Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 IV 305



98 IV 305

59. Urteil des Kassationshofes vom 14. November 1972 i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen. Regeste

    1. Art. 274 BStP.

    Die kantonale Instanz darf mit den von ihr angebrachten
Gegenbemerkungen weder fehlende Urteilsgründe ersetzen noch vorhandene
Erwägungen ihres Entscheides ergänzen (Erw. 1).

    2. Art. 64 Abs. 5 StGB. Tätige Reue.

    Aufrichtige Reue verlangt vom Täter ein Verhalten, das eine
besondere Anstrengung darstellt und deutlich mit dem beurteilten Delikt
in Zusammenhang steht, als durch dieses veranlasst erscheint und nicht
bloss auf taktischen Gründen beruht (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Am 19. Januar 1972 verurteilte das Kantonsgericht Schaffhausen
X. wegen fortgesetzter und wiederholter Widerhandlung gegen das
Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und wegen Diebstahls im Betrag
von DM 20.- zu einer bedingt aufgeschobenen Gefängnisstrafe von 50 Tagen.

    X. focht dieses Urteil mit der Berufung an das Obergericht des
Kantons Schaffhausen an, wobei er u.a. geltend machte, es sei als tätige
Reue strafmildernd zu bewerten, dass er seit einem Jahr als Mitgleid der
"Hydra" drogenfrei lebe und nun sein Dasein unter Verzicht auf erhebliche
ökonomische Vorteile und finanziellen Erfolg als Berufsarbeiter in den
Kampf gegen die Droge gestellt habe.

    Am 2. Juni 1972 bestätigte das Obergericht den erstinstanzlichen
Entscheid. Es verneinte dabei das Vorliegen tätiger Reue mit der
Begründung, dass diese nach Art. 22 Abs. 2 StGB nur gegeben sei, wenn
der Täter aus eigenem Antrieb zum Nichteintritt des Erfolgs beigetragen
oder den Eintritt des Erfolgs verhindert habe. Letzteres bedeute aber,
dass der Täter den Erfolg seiner deliktischen Tätigkeit verhindert haben
müsse. Auf X. treffe das nicht zu. Den Schaden, den er bei seinen jungen
Kollegen verursacht habe, indem er sie zum Drogenkonsum verleitete und
möglicherweise in die Drogenabhängigkeit geführt habe, könne er an diesen
Geschädigten nicht gutmachen. Von tätiger Reue könne deshalb nicht die
Rede sein.

    B.- Mit Nichtigkeitsbeschwerde wirft X. dem Obergericht vor, es habe
zu Unrecht unter Hinweis auf Art. 22 Abs. 2 StGB angenommen, tätige
Reue liege nur vor, wenn jemand aus eigenem Antrieb zum Nichteintritt
des Erfolgs beigetragen oder den Eintritt des Erfolgs verhindert habe;
diese Auffassung sei zu eng und gehe aus vom unvollendeten Delikt (Art. 22
StGB); er habe jedoch die Anwendung von Art. 64 StGB verlangt; auch in der
mündlichen Eröffnung habe der Präsident des Obergerichtes Gewicht darauf
gelegt, dass der Beschwerdeführer nicht aus eigenem Antrieb gehandelt habe;
darauf komme jedoch nach Art. 64 StGB nichts an; im übrigen bekunde ein
junger, schwer drogenabhängiger Mann, der sich aufraffe, ohne Drogen zu
leben, und sich einer Organisation im Kampf gegen die verbotenen Drogen
zur Verfügung stelle, tätige Reue.

    Mit Eingabe vom 17. Oktober 1972 teilte das Obergericht dem
Bundesgericht mit, dass bei der Urteilsredaktion ein Versehen unterlaufen
sei, das es im Sinne einer Erläuterung folgendermassen richtigstellen
wolle: Der Anwalt des Beschwerdeführers habe im kantonalen Verfahren
den Strafmilderungsgrund der tätigen Reue nach Art. 64 StGB angerufen,
und das Obergericht habe bei der Urteilsberatung geprüft, ob das
Verhalten von X. nach Vollendung der Rauschgiftdelikte die Anwendung des
Strafmilderungsgrundes der tätigen Reue zu rechtfertigen vermöge. Die
Frage sei verneint worden, weil die vom Beschwerdeführer behauptete
Drogenabstinenz als solche keine tätige Reue darstelle. Die ebenfalls
geltend gemachte Mitarbeit im "Sozialpädagogischen Kollektiv der Hydra"
habe es nach Art. 64 StGB ebenfalls nicht berücksichtigen können,
da keinerlei konkrete Angaben über die Bekämpfung des Drogenkonsums
vorgebracht und glaubhaft gemacht worden seien.

    Am 25. Oktober 1972 ersuchte der Beschwerdeführer das Bundesgericht,
auf die Eingabe des Obergerichtes vom 17.Oktober 1972 nicht
einzutreten. Nach der Schaffhauser StPO bestehe keine Möglichkeit,
ein Urteil zu erläutern. Der Brief sei im übrigen ausser durch den
Obergerichtspräsidenten durch den Obergerichtsschreiber unterzeichnet
worden, der jedoch an der Berufungsverhandlung, der Urteilsberatung und
der mündlichen Urteilseröffnung nicht zugegen gewesen sei und deshalb auch
nicht bestätigen könne, dass der ad hoc beigezogenen Urteilsredaktorin
ein Redaktionsversehen unterlaufen sei. Zudem bestehe ein erheblicher
Widerspruch zwischen der mündlichen Eröffnung und dem Schreiben vom
17. Oktober 1972.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen beantragt Abweisung
der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Zur Entscheidung der Frage, ob die in der Eingabe des Obergerichtes
vom 17. Oktober 1972 enthaltenen Vorbringen bei der Urteilsfindung durch
den Kassationshof berücksichtigt werden dürfen oder nicht, ist davon
auszugehen, dass Art. 274 BStP der kantonalen Instanz das Recht einräumt,
Gegenbemerkungen zur Beschwerde einzureichen. Wie jedoch das Bundesgericht
schon bei früherer Gelegenheit entschieden hat, können durch diese
Gegenbemerkungen weder fehlende Urteilsgründe ersetzt noch die vorhandenen
Erwägungen ergänzt werden. Die Parteien müssen nach Art. 272 Abs. 2 BStP
an Hand der ihnen mitgeteilten Begründung zum Entscheid Stellung nehmen
können, um darnach gemäss Art. 273 Abs. 1 BStP ihren Antrag zu stellen
und diesen zu begründen, d.h. anzugeben, welche Punkte des Entscheides
angefochten werden und welche Bundesrechtssätze und inwiefern sie verletzt
seien (nicht veröffentlichtes Urteil des Kassationshofes vom 23. Dezember
1958 i.S. Engeli). Was das Obergericht im vorliegenden Fall in seinen
- übrigens nicht gleichzeitig mit der Beschwerde und ihrem Entscheid
(Art. 274 BStP), sondern erst nachträglich - eingesandten Gegenbemerkungen
ausführt, geht über den Rahmen blosser Erläuterungen der im Urteil
enthaltenen Gründe hinaus. Die Vorinstanz macht geltend, sie sei in der
Urteilsberatung zu einer Verneinung des Strafmilderungsgrundes gelangt,
weil sie die von der Verteidigung behauptete Drogenabstinenz als solche
schon nicht als tätige Reue gemäss Art. 64 StGB gewertet habe. Auch habe
sie die Mitarbeit von X. im "Sozialpädagogischen Kollektiv der Hydra"
nicht als tätige Reue anerkennen können, weil keine konkreten Angaben
über die Bekämpfung des Drogenkonsums vorgebracht und glaubhaft gemacht
worden seien. Hievon ist jedoch im angefochtenen Urteil, das eine ganz
andere Begründung enthält, mit keinem Wort die Rede. Diese in der Eingabe
des Obergerichtes vom 17. Oktober 1972 enthaltenen Vorbringen müssen
deshalb unbeachtet bleiben. Anders kann es sich dagegen bezüglich der
Behauptung verhalten, es sei bei der Zitierung einer Gesetzesbestimmung
ein Versehen unterlaufen. Soweit es sich dabei um einen Hinweis auf einen
offensichtlichen Verschrieb handelt, hat die Rechtsprechung ihn bis anhin
berücksichtigt. Ob im vorliegenden Fall dem Vorbringen der Vorinstanz
dieser Charakter zukommt, wird im Zusammenhang mit der Überprüfung der
im angefochtenen Urteil enthaltenen Begründung zu entscheiden sein. Unter
Vorbehalt der Annahme eines solchen Versehens wird daher der Kassationshof
nach dem Gesagten aufgrund der Erwägungen zu entscheiden haben, die im
angefochtenen Urteil selber enthalten sind.

Erwägung 2

    2.- Aus dem angefochtenen Urteil ergibt sich, dass der Beschwerdeführer
im Verfahren vor Obergericht den Strafmilderungsgrund der aufrichtigen
Reue geltend gemacht und sich dabei auf sein Verhalten nach der Tat
berufen hat. Da er vom Obergericht nur wegen vollendeter Delikte
verurteilt worden ist, können die Erwägungen der Vorinstanz, die sich
mit jenen Vorbringen von X. befassen, an sich vernünftigerweise auch
nur den Strafmilderungsgrund im Sinne des Art. 64 Abs. 5 StGB zum
Gegenstand haben. Das gilt zweifellos für die Erwägung auf Seite 12
des Urteils, wo das Obergericht feststellt, der Beschwerdeführer habe
zur Begründung seines Antrags "auf eine Reduktion der vom Kantonsgericht
ausgesprochenen Strafe im Sinne einer Strafmilderung gemäss Art. 22 StGB"
seine tätige Reue angeführt. Hier liegt in der Zitierung des Art. 22
StGB ein offensichtliches Versehen, das ohne weiteres berichtigt werden
kann. Dagegen muss der auf Seite 13 des angefochtenen Urteils enthaltene
Hinweis auf Art. 22 Abs. 2 StGB nicht notwendig als Versehen bewertet
werden. Vielmehr könnte er nach dem Zusammenhang auch dahin verstanden
werden, dass dieVorinstanz zur Auslegung von Art. 64 Abs. 5 StGB die
Bestimmung des Art. 22 Abs. 2 StGB hatte heranziehen wollen. Wie es sich
damit tatsächlich verhält, braucht indessen nicht entschieden zu werden,
weil die Begründung der Vorinstanz in keinem Fall standhält. So gehen
die rechtlichen Erwägungen in diesem Punkte an der Tatsache vorbei,
dass Art. 64 Abs. 5 StGB anders als Art. 22 Abs. 2 StGB bloss von
der Betätigung aufrichtiger Reue spricht, ohne ein Handeln aus eigenem
Antrieb zu verlangen. Wohl hat der Kassationshof in BGE 73 IV 160 Erw. 2
als Beispiel aufrichtiger Reue u.a. das Verhalten des Diebes erwähnt,
der dem Bestohlenen die Sache "aus eigenem Antrieb" zurückbringt. Damit
wollte jedoch nicht für alle Fälle der eigene, innere Antrieb des Handelns
als zwingende Voraussetzung aufrichtiger Reue bezeichnet werden. In der
Regel wird hierin zwar ein entscheidendes Merkmal reuigen Verhaltens
zu erblicken sein. Je nach den Umständen des Falles kann indessen
aufrichtige Reue auch der Täter bekunden, der von dritter Seite dazu
veranlasst worden ist (nicht veröffentlichtes Urteil des Kassationshofes
i.S. Schuppli vom 11. März 1970). Des weiteren verkennt der angefochtene
Entscheid, dass Art. 64 Abs. 5 StGB von der Vollendung der Tat ausgeht
und daher nicht die Verhinderung des Erfolgs der eigenen deliktischen
Tätigkeit voraussetzt. Auch verlangt die genannte Bestimmung nicht,
dass aufrichtige Reue in jedem Fall durch Wiedergutmachung des gerade dem
Geschädigten zugefügten Schadens bekundet werden müsse. Soweit das Gesetz
die zumutbare Leistung von Schadenersatz erwähnt, geschieht dies im Sinne
eines Beispiels. Dieses ist zwar als Hinweis darauf zu werten, dass im
Regelfall der Täter seine aufrichtige Reue durch Wiedergutmachung des durch
die strafbare Handlung angerichteten Schadens bekunden muss. Wo solches
aber nicht möglich ist, bleibt nach Wortlaut und Sinn der Bestimmung
auch für eine andere Art reuigen Verhaltens Raum, das nicht unmittelbar
auf den Geschädigten Bezug haben muss. Voraussetzung ist bloss, dass
es deutlich mit dem beurteilten Delikt in Zusammenhang steht, als durch
dieses veranlasst erscheint und nicht bloss auf taktischen Gründen beruht;
denn aufrichtige Reue verlangt vom Täter eine besondere Anstrengung, zu
der er sich nicht nur vorübergehend und unter dem Druck eines drohenden
oder hängigen Strafverfahrens herbeilässt (BGE 96 IV 110). Es ist deshalb
denkbar, dass ein Motorfahrzeugführer, der in angetrunkenem Zustand einen
Fussgänger, der keine näheren Angehörigen hatte, überfahren und getötet
hat, seine Reue über die Tat dadurch bekundet, dass er sich nicht nur
zur Abstinenz verpflichtet - was nach Art. 64 Abs. 5 StGB nicht genügen
würde -, sondern überdies seine Kräfte unter Erbringung persönlicher Opfer
für längere Zeit einer Organisation zur Verfügung stellt, die sich die
Betreuung und Resozialisierung von Alkoholikern zur Aufgabe gemacht hat.

    Im vorliegenden Fall hat die Vorinstanz aufrichtige Reue verneint,
weil der Beschwerdeführer den Schaden, den er bei seinen jungen Kollegen
verursacht habe, indem er sie zum Drogenkonsum verleitet und möglicherweise
in die Drogenabhängigkeit geführt habe, an diesen Geschädigten nicht
gutmachen könne. Diese Unmöglichkeit schliesst nach dem Gesagten die
Bekundung aufrichtiger Reue nicht zum vorne herein aus. Die Vorinstanz
durfte deshalb in ihrem Urteil über das Vorbringen des Beschwerdeführers
nicht hinweggehen, wonach dieser seit einem Jahr drogenfrei gelebt
und unter Verzicht auf ein einträgliches Einkommen seine ganze
Existenz als Mitglied der "Hydra" in den Kampfgegen die Droge gestellt
habe. Denn ähnlich wie in dem zuvor erwähnten Beispiel des angetrunkenen
Motorfahrzeugführers wird man auch im Fall eines drogensüchtigen Täters,
der andere zum Drogenkonsum veranlasst hat, als Betätigung aufrichtiger
Reue gelten lassen m üssen, wenn er aus innerer Umkehr und nicht bloss aus
taktischen Gründen sich während längerer Dauer von den Drogen abgewendet
hat und ernsthaft am Kampf gegen den Drogenmissbrauch teilnimmt. Dabei
genügt freilich nicht schon der Anschluss an irgend eine Organisation,
die vorgibt, Drogensüchtige von ihrem Übel befreien und einer gesunden
Lebensweise zuführen zu wollen. Ein solches Unternehmen muss das Vertrauen
verdienen, das angegebene Ziel ernsthaft anzustreben. Entscheidend ist
aber in jedem Fall das Verhalten des Täters selbst. Leistet er unter
eigenen Opfern während längerer Zeit nützliche Arbeit in der Bekämpfung
der Drogensucht und bekundet er damit seine Reue über die begangene Tat,
dann steht der Annahme des Milderungsgrundes von Art. 64 Abs. 5 StGB
nichts im Wege.

    Da sich aus dem angefochtenen Urteil nicht ergibt, wie es sich
diesbezüglich im vorliegenden Fall verhalten hat, ist die Sache an die
Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie die Frage der aufrichtigen Reue im
Sinne der vorgenannten Erwägungen prüfe. Sollte sie dabei zum Ergebnis
gelangen, dass der Beschwerdeführer durch sein Verhalten nach der Tat
aufrichtige Reue bekundet hat, so wäre sie deswegen noch nicht ohne
weiteres zur Herabsetzung der Strafe nach Art. 65 StGB verpflichtet. Denn
Art. 64 StGB stellt es ins Ermessen des Sachrichters, ob er bei Vorliegen
gewisser in dieser Bestimmung aufgezählter Voraussetzungen die Strafe
mildern will (BGE 97 IV 81).

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 2. Juni 1972 aufgehoben und
die Sache zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz
zurückgewiesen.