Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 IV 73



98 IV 73

14. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 15. Mai 1972 i.S. Stierli
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Regeste

    Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 StGB; Zuständigkeit zum Widerruf des bedingten
Strafvollzuges.

    1.  Der Grundsatz der Nichtrückwirkung des Strafgesetzes gilt nicht
für Verfahrens- und Gerichtsstandsbestimmungen.

    2.  Ausnahmen von dieser Regel.

Sachverhalt

    A.- Am 17. August 1967 verurteilte das Bezirksgericht Bremgarten
Oskar und Roman Stierli wegen Nötigung und Nötigung zu unzüchtigen
Handlungen zu je drei Monaten Gefängnis. Es gewährte den Verurteilten den
bedingten Strafvollzug und setzte ihnen eine Probezeit von drei Jahren an.
Das Urteil wurde aufgrund einer Bewährungsmeldung am 4. Februar 1971
im Strafregister gelöscht. Zuvor, am 26. Februar 1970, hatten indessen
Oskar und Roman Stierli vor Verwaltungsgericht des Kantons Aargau
falsches Zeugnis abgelegt, wofür sie am 16. Juni 1971 vom Bezirksgericht
Aarau mit je zwei Monaten Gefängnis, bedingt aufgeschoben auf 3 Jahre,
bestraft wurden.

    B.- Am 11. November 1971 widerrief das Bezirksgericht Bremgarten den
den Verurteilten am 17. August 1967 gewährten bedingten Strafvollzug und
ordnete die Aufhebung der Löschung des Urteils im Strafregister an.

    Die von beiden Betroffenen beim Obergericht des Kantons Aargau hiegegen
eingereichte Berufung wurde von diesem mit Urteil vom 18. Februar 1972
abgewiesen.

    C.- Oskar und Roman Stierli führen in getrennten Eingaben
Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, der Entscheid des Bezirksgerichtes
Bremgarten vom 11. November 1971 sei aufzuheben, die seinerzeit bedingt
aufgeschobene Strafe sei nicht mehr zu vollziehen und die Löschung des
Strafurteils im Strafregister sei nicht aufzuheben.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau hat sich mit dem Antrag
auf Abweisung der Beschwerden vernehmen lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- ...

Erwägung 2

    2.- Nach der am 1. Juli 1971 in Kraft getretenen neuen Fassung des Art.
41 Ziff. 3 Abs. 3 erster Satz StGB entscheidet bei Verbrechen oder Vergehen
während der Probezeit der dafür zuständige Richter auch über den Vollzug
der bedingt aufgeschobenen Strafe oder deren Ersatz durch die vorgesehenen
Massnahmen. Demgegenüber war nach der früheren Ordnung das Gericht,
das den bedingten Strafvollzug gewährt hatte, zum Widerruf zuständig,
und dies selbst dann, wenn ein während der Probezeit ausserhalb seines
Bereichs verübtes Verbrechen oder Vergehen den Grund dazu bildete. Diese
Regelung hatte sich aus praktischen Gründen als unzweckmässig erwiesen,
indem es wiederholt vorkam, dass der für den Widerruf zuständige Richter
erst nach Jahren vom neuen Delikt Kenntnis erhielt und seinen Entscheid
ausschliesslich auf Akten stützen musste. Deswegen hatte bereits der
Entwurf des Bundesrates vorgesehen, dass der Richter, der das neue Delikt
zu beurteilen hat, auch die Frage der Anordnung des Vollzuges der früheren
Strafe entscheiden soll (s. GERMANN, Grundzüge der Partialrevision des
schweiz. StGB durch das Gesetz vom 18.3.1971, in ZStR 1971, S. 350).

