Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 V 166



98 V 166

43. Auszug aus dem Urteil vom 19. Mai 1972 i.S. Aiello gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Luzern
Regeste

    Art. 76 und 77 KUVG.
   -  Einheitlichkeit des Invaliditätsbegriffes (Erw. 2).

    - Schätzung der Invalidität:

    - - bei Schädigung eines paarigen Organs, insbesondere einer Niere
(Erw. 2 und 3);

    - - bei mehreren, von demselben Versicherungsfall herrührenden
Schädigungen; Grad der Gesamtinvalidität (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Am 9. September 1966 zog sich der 1921 geborene italienische
Staatsangehörige Giuseppe Aiello bei der Arbeit als Bauhandlanger eine
schwere Kompressionsfraktur des Wirbels L 1 und eine Radiusfraktur sowie
verschiedene Kontusionen zu. Nach der Operation war der Versicherte
nicht beschwerdefrei, so dass Ende 1966 eine Spanversteifung L 2/Th
12 vorgenommen werden musste. Als im November 1967 die Schrauben
herausgenommen wurden, entfernte der Arzt irrtümlicherweise die linke
Niere. Mit Verfügung vom 22. April 1968 sprach die SUVA Giuseppe
Aiello eine Invalidenrente zu, der sie eine Erwerbsunfähigkeit von 40%
zugrunde legte.

    B.- Giuseppe Aiello liess beim Versicherungsgericht des Kantons
Luzern beschwerdeweise beantragen, es sei ihm eine Rente wegen 60%iger
Invalidität zuzusprechen.

    Die Vorinstanz holte beim Chirurgen Dr. M. ein Gutachten ein. Der
Experte schätzte die Erwerbsunfähigkeit auf 55%, die sich aus folgenden
Faktoren zusammensetze: 30% für die Wirbelsäulenfraktur, 20% für den
Verlust der Niere und 5% für die Folgen der Radiusfraktur.

    Der kantonale Richter vertrat die Meinung, dass im vorliegenden Fall
bei der Invaliditätsschätzung auf die medizinischtheoretische Invalidität
abgestellt werden müsse, weil Giuseppe Aiello in Italien nur sporadisch
arbeite und die wirtschaftliche Invalidität deshalb nicht massgebend
sei. Die Vorinstanz folgte der gutachtlichen Schätzung bezüglich der
Folgen der Wirbelsäulen- und Radiusfraktur, erachtete jedoch die Folgen
des Nierenverlustes mit 10% als angemessen berücksichtigt, da dieser
Körperschaden teilweise die gleichen Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit
habe wie die Wirbelsäulenfraktur. Demgemäss wurde die SUVA verpflichtet,
Giuseppe Aiello eine Rente wegen 45%iger Invalidität auszurichten
(Entscheid vom 4. Juni 1971).

    C.- Mit der gegen diesen Entscheid erhobenen
Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt der Versicherte beantragen, es
sei ihm "eine Invalidenrente auf der Basis einer Invalidität von 55%
zuzuerkennen". Die SUVA müsse bei Verlust eines paarigen Organs auch das
Risiko späteren Verlustes des andern paarigen Organs abgelten. Der Verlust
einer Niere sei deshalb mit einem Invaliditätsgrad von 20% zu bewerten. Im
übrigen würden sich die drei Körperschädigungen potenzieren, so dass
es durchaus am Platze wäre, "einen Invaliditätssatz anzunehmen, welcher
über die blosse Addition der für einzelne Unfallfolgen gerechtfertigten
Invaliditätssätze hinausgeht".

    Die SUVA beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- In Übereinstimmung mit dem kantonalen Richter anerkennen die
Parteien, dass die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit durch den
Wirbelsäuleschaden zutreffend auf 30% zu veranschlagen ist. Diese
Beurteilung, für sich allein betrachtet, erscheint angemessen...

    Nachdem der Gerichtsexperte im Zusammenhang mit der Radiusfraktur
eine Osteochondromatose diagnostiziert hat, rechtfertigt es sich, dem
kantonalen Richter auch darin zu folgen, dass die Beschwerden im Handgelenk
eine zusätzliche Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit im Ausmass von 5%
bedeuten. Zwar ist die Beeinträchtigung an sich geringfügig; sie könnte,
für sich allein, kaum einen Rentenanspruch begründen. In Verbindung
mit der durch den Wirbelsäulenschaden bedingten Schonungsbedürftigkeit
erscheint sie für einen Bauhandlanger allerdings als erheblich, weshalb
sie mit berücksichtigt werden muss.

    Streitig ist somit vor allem, ob der Verlust der linken Niere, für
sich allein betrachtet, eine Erwerbsunfähigkeit von 10% oder aber von
20% bewirkt. Sodann stellt sich die weitere Frage, ob die Addition
der drei ermittelten Invaliditätsgrade eine richtige Bewertung der
Gesamtinvalidität ergibt.

Erwägung 2

    2.- Bei Verlust oder Funktionsuntüchtigkeit eines paarigen Organs
besteht die Gefahr, dass wesentlich schwerere Auswirkungen eintreten, wenn
auch das andere geschädigt wird oder verlorengeht. Haftet die SUVA für den
Ausfall oder die Beeinträchtigung des erstgeschädigten, so hat sie auch
für das Risiko des Verlustes des andern paarigen Organs einzustehen. Dieser
Grundsatz ist unbestritten und wird in der Praxis auch berücksichtigt. So
ist beispielsweise in den von der Schweizerischen Ophthalmologischen
Gesellschaft aufgestellten Durchschnittsansätzen im Gebiet der Augenschäden
auch das Erblindungsrisiko einkalkuliert. Analog verhält es sich bei
einseitigem Nierenverlust, für den in der Praxis Durchschnittsansätze von
10-15% gelten, wenn sich ergibt, dass die verbliebene Niere störungsfrei
funktioniert (DUBOIS/ZOLLINGER, Unfallmedizin, S. 319).

    In der Militärversicherung dagegen darf bei Schädigung eines
paarigen Organs das Risiko einer spätern Schädigung des andern Organs
in der Berechnung der Rente nicht berücksichtigt werden; dafür geht bei
späterer Schädigung des zweiten Organs der gesamte Schaden zu Lasten der
Militärversicherung (Art. 25 Abs. 4 MVG). Diese unterschiedliche rechtliche
Behandlung der Schädigung paariger Organe in der Militärversicherung
einerseits und in der Unfallversicherung anderseits basiert aber - entgegen
der Auffassung, welche in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertreten
wird - nicht darauf, dass in diesen beiden Rechtsgebieten differenzierte
Invaliditätsbegriffe gelten. Der Rechtsbegriff der Invalidität bedeutet
die durch einen versicherten Gesundheitsschaden verursachte dauernde oder
während längerer Zeit bestehende durchschnittliche Beeinträchtigung
der Erwerbsmöglichkeiten auf dem für den Versicherten in Betracht
fallenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt. Wesentlich dabei ist, dass er
Fragen erwerblicher Art beantwortet. Dies gilt in der obligatorischen
Unfallversicherung in gleicher Weise wie bei der Militärversicherung und
der Invalidenversicherung (EVGE 1967 S. 23; die gemäss MVG rechtserhebliche
Beeinträchtigung der körperlichen oder psychischen Integrität berührt
den allgemeingültigen Begriff der Invalidität nicht). So ist namentlich
das Risiko späteren Verlustes auch des zweiten paarigen Organs ebenfalls
aus erwerblicher Sicht zu würdigen und zu bewerten. Beispielsweise wird
sich ein vollständiger Hörverlust je nach dem Beruf des Betroffenen
erwerblich verschieden auswirken, und danach ist auch das oben
umschriebene Risiko zu werten. Gleich verhält es sich im Prinzip, wenn
der Tod - als unausweichliche Folge des Verlustes beider Nieren - der
Erwerbstätigkeit vorzeitig ein Ende setzt. Nach dem Gesagten gibt daher der
vorliegende Fall keinen Anlass, "die Rechtsprechung des eidgenössischen
Versicherungsgerichts zum Invaliditätsbegriffzu präzisieren", wie in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde postuliert wird.

Erwägung 3

    3.- Das Eidg. Versicherungsgericht hat wiederholt erklärt, dass die
auf Grund praktischer Erfahrung aufgestellten Durchschnittsansätze zwar
einen nicht zu unterschätzenden Wert haben, dass ihr Charakter jedoch
nicht gestatte, sie als verbindliche Schätzungen anzusehen. Vielmehr
sei in jedem einzelnen Fall zu prüfen, ob und gegebenenfalls inwieweit
Momente vorliegen, die - sei es nach oben oder nach unten - ein Abweichen
von diesen Ansätzen rechtfertigen (vgl. EVGE 1958 S. 217).

    Der Beschwerdeführer möchte nun die erwerblichen Auswirkungen
einseitigen Nierenverlustes nicht nur im Rahmen des für diese Schädigungen
geltenden Durchschnittsansatzes von 10-15%, sondern mit 20% bewertet
wissen. Dazu macht ergeltend, dassdie SUVA ihre Leistungen gemäss Art. 91
KUVG gewiss nicht nur um 10% kürze, wenn bei einem Unfall festgestellt
würde, dass der Versicherte schon vorher eine Niere verloren hat. Die
im gegenwärtigen Fall vorliegenden Verhältnisse können indessen nicht
mit einem für die Leistungskürzung erheblichen Sachverhalt verglichen
werden. Bei der Anwendung von Art. 91 KUVG wird ein tatsächlich bestehender
Zustand berücksichtigt und bewertet. Beim Verlust des einen paarigen
Organs hat man es dagegen hinsichtlich des andern mit einem Risiko zu
tun, also mit einer Gefahr, die sich möglicherweise in der Zukunft einmal
realisiert, vielleicht aber auch nicht verwirklicht. Dass dieses künftige
Risiko eine andere Bewertung erfordert, liegt auf der Hand. Es ist,
wie bereits erwähnt, in den Durchschnittsansätzen bereits berücksichtigt.

    Hingegen rechtfertigt es sich, im vorliegenden Fall die durch den
Nierenverlust bedingte Invalidität - für sich allein betrachtet - mit 15%
zu bewerten (das Risiko des Verlustes der zweiten Niere eingeschlossen),
weil sich diese Behinderung beim Beschwerdeführer, der als Bauhandlanger
tätig war und kaum auf einen anspruchsvolleren Beruf umgeschult werden
kann, stärker auswirkt als bei einem Versicherten, der die Möglichkeit
hat, ohne erhebliche Beeinträchtigung seiner Erwerbstätigkeit einer
schonenderen Beschäftigung nachzugehen. In diese Richtung deutet auch
der unwidersprochene Einwand des Beschwerdeführers, die SUVA selber
habe einen Invaliditätsgrad von 15% zugrunde gelegt,.als sie auf den
Haftpflichtversicherer des Arztes, welcher irrtümlicherweise die Niere
entfernt hatte, Regress nahm.

Erwägung 4

    4.- a) Die durch die drei Körperschädigungen bedingten Invaliditäten
sind demnach, jede für sich allein betrachtet, wie folgt zu bewerten: 30%
für den Wirbelsäuleschaden, 5% für die Folgen der Radiusfraktur und 15%
für den Verlust der linken Niere. Damit bleibt noch die in Erwägung 1
aufgeworfene Frage der Gesamtinvalidität zu beurteilen. Diese kann der
Addition jener drei Invaliditätsgrade entsprechen; sie kann aber auch
höher oder tiefer sein.

    Im Zusammenhang mit Art. 94 Abs. 2 KUVG über das Zusammentreffen von
Invalidenrenten aus verschiedenen, durch die SUVA gedeckten Unfällen
hat das Eidg. Versicherungsgericht in seinem Urteil vom 7. April 1970
i.S. Arlotta erklärt:

    "Das ganze Mass der Invalidität braucht keineswegs der Summe
der aus den verschiedenen Unfällen sich ergebenden Invaliditätsgrade
zu entsprechen. Würden die einzelnen Ansprüche nicht vereinigt und
die betreffenden Invaliditäten einfach addiert, so könnte sich leicht
ein Resultat ergeben, welches der tatsächlichen Gesamtinvalidität nicht
gerecht würde. Ein einzelner Körperschaden wirkt sich nämlich in Verbindung
mit andern Körperschäden (z.B. bei paarigen Organen) oft stärker aus,
als wenn er allein bleibt. Andererseits könnte die blosse Addition der
Invaliditätsgrade bei der Schädigung verschiedenartiger Organe auch ein
zu hohes Resultat zeitigen (vgl. EVGE 1941 S. 18/19 und 1956 S. 97)."

    Vgl. dazu auch MAURER, Recht und Praxis der schweizerischen
obligatorischen Unfallversicherung, S. 274. Diese Überlegungen gelten
nicht nur für die Schätzung der Gesamtinvalidität aus verschiedenen
versicherten Unfällen, welche gemäss Art. 94 Abs. 2 KUVG die Festsetzung
einer einheitlichen Rente bedingen. Sie gelten sinngemäss auch für
die Bewertung des erwerblichen Gesamtschadens aus einem Unfall, der
gleichzeitig mehrere Körperschädigungen zur Folge hat.

    In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird geltend gemacht, dass sich
die drei vorhandenen Schädigungen in ihren wirtschaftlichen Auswirkungen
potenzieren würden: die Nierenschädigung lege eine allgemeine Schonung
nahe, die WirbelsäulenschädigungverhinderedieArbeitin Beugestellung, unddie
Handgelenkverletzung erschwere Arbeiten, die manuelle Geschicklichkeit
erfordern. Daher würde es sich rechtfertigen, die Gesamtinvalidität höher
als das Ergebnis aus der Addition der drei Invaliditäten zu veranschlagen.

    An sich ist nicht auszuschliessen, dass die Folgen einer Radiusfraktur,
zusammen mit andern Behinderungen, erwerblich schwerer wiegen, als
wenn sie alleinige Körperschädigung wäre. Voraussetzung wäre jedoch,
dass sie für sich allein betrachtet einigermassen ins Gewicht fallen
würde. Letzteres trifft im vorliegenden Fall nicht zu: die aus der
Radiusfraktur resultierende erwerbliche Beeinträchtigung ist - wie bereits
ausgeführt - geringfügig und würde - für sich allein - kaum die Gewährung
einer Invalidenrente rechtfertigen. Sie wird erst bedeutsam im Hinblick
auf die andern beiden - erwerblich gravierenden - Körperschädigungen,
und nur in diesem Zusammenhang kann sie bei der Invaliditätsschätzung
überhaupt berücksichtigt werden.

    Bezüglich der Wirbelsäulen- und der Nierenschädigung ist der SUVA
darin beizupflichten, dass die durch den Wirbelsäulenschaden bedingte
Schonung den Beschwerdeführer gleichzeitig vor schädlichen körperlichen
Überanstrengungen bewahrt, denen er sich infolge des Nierenverlustes
zu enthalten habe. Jede der beiden Behinderungen wirkt sich also in
erwerblicher Hinsicht nicht voll aus.

    Aus diesen Überlegungen ergäbe die blosse Addition der drei gesondert
bewerteten Invaliditäten eine zu hohe Gesamtinvalidität. Eine Reduktion
ist daher am Platz. Wenn die Vorinstanz zu einer Gesamtinvalidität von
45% gelangt ist, so wird damit dem Erfordernis dieser Reduktion Rechnung
getragen, so dass der angefochtene Ermessensentscheid im Resultat nicht
zu beanstanden ist.

    b) Der Invaliditätsgrad von 45% erscheint aber auch aus
folgenden Überlegungen als den Verhältnissen angemessen: Wohl ist der
Beschwerdeführer, der über keine berufliche Vorbildung verfügt und vor dem
Unfall als Bauhandlanger tätig war, in seiner Erwerbsfähigkeit erheblich
beeinträchtigt. Es lässt sich aber nicht sagen, dass er ausserstande sei,
durch zumutbare Ausnützung der ihm noch verbliebenen Leistungsfähigkeit
einer Arbeit nachzugehen, die ihm etwas mehr als die Hälfte dessen
einbrächte, was er ohne seine Beschwerden auf dem für ihn in Betracht
fallenden, ausgeglichenen Arbeitsmarkt durchschnittlich hätte verdienen
können. Dies namentlich unter Berücksichtigung des von der Rechtsprechung
aufgestellten Grundsatzes, dass für ihn jener Arbeitsmarkt massgebend
ist, der ihm, als nicht besonders qualifiziertem Hilfsarbeiter, nach dem
Unfall noch offensteht und seinem Zustand angepasste Beschäftigung bietet,
mithin nicht notwendigerweise allein der Arbeitsmarkt der süditalienischen
Ortschaft, in der er gegenwärtig lebt (BGE 96 V 31). Damit ist auch
festgestellt, dass - sowohl bezüglich der besprochenen Einzelinvaliditäten
als auch der Gesamtinvalidität - die erwerblichen Verhältnisse massgebend
sind und nicht medizinisch-theoretische Überlegungen. Die ärztlichen
Schätzungen haben wohl ihre Bedeutung als wichtige Grundlage für die
Bemessung des rechtserheblichen Schadens und für die Beurteilung der
Zumutbarkeit weiterer Arbeitsleistung. Entscheidend sind aber die
wirtschaftlichen Gesichtspunkte.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.