Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 V 129



98 V 129

35. Urteil vom 30. Juni 1972 i.S. Sch. gegen Schweizerische Krankenkasse
Helvetia und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Regeste

    Art. 5 Abs. 3 KUVG und Art. 2 Vo III.

    Zulässigkeit neuer Vorbehalte gegenüber dem Versicherten, der sich
höher versichern will.

    Art. 104 und 132 OG.

    Über die Begriffe: Versicherungsleistung, Überschreitung und Missbrauch
des Ermessens sowie Unangemessenheit.

Sachverhalt

    A.- Hans Sch. ist bei der Schweizerischen Krankenkasse Helvetia seit
dem 23. Februar 1965 u.a. für ein tägliches Spitalgeld von Fr. 30.- und
für Spitalbehandlungskosten bis zu Fr. 1200.-- versichert. Im Dezember
1970 verlangte er die Erhöhung der Spitalgeldversicherung auf Fr. 48.-
und der Spitalbehandlungskostenversicherung auf Fr. 5000.-- mit Wirkung
ab 1. Januar 1971. Die Kasse entsprach diesem Begehren mit Verfügung
vom 29. März 1971, doch brachte sie im Ausmass der Höherversicherung
(Spitalgeld Fr. 18.-, Spitalbehandlung Fr. 3800.--) einen Vorbehalt für
Osteochondrose der Wirbelsäule, Spondylose, Skoliose und Diabetes an.

    B.- Beschwerdeweise stellte Hans Sch. den Antrag, der Vorbehalt
sei im vollen Umfang aufzuheben, da er sich gesund fühle und in keiner
ärztlichen Behandlung stehe. Zudem sei es ungerecht, wenn die Kasse die
Folgen der Teuerung in Form von Vorbehalten auf ihre Mitglieder abwälze.

    Im Lauf des Beschwerdeverfahrens erklärte sich die Kasse bereit, den
Vorbehalt auf Osteochondrose, Spondylose sowie Skoliose und überdies auf
nur einen Teil der verlangten Erhöhung, nämlich auf Fr. 12.- Spitalgeld
und auf Fr. 2500.-- Spitalbehandlungskosten zu beschränken. In diesem Sinn
stellte die Kasse dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Antrag.

    Die Vorinstanz hob den Vorbehalt teilweise auf, indem sie ihn auf
Osteochondrose der Lendenwirbelsäule L3/5 sowie auf Spondylosis deformans
lumbalis und in masslicher Hinsicht auf Fr. 12.- Spitalgeld und Fr. 2500.--
Spitalbehandlungskosten reduzierte (Entscheid vom 25. August 1971).

    C.- In seiner Verwaltungsgerichtsbeschwerde hält Hans Sch. am
ursprünglichen Antrag fest, dass jeglicher Vorbehalt aufgehoben werden
müsse. Es sei zu unterscheiden zwischen Höherversicherungsbegehren
infolge Teuerung und solchen aus andern Gründen. Im vorliegenden Fall
werde die Höherversicherung wegen der Teuerung verlangt. Ohne die massive
Erhöhung der Spitalkosten hätte der Beschwerdeführer keine Veranlassung
gehabt, sich höher versichern zu lassen. Er wäre alsdann mit demselben
Gesundheitszustand, in welchem er sich heute befinde, ohne jeden Vorbehalt
versichert. Die Vorbehalte seien lediglich wegen der Folgen der Teuerung
angebracht worden. Im übrigen fühle er sich völlig gesund; auch stehe er
nicht in ärztlicher Behandlung.

    Die Kasse und das Bundesamt für Sozialversicherung beantragen die
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Umfang der Überprüfungsbefugnis des Eidg.
Versicherungsgerichts in Beschwerdesachen ergibt sich aus Art. 132 in
Verbindung mit Art. 104 und 105 OG.

    Nach Art. 104 lit. a OG kann der Beschwerdeführer nur die Verletzung
von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens rügen. Gemäss Art. 104 lit. b in Verbindung mit Art. 105 Abs. 2
OG kann er auch geltend machen, das vorinstanzliche kantonale Gericht habe
den rechtserheblichen Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig
oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt.

    Insoweit es sich bei der angefochtenen Verfügung um die Bewilligung
oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, kann nach Art. 132
OG ausserdem die Unangemessenheit der Verfügung gerügt werden und ist
das Eidg. Versicherungsgericht an die vorinstanzliche Feststellung des
Sachverhaltes nicht gebunden.

    Unter Versicherungsleistungen im Sinn des Art. 132 OG sind
Leistungen zu verstehen, über deren Rechtmässigkeit bei Eintritt des
Versicherungsfalles befunden wird. Das Begehren um Höherversicherung
betrifft lediglich künftige, potentielle Versicherungsleistungen, weil
der Versicherungsfall noch gar nicht eingetreten ist. Die vorliegende
Verwaltungsgerichtsbeschwerde hat somit keine Versicherungsleistungen im
Sinne von Art. 132 OG zum Gegenstand.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer erklärt, er sei sich bewusst, dass der
Entscheid des kantonalen Versicherungsgerichts gesetzeskonform und deshalb
formal-juristisch kaum anfechtbar sei. Er glaubt auch, dass er der Praxis
entspricht, die er jedoch als falsch bezeichnet, da bei einer lediglich
teuerungsbedingten Höherversicherung keine neuen Vorbehalte angebracht
werden dürften.

    Nach der Argumentation des Bundesamtes wäre die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde deshalb abzuweisen, weil der kantonale
Entscheid nicht unangemessen sei. Dem kann nicht beigepflichtet werden. Bei
der Unangemessenheit (Art. 132 lit. a OG) geht es um die Frage, ob der
zu überprüfende Entscheid, den die Behörde nach dem ihr zustehenden
Ermessen im Einklang mit den allgemeinen Rechtsprinzipien in einem
konkreten Fall getroffen hat, nicht zweckmässigerweise anders hätte
ausfallen sollen. Ermessensmissbrauch (Art. 104 lit. a OG) ist gegeben,
wenn die Behörde im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens bleibt, sich
aber von unsachlichen, dem Zweck der massgebenden Vorschriften fremden
Erwägungen leiten lässt oder allgemeine Rechtsprinzipien, wie das Verbot
von Willkür und von rechtsungleicher Behandlung, das Gebot von Treu
und Glauben sowie den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verletzt (BGE
97 I 583). Dagegen liegt Ermessensüberschreitung (Art. 104 lit. a OG)
vor, wenn die Behörde Ermessen walten lässt, wo ihr das Gesetz keines
einräumt, oder wo sie statt zweier zulässiger Lösungen eine dritte wählt
(GRISEL, Droit administratif suisse, S. 171). In diesem Zusammenhang
ist auch die Ermessensunterschreitung bedeutsam, die darin besteht,
dass die entscheidende Behörde sich als gebunden betrachtet, obschon
sie nach Gesetz berechtigt wäre, nach Ermessen zu handeln, oder dass sie
auf die Ermessensausübung ganz oder teilweise zum vornherein verzichtet
(vgl. IMBODEN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung I, 1971, Nr. 221 X
a und b; GYGI, Verwaltungsrechtspflege und Verwaltungsverfahren im Bund,
S. 145 und 147 f.). Mit "Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens"
im Sinn des Art. 104 lit. a OG wird die der Bundesrechtsverletzung
gleichgestellte "rechtsfehlerhafte Ermessensausübung" bezeichnet (GYGI
S. 138).

    Die zur Beurteilung stehende Frage ist keine solche des Ermessens oder
der Angemessenheit, sondern eine Rechtsfrage danach, ob die Krankenkasse
von Bundesrechts wegen verpflichtet ist, ein Mitglied im Ausmass der
eingetretenen Teuerung vorbehaltlos höher zu versichern.

Erwägung 3

    3.- a) Dem Bewerber um die Aufnahme in eine Krankenkasse gibt
das Gesetz keinen Anspruch darauf, sich für Leistungen versichern
zu lassen, welche die gesetzlichen Minima (Art. 12-12ter KUVG)
übersteigen. Sehen jedoch die Kassenstatuten höhere Mindestleistungen
als die gesetzlichen vor, so kann der Aufnahmebewerber beanspruchen,
für die statutarischen Mindestleistungen sowohl der Krankenpflege-
als auch der Krankengeldversicherung versichert zu werden, wenn
die Kasse beide Versicherungsarten führt (Art. 1 Abs. 2 Vo III über
die Krankenversicherung). Ein weitergehender Anspruch besteht nicht.
Daraus ergibt sich, dass das Kassenmitglied nicht verlangen kann, sich
höher versichern zu lassen; dies selbstverständlich unter Wahrung der
Grundsätze der Gegenseitigkeit und Rechtsgleichheit.

    Der Beschwerdeführer verlangt bessere Versicherungsdeckung, um die
Versicherungsleistungen der Teuerung anzupassen, und er meint, dass im
Rahmen der die bisherigen Leistungen übersteigenden Deckung keine neuen
Versicherungsvorbehalte angebracht werden dürften, weil es im Grunde
genommen ja gar nicht um eine reale Höherversicherung gehe. Dieser
Auffassung kann nicht beigepflichtet werden, wie noch darzutun sein wird.

    b) Art. 2 Abs. 2 Vo III über die Krankenversicherung bestimmt, dass
bei Höherversicherung während der Dauer der Mitgliedschaft für die den
bisherigen Leistungsumfang übersteigenden Leistungen spätestens nach fünf
Jahren dahinfallende Vorbehalte angebracht werden dürfen, sofern diese
gemäss Art. 5 Abs. 3 KUVG auch bei der Aufnahme in die Kasse zulässig wären
(RSKV 1971Nr. 87).

    Dem Beschwerdeführer ist zuzugeben, dass die Teuerung eine
sukzessive Höherversicherung erfordert, wenn der Versicherte sich
gegen ein bestimmtes Risiko dauernd in verhältnismässig gleichem
Umfang, d.h. ohne teuerungsbedingte reale Abnahme der Kassenleistungen
versichern will. Eine derartige Höherversicherung bietet so lange keine
Schwierigkeiten, als es darum geht, die Teuerung dadurch auszugleichen,
dass die Versicherungsleistungen und - in entsprechender Korrelation -
die Versicherungsprämien generell der Teuerung angepasst werden, was
in der Krankenversicherung von Bundesrechts wegen grundsätzlich nicht
ausgeschlossen ist. Werden jedoch bei einer - vom Mitglied verlangten
- individuellen Höherversicherung im Umfang derselben neue Vorbehalte
angebracht, so ist es insoweit dem Versicherten tatsächlich verwehrt,
die Versicherungsdeckung real der Kostensteigerung anzupassen. Wenn der
Beschwerdeführer geltend macht, dass in einem solchen Fall gar keine
eigentliche, einen Vorbehalt rechtfertigende Höherversicherung vorliege,
so übersieht er, dass die in Frage stehenden Krankenkassenleistungen keine
Sachleistungen sind. Handelte es sich um Sachleistungen, so müssten sie von
den Kassen ungeachtet der teuerungsbedingten Mehrkosten erbracht werden. Im
vorliegenden Fall geht es jedoch um reine Geldleistungen (Spitaltaggeld
und Spitalkosten). Dem Wesen solcher Geldleistungen entsprechend ist es
nach geltendem Recht im Hinblick auf die Möglichkeit, einen Vorbehalt
anzubringen, prinzipiell unerheblich, ob die Höherversicherung lediglich
wegen der eingetretenen Teuerung verlangt wird oder um das befürchtete
Ereignis real höher zu versichern. Für beide Fälle gilt der Grundsatz,
dass ein bereits eingetretenes bzw. unmittelbar drohendes Risiko nicht
bzw. nicht höher als bis anhin versichert werden kann.

    Damit soll nicht gesagt sein, dass das Anliegen des Beschwerdeführers
angesichts der zunehmenden Kostensteigerung im Krankenwesen keine Beachtung
verdiene. Dabei handelt es sich aber um ein sozialpolitisches Postulat,
das sich nur an den Gesetzgeber richten kann. Weder das KUVG noch die
Statuten der Beschwerdegegnerin enthalten eine ausdrückliche Norm, die
eine Beschränkung der Vorbehalte im Rahmen der Teuerung vorschreiben
würde. Ebensowenig kann auf dem Wege der Auslegung des KUVG und der
Statuten eine solche Norm gefunden werden. Es kann auch keine echte,
vom Richter auszufüllende Gesetzeslücke im KUVG angenommen werden.

    Ein bundesrechtlicher Anspruch auf vorbehaltlose Höherversicherung
im Rahmen der bisherigen Versicherung und der Teuerung besteht somit zur
Zeit nicht.

Erwägung 4

    4.- Muss demnach der grundsätzliche Anspruch auf vorbehaltlose,
teuerungsbedingte Höherversicherung verneint werden, so bleibt noch zu
prüfen, ob der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers es rechtfertigte,
ihn nur mit Vorbehalten höher zu versichern.

    Das kantonale Versicherungsgericht hat mit einleuchtender Begründung,
auf die verwiesen sei, dargelegt, dass der Beschwerdeführer an
Osteochondrose der Lendenwirbelsäule (L3/5) und an Spondylosis deformans
lumbalis leidet. Dies wird im Grunde genommen vom Versicherten auch
gar nicht bestritten, macht er doch nur geltend - was bei solchen
Gesundheitsschäden immer wieder vorkommt -, er fühle sich völlig
gesund, sei militärdienstpflichtig und stehe nicht in ärztlicher
Behandlung. Jedenfalls hat der kantonale Richter den Sachverhalt nicht
offensichtlich mangelhaft ermittelt, weshalb seine Sachverhaltsfeststellung
das Eidg. Versicherungsgericht bindet (Art. 105 Abs. 2 OG).

    Da das Bundesrecht den Krankenkassen erlaubt, auch bei der
Höherversicherung für die Dauer von fünf Jahren Vorbehalte anzubringen und
die Statuten der Beschwerdegegnerin die Höherversicherung mit fünf Jahre
dauernden Vorbehalten zulassen, dürfen die oben erwähnte Osteochondrose und
die Spondylose für die umschriebene Zeitspanne bei der Höherversicherung
vorbehalten werden.

    Entgegenkommenderweise hat die Kasse die Vorbehalte nur auf einen
Teil der Erhöhung des Spitalgeldes und der Spitalbehandlungskosten
beschränkt. Mit zutreffender Begründung... hat das kantonale
Versicherungsgericht dieses Vorgehen geschützt.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.