    Im vorliegenden Fall hat das Obergericht jene neue
Zuständigkeitsbestimmung für anwendbar erachtet und entsprechend
angenommen, dass über den Widerruf des dem Beschwerdeführer seinerzeit
vom Bezirksgericht Bremgarten gewährten bedingten Strafvollzuges nicht
dieses Gericht, sondern das Bezirksgericht Aarau hätte befinden müssen. Es
hat dabei richtig erkannt, dass das Prinzip der Nichtrückwirkung des
Strafgesetzes für Verfahrens- und Gerichtsstandsbestimmungen nicht gilt
(BGE 68 IV 62, 69 IV 138, 70 IV 88), diese vielmehr grundsätzlich mit dem
Tage ihres Inkrafttretens sofort und in vollem Umfang anwendbar werden
(s. GERMANN, Textausgabe, S. 8; SCHULTZ, Dreissig Jahre schweizer. StGB,
in ZStR 1972, S. 15). Auch hat es nicht übersehen, dass diese Regel
nicht uneingeschränkt gilt und Ausnahmen denkbar sind. Eine solche wird
von SCHWANDER bezüglich Verfahrensvorschriften angenommen, die bloss
im Hinblick auf Bestimmungen des neuen Rechts erlassen worden sind und
die naturgemäss die Anwendung des Bundesstrafrechts, auf das sie Bezug
haben, voraussetzen. Der genannte Autor zitiert als Beispiel hiefür die
Zuständigkeit des Richters zum Widerruf des bedingten Strafvollzuges
nach Art. 41 Ziff. 3 StGB (Das Schweizerische StGB. 2. Auflage, S. 34
Nr. 64). Wie jedoch die Vorinstanz zutreffend bemerkt, hat SCHWANDER
dabei offensichtlich den Fall im Auge gehabt, wo die Zuständigkeit im
Zusammenhang steht mit einer von Grund auf neuen Ordnung des materiellen
Rechts. Tatsächlich kann denn auch das von ihm bereits in der ersten
Auflage seines Werkes von 1952 angeführte Beispiel nicht auf die neue am
1. Juli 1971 in Kraft getretene Vorschrift des Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3
StGB Bezug haben, sondern ist im Zusammenhang zu sehen mit der durch
das StGB von 1942 eingeführten Ordnung, die sich - was den bedingten
Strafvollzug anbelangt - zum Teil erheblich von den früheren kantonalen
Rechten unterschied. Eine solche grundlegende Änderung in der materiellen
Rechtslage hat jedoch die letzte Revision des Art. 41 StGB gegenüber
der Fassung von 1950 nicht gebracht, so dass für die Vorinstanz kein
Anlass bestand, aus solchem Grunde auf die frühere Zuständigkeitsordnung
zurückzugreifen.

    Dagegen hat das Obergericht die Tragweite eines andern Umstandes
verkannt, der ihm im vorliegenden Fall die Anwendbarkeit dieser Ordnung
hätte nahelegen sollen. Wie sich nämlich aus seinem Entscheid ergibt,
ist die vom Beschwerdeführer während der Probezeit begangene Straftat
vom Bezirksgericht Aarau schon am 16. Juni 1971 beurteilt worden. Im
Zeitpunkt, als der revidierte Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 StGB in Kraft
trat, war demnach das Verfahren wegen des neuen Deliktes bereits
abgeschlossen, und es konnte die durch das neue Recht angestrebte
Prozessökonomie, nämlich die unmittelbare Folge von Strafurteil und
Widerruf nicht mehr erreicht werden, was die ausnahmsweise Anwendung des
alten Rechtes begründete (SCHULTZ, op.cit. S. 15 Anm. 44 a; BJM 1971,
S. 288). Nach diesem aber war das Bezirksgericht Bremgarten zuständig
zum Widerruf des bedingten Strafvollzuges. Da indessen das Obergericht
trotz dem ihm in der Zuständigkeitsfrage unterlaufenen Irrtum von einer
Aufhebung des Entscheides des Bezirksgerichtes Bremgarten aus Gründen
der Zweckmässigkeit abgesehen und darauf abgestellt hat, kann es beim
angefochtenen Urteil sein Bewenden haben, und es ist die Beschwerde, mit
welcher die Unzuständigkeit des genannten Bezirksgerichtes gerügt wird,
insoweit als unbegründet abzuweisen.