Vorgang unbeachtlich. Somit
kann nicht gesagt werden, die im Geschäftsabschluss erfolgswirksame
Verminderung der Kreditorenschulden des Beschwerdeführers infolge
Schulderlasses bzw. Buchberichtigung von insgesamt Fr. 62 000.-- in
der Berechnungsperiode 1965/66 sei Einkommen aus Erwerbstätigkeit im
Sinne der massgebenden Bestimmungen der AHV-Gesetzgebung. Es entspräche
auch keineswegs dem Sinn und Zweck dieser Gesetzgebung, wenn mit bloss
buchmässig ausgewiesenem Einkommen oder auf der Basis von Schulden höhere
Sozialversicherungsrenten finanziert werden könnten. Trotz Zahlung der
entsprechenden Beiträge würden diese in keiner Weise die ihrer Bemessung
zugrunde liegenden realen erwerbswirtschaftlichen Vorgänge widerspiegeln,
was gemäss Art. 4 AHVG als unzulässig zu gelten hat.

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde sind daher der
vorinstanzliche Entscheid und die angefochtene Beitragsverfügung
aufzuheben; die Ausgleichskasse ist anzuweisen, eine neue Verfügung
für die ordentliche Beitragsperiode 1968/69 zu erlassen, inwelcher der
Schulderlass von Fr. 50 000.-- 1965 und von Fr. 11 873.-- 1966 nicht zu
dem für die Beitragspflicht massgebenden Erwerbseinkommen gezählt wird.