Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 IV 249



98 IV 249

50. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 6. Oktober 1972
i.S. Leutenegger gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB. Begriff des "leichten Falles".

    Ob ein während der Probezeit begangenes Verbrechen oder Vergehen
als leicht zu bewerten sei, hängt von der Gesamtheit der objektiven und
subjektiven Umstände des Falles ab.

Sachverhalt

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz begründet ihren Entscheid im wesentlichen damit,
dass die neue Verurteilung der Rekurrentin keinen "leichten Fall"
darstelle, wie ihn die am 1. Juli 1971 in Kraft getretene neue Fassung
des Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB verlangt, um vom Vollzug der bedingt
aufgeschobenen Strafe oder deren Ersatz durch Anordnung von Massnahmen
abzusehen. Die von der zürcherischen Staatsanwaltschaft in Anlehnung an
Art. 38 Ziff. 4 Abs. 1 StGB auf drei Monate Gefängnis angesetzte Grenze,
jenseits welcher in der Regel ein Widerruf des bedingten Strafvollzuges
unumgänglich sei, dürfte zu weit gesteckt sein. Richtiger erscheine es,
von einer Grenze von einem Monat Gefängnis auszugehen, bis zu welcher noch
ein leichter Fall angenommen werden könne. Bei höhern Gefängnisstrafen
müssten - damit vom Widerruf des bedingten Strafvollzugs nach Art. 41
Ziff. 3 Abs. 2 StGB Umgang genommen werden könne - aussergewöhnliche
Umstände vorliegen. Da in der vorliegenden Sache die ausgefällte neue
Strafe erheblich über 1 Monat Gefängnis liege, und die Verurteilte sich
nicht auf aussergewöhnliche Umstände berufen könne, sei die Anwendung
von Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB ausgeschlossen.

    Demgegenüber macht die Beschwerdeführerin geltend, mit der Grenzziehung
bei einem Monat Gefängnis habe die Vorinstanz ihr Ermessen überschritten.
Dies werde besonders deutlich, wenn man zum Vergleich Art. 38 Ziff. 4
StGB heranziehe. Nach dieser Bestimmung werde ein bedingt Entlassener
nämlich nur dann in den Strafvollzug zurückversetzt, wenn er während
der Probezeit eine strafbare Handlung begangen habe, für die er zu einer
drei Monate übersteigenden und unbedingt zu vