Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 V 100



98 V 100

28. Urteil vom 18. April 1972 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen
Glaser und Rekurskommission für die Ausgleichskassen Basel-Stadt Regeste

    Revision der Rente und der Hilflosenentschädigung.
   -  Bedeutung des Ausdruckes "für die Zukunft" in Art. 41 IVG.

    - Keine Anwendung des Art. 48 Abs. 2 IVG im Revisionsfalle.

Sachverhalt

    A.- Der am 18. Oktober 1946 geborene, mongoloide Theodor Glaser bezieht
seit 4. November 1966 eine ganze Invalidenrente und die einer Hilflosigkeit
leichteren Grades entsprechende Hilflosenentschädigung. Gestützt auf einen
Bericht der Pro Infirmis vom 23. März 1971 wurde die Hilflosenentschädigung
unter Annahme einer Hilflosigkeit schweren Grades erhöht und gemäss Art. 48
Abs. 2 IVG rückwirkend ab 1. März 1970 ausgerichtet. Die entsprechende
Kassenverfügung datiert vom 21. Juli 1971.

    B.- Die Mutter des Versicherten verlangte beschwerdeweise Nachzahlung
der maximalen Hilflosenentschädigung seit Beginn des Anspruches, also ab
1960, und nicht erst ab 1. März 1970, da ihr Sohn von jeher in schwerem
Grade hilflos gewesen sei.

    Die zuständige Invalidenversicherungs-Kommission beantragte unter
Hinweis auf die rechtskräftige Verfügung vom 25. Januar 1967, wonach eine
Hilflosenentschädigung von einem Drittel ab November 1966 zugesprochen
worden sei, Abweisung des Rekurses. Die sinngemässe Anwendung von Art. 48
Abs. 2 IVG stelle "das äusserste Entgegenkommen" dar.

    Die kantonale Rekurskommission Basel-Stadt wies die Beschwerde in
Bestätigung der angefochtenen Kassenverfügung mit Entscheid vom 4. November
1971 ab.

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung führt gegen diesen
Rekursentscheid Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt: Aufhebung des
angefochtenen Entscheides und der Kassenverfügung; Zusprechungder einer
Hilflosigkeit schweren Grades entsprechenden Entschädigung ab 1. März
1971; Rückweisung der Akten an die Invalidenversicherungs-Kommission zur
Überprüfung der Verfügung vom 25. Januar 1967 "unter dem Blickwinkel der
Wiedererwägung". Auf die Beschwerdebegründung ist in den nachfolgenden
Erwägungen zurückzukommen.

    Weder die Vorinstanz noch der Beschwerdegegner haben sich zur
bundesamtlichen Beschwerde vernehmen lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- ... (Kognition).

Erwägung 2

    2.- Die Hilflosigkeit schweren Grades und der Anspruch des
Beschwerdegegners auf die entsprechende Entschädigung sind zu
Recht unbestritten. Zu entscheiden ist ausschliesslich die Frage
des Anspruchsbeginns. Hiefür ist vorerst in tatsächlicher Hinsicht
festzuhalten, dassdieder Hilflosigkeit schweren Grades entsprechende
Entschädigung im vorliegenden Fall eine solche für Hilflosigkeit
leichteren Grades abzulösen hat. Der materielle Rechtsgrund der höheren
Leistung liegt demnach in der Zunahme der schon bisher vorhanden gewesenen
Hilflosigkeit. Formell betrachtet, handelt es sich mithin um eine Revision
der bisher gemäss einer Hilflosigkeit leichteren Grades ausgerichteten
Hilflosenentschädigung. Laut Art. 38 Abs. 3 IVV finden die Art. 86 bis 88
der Vollziehungsverordnung Anwendung, wenn sich der Grad der Hilflosigkeit
in erheblicher Weise ändert. Die genannten Bestimmungen regeln die Revision
der Renten in Ausführung des Art. 41 IVG und gelten sinngemäss für die
Revision der Hilflosenentschädigung (Art. 86 IVV).

Erwägung 3

    3.- a) Ändert sich der Grad der Invalidität des Rentenbezügers in einer
für den Anspruch erheblichen Weise, so ist die Rente gemäss Art. 41 IVG für
die Zukunft entsprechend zu erhöhen, herabzusetzen oder aufzuheben. Die
Revision erfolgt von Amtes wegen oder auf Gesuch hin (Art. 87 Abs. 1
IVV). Ergibt das Revisionsverfahren eine erhebliche Änderung des
Hilflosigkeitsgrades, so ist die Entschädigung in der Regel, das heisst
im Falle der Revision von Amtes wegen, vom Erlass der Verfügung an neu
festzusetzen (Art. 88bis Abs. 1 IVV). Wird dagegen einemRevisionsgesuch
entsprochen, so ist die Hilflosenentschädigung gemäss Art. 88bis Abs. 3
IVV von dessen Einreichung an zu erhöhen. Diese Bestimmungen umschreiben
sachgerecht die Wendung "für die Zukunft" im erwähnten Gesetzesartikel
und wurden deshalb in der Praxis stets als gesetzeskonform betrachtet.

    b) Unter dem Titel "Verschiedene Bestimmungen" sieht Art. 48 Abs. 2
IVG die Nachzahlung von Leistungen für die 12 der Anmeldung vorangehenden
Monate vor, wenn sich ein Versicherter mehr als 12 Monate nach Entstehung
des Anspruches anmeldet. Diese Bestimmung haben die verfügende Verwaltung
und die Vorinstanz auch im Rahmen des vorliegenden Revisionsverfahrens
angewendet; dagegen richtet sich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des
Bundesamtes für Sozialversicherung.

Erwägung 4

    4.- Schon die Systematik des Gesetzes spricht gegen die Anwendung des
Art. 48 IVG innerhalb eines Revisionsverfahrens. Während die Revision
in der letzten Ziffer unter dem Titel "Die Renten" geregelt ist,
steht Art. 48 mit dem Marginale "Nachzahlung von Leistungen" im Titel
"Verschiedene Bestimmungen". Auch in der Vollziehungs-Verordnung sind
die beiden Gesetzesbestimmungen gesondert unter verschiedenen Titeln
ausgestaltet worden. Mithin sind also die Wirkungen der erstmaligen
Anmeldung für den Bezug einer bestimmten Leistung der Invalidenversicherung
und jene der Revision einer laufenden Geldleistung wegen Änderung
in den tatsächlichen Verhältnissen verschieden geregelt. Art. 48
Abs. 2 IVG statuiert mit der auf 12 Monate befristeten Rückwirkung des
Leistungsanspruchs eine Ausnahme vom Grundsatz, dass Rechtsunkenntnis
bzw. Unkenntnis eines anspruchsbegründenden Sachverhaltes schadet; diese
Ausnahme ist im gesetzlichen Rahmen, beschränkt auf den Fall verspäteter
Anmeldung nach erstmaliger Anspruchsentstehung, gerechtfertigt. Wie
das Bundesamt zutreffend bemerkt, hat dieser Gedanke im Revisionsfalle
wegen der Hinweise in der Leistungsverfügung nicht mehr die gleiche
Berechtigung. Jedenfalls aber entspricht die unterschiedliche Behandlung
des erstmaligen Leistungsbezügers gegenüber dem Revisionsgesuchsteller der
geltenden rechtlichen Ordnung; denn Art. 41 IVG lässt die Rentenrevision
ausdrücklichnur"fürdieZukunft" zu, alsogemäss Art. 88bis Abs. 1 und 3
IVV sinnvollerweise nur vom Datum der Rentenverfügung (Revision von
Amtes wegen) oder von der Gesuchseinreichung an (Gutheissung eines
Revisionsgesuches). Wären die Leistungen im Revisionsfalle generell mit
Wirkung von der erheblichen Gradänderung hinweg zu ändern und müsste
für die Bestimmung des genauen Zeitpunktes Art. 48 Abs. 2 herangezogen
werden, so verlöredie Wendung "für die Zukunft" (Art. 41 IVG) ihren
Sinn, weil es sich von selbst versteht, dass eine Revision frühestens
von der Gradänderung weg in die Zukunft wirksam werden kann; überdies
wäre Art. 88bis IVV weitgehend gegenstandslos.

    Nach dem Gesagten ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des
Bundesamtes in Aufhebung des kantonalen Rekursentscheides und
der angefochtenen Kassenverfügung gutzuheissen; gestützt auf das
durchgeführte Revisionsverfahren steht dem Beschwerdegegner gemäss
Art. 88bis Abs. 3 IVV die einer Hilflosigkeit schweren Grades entsprechende
Hilflosenentschädigung erst ab März 1971 zu.

Erwägung 5

    5.- Wie in der Beschwerdebegründung ausgeführt wird, ist es eine
andere Frage, ob die Verfügung vom 25. Januar 1967 richtig ist.

    In rechtlicher Hinsicht ist in diesem Zusammenhang folgendes
zu beachten: Die dargelegte Ordnung über die Revision von Renten
bzw. Hilflosenentschädigungen wird ergänzt durch den Grundsatz, dass die
Verwaltung befugt ist, eine (formell) rechtskräftige Verfügung jederzeit
von Amtes wegen abzuändern, wenn sie sich als zweifellos unrichtig
erweist und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Da dieser
Grundsatz den Revisionsbestimmungen vorgeht, kann eine Rente allenfalls
unter diesem Gesichtspunkt erhöht, herabgesetzt oder gar aufgehoben
werden, auch wenn die Voraussetzungen einer Revision gemäss Art. 41 IVG
fehlen (EVGE 1966 S. 56/57, 1963 S. 84 = ZAK 1963 S. 295, 1964 S. 433,
nicht veröffentlichte Urteile i.S. Egloff vom 19. Januar 1972, i.S.
Niederberger vom 10. Dezember 1971 und i.S. Briw vom 11. November 1971).

    In tatsächlicher Hinsicht ist dem Bundesamt darin beizupflichten,
dass auf Grund der heutigen Aktenlage nicht beurteilt werden kann, ob
die Voraussetzungen für das Zurückkommen auf die fragliche Verfügung
von 1967 gemäss der dargelegten Rechtsprechung gegeben wären. Die
Invalidenversicherungs-Kommission wird deshalb vorerst ergänzende
Abklärungen durchführen und gegebenenfalls neu beschliessen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: I. Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen.

    II.  Es wird festgestellt, dass der Beschwerdegegner ab 1. März
1971 Anspruch auf die einer Hilflosigkeit schweren Grades entsprechende
Hilflosenentschädigung hat.