Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 IV 289



98 IV 289

57. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 15. Dezember 1972
i.S. Dürst gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden. Regeste

    Art. 91 Abs. 1 SVG; Fahren in angetrunkenem Zustand.

    1.  Bei der Ermittlung der Angetrunkenheit stellt der Wert von 0,8
Gewichtspromille Alkohol im Blut keine absolute Grenze nach unten dar.

    2.  Krankheit, Übermüdung oder bestimmte Heilmittel können die
Alkoholverträglichkeit herabsetzen, so dass ein Blutalkoholgehalt ab
0,5 Gewichtspromille etwa eine Angetrunkenheit im Sinne des Gesetzes zu
bewirken vermag.

Sachverhalt

    A.- Hans Gerhard Dürst wurde am 3. November 1965 wegen Fahrens
in angetrunkenem Zustand mit einer Busse von Fr. 200.-- bestraft. Am
22. November 1967 erkannte das Bezirksgericht Zürich ihn des gleichen
Deliktes schuldig und bestrafte ihn mit 28 Tagen Gefängnis; diese Strafe
hat Dürst verbüsst.

    Am 6. Juni 1971 wurde er erneut gemäss Art. 91 Abs. 1 SVG
rückfällig. An diesem Morgen fuhr er mit seinem Wagen von Ascona nach
Kesswil (TG). Um ca. 20.00 Uhr trat er die Rückfahrt über Buchs nach Chur
an, nachdem er tagsüber mehrmals alkoholische Getränke zu sich genommen
hatte. Den letzten Alkoholgenuss gab er zunächst für 16.00 Uhr an; später
behauptete er, bis kurz vor 20.00 Uhr mit Freunden Alkohol und hernach
um 22.00 Uhr nochmals einen Gin-Tonic getrunken zu haben.

    Da Dürst auf der Reise nach Chur im Zick-Zack und zeitweise sogar
über die Mittellinie hinaus fuhr und weil er dabei trotz Gegenverkehrs
das Vollicht eingeschaltet hatte, erstatteten hinter ihm herfahrende
Automobilisten in Chur Anzeige. Die Polizei veranlasste um 24.00 Uhr eine
Blutprobe. die für diesen Zeitpunkt bei Dürst noch einen Alkoholgehalt
von 0,65 Gewichtspromille ergab.

    B.- Am 17. August 1972 wurde Dürst vom Kreisgerichtsausschuss
Chur des vorsätzlichen Führens eines Motorfahrzeuges in angetrunkenem
Zustand sowie der Verletzung von Verkehrsregeln schuldig erklärt und zu
einer Gefängnisstrafe von 3 Monaten sowie einer Busse von Fr. 200.--
verurteilt. Eine von Dürst gegen dieses Urteil erhobene Berufung wurde
vom Kantonsgerichtsausschuss Graubünden mit Entscheid vom 20. September
1972 abgewiesen.

    C.- Dürst führt Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht mit
dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur
Freisprechung... an die kantonale Instanz zurückzuweisen.

    Die Staatsanwaltschaft hat sich mit dem Antrag auf Abweisung der
Beschwerde vernehmen lassen.

    D.- Der Kassationshof wies die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer macht geltend, seine Übermüdung wäre zwar
für die Abklärung einer allfälligen Nichtbeherrschung des Fahrzeuges
erheblich, könne aber für die Beurteilung seiner Angetrunkenheit,
die festgestelltermassen die 0,8 Promillegrenze nicht erreicht
hatte, nicht berücksichtigt werden. Wenn die Vorinstanz bei dieser
Blutalkoholkonzentration eines Automobilisten ein Fahren in angetrunkenem
Zustand annehme, verletze sie Art. 91 SVG.

    a) Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Motorfahrzeugführer dann
ohne jeden weitern Beweis als angetrunken im Sinne von Art. 91 Abs. 1
SVG zu betrachten, wenn der Alkoholgehalt in seinem Blut im Zeitpunkt
der kritischen Fahrt 0,8 Gewichtspromille oder mehr betragen hat. Doch
wurde von jeher betont, dass dieser Satz keine absolute Grenze nach
unten darstelle; vielmehr könne auch schon ein Alkoholgehalt im
Blut etwa von 0,5 Gewichtspromille an bei gleichzeitig wirksamen,
weitern Umständen (wie Krankheit, Übermüdung oder Beeinträchtigung
durch beruhigende Medikamente) Folgen zeitigen, wie sie bei gesunden,
ausgeruhten Menschen erst bei höheren Alkoholkonzentrationen auftreten
(BGE 90 IV 167 und 226/7). Wie das Bundesgericht in BGE 90 IV 162
E. 3 ausführte, können nämlich Krankheit, Übermüdung oder bestimmte
Heilmittel die Alkoholverträglichkeit vermindern. In solchem Zustand
ist ein Mensch - zufolge seines geschwächten Allgemeinbefindens - schon
bei einem Alkoholspiegel ab 0,5 Gewichtspromille "angetrunken" im Sinne
von Art. 91 Abs. 1 SVG (vgl. BUSSY/RUSCONI, Circulation routière, 1972,
S. 327 N. 2.3 c). Nach diesen Grundsätzen ist auch der vorliegende
Beschwerdefall zu beurteilen, ohne dass bereits zu der Frage Stellung
genommen werden muss, ob nicht allgemein der Grenzwert von 0,8 Promille
herabgesetzt werden sollte.

    b) Ursprünglich hatte der Beschwerdeführer erklärt, er habe nach
16.00 Uhr keinerlei alkoholische Getränke mehr zu sich genommen. Da die
ihm um 24.00 Uhr entnommene Blutprobe einen Alkoholgehalt im Blut von
0,65 Gewichtspromille ergeben hat, errechnete die Vorinstanz für den
auf ca. 20.00 Uhr fallenden Beginn der Rückfahrt des Beschwerdeführers
Richtung Chur einen Alkoholpegel von 1,05 Gewichtspromille in dessen
Blut. Dabei legte sie ihrer Rechnung den für Dürst günstigeren Abbausatz
von 0,1 Gewichtspromille pro Stunde zugrunde, während nach der allgemein
herrschenden Auffassung der stündliche Alkoholabbau im Blute eines
Menschen mit 0,15 Promille angesetzt wird (GRISEL, L'analyse du sang, in
Journal des Tribunaux, 106e année, IV, S. 140 Ziff. 3; GERCHOW/SCHNEBLE,
Alkohol im Strassenverkehr, S. 22). Würde letzterer Wert zugrunde gelegt,
so hätte der Alkoholgehalt im Blute des Beschwerdeführers zu Beginn
der kritischen Fahrt um ca. 20.00 Uhr mithin nicht bloss 1,05, sondern
1,25 Gewichtspromille betragen. Nach der ursprünglichen Darstellung des
Sachverhalts durch Dürst könnte also - wie die Vorinstanz zutreffend
festgestellt hat - in jedem dieser beiden Fälle schon aufgrund des
Alkoholspiegels an dessen Angetrunkenheit nicht gezweifelt werden,
ungeachtet einer weiteren Einwirkung durch Übermüdung oder Unwohlsein.

    c) Wollte man aber von der nachträglichen Schilderung des
Beschwerdeführers ausgehen, wonach dieser kurz vor Beginn der Fahrt
um ca. 20.00 Uhr Alkohol und um 22.00 Uhr zudem noch einen Gin-Tonic
zu sich genommen haben will, und würde man gestützt hierauf die
Alkoholkonzentration beim Beschwerdeführer auf der kritischen Fahrt
mit diesem auf "maximal 0,7 Gewichtspromille" annehmen, so müsste auch
aufgrund dieser Darstellung des Sachverhalts die Angetrunkenheit des
Beschwerdeführers bejaht werden, wie es die Vorinstanz subsidiär mit Fug
getan hat.

    Der Kantonsgerichtsausschuss geht nämlich - für den Kassationshof
bindend (Art. 277 bis Abs. 1 BStP) - davon aus, dass der Beschwerdeführer
in der Nacht vor der langen und anstrengenden Fahrt von Ascona nach Kesswil
und zurück bis nach Chur lediglich 2 Stunden geschlafen hatte; zudem habe
dieser noch "Tabletten" zu sich genommen. Dürst habe sich daher seiner
"bereits durch andere Umstände bewirkten Fahruntüchtigkeit bewusst sein"
müssen. Nach der oben angeführten Rechtsprechung war es keineswegs
bundesrechtswidrig, wenn die Vorinstanz der erheblichen Übermüdung
des Beschwerdeführers infolge des völlig ungenügenden Schlafes vor der
kritischen Fahrt als Begleitumstand zur festgestellten Alkoholisierung
Rechnung getragen hat. Wenn schon von einem Blutalkoholgehalt von 0,3
Gewichtspromille an eine bedeutende Beeinträchtigung des Automobilisten
in seiner Seh- und Reaktionsfähigkeit nachweisbar ist (GERCHOW/SCHNEBLE,
aaO S. 18; EDGAR JÖRG, Probleme der Alkohol-Verkehrsstraftat, S. 76/7;
vgl. dazu auch GERCHOW, Medizinische Grundlagen zur Frage Alkohol und
Fahrtüchtigkeit im Handbuch für den Verkehrsjuristen, S. 35), dann
kann nicht der geringste Zweifel darüber bestehen, dass bei einer
so empfindlichen Übermüdung des Fahrers die Alkoholisierung von 0,7
Gewichtspromille unvermeidlicherweise eine Angetrunkenheit im Sinne von
Art. 91 Abs. 1 SVG bewirkte. Das geht - wenn es dazu überhaupt noch eines
weitern Beweises bedürfte - im vorliegenden Falle denn auch deutlich aus
der verantwortungslosen und gefährlichen Fahrweise des Beschwerdeführers
hervor: Dieser fuhr verschiedenen zuverlässigen Zeugenaussagen zufolge
im Zick-Zack bald rechts, bald links in seiner Fahrbahnhälfte und
hat sogar des öftern die Mittel- und Sicherheitslinie überfahren. Der
Beschwerdeführer blendete trotz Gegenverkehrs auch seine Scheinwerfer
nicht ab; ferner fuhr er im auf 60 km/h Höchstgeschwindigkeit beschränkten
Innerortsbereich von Chur mit mindestens 80 km/h, nachdem er auf der
Autostrasse N 13 zuvor zeitweise unter 60 km/h gefahren war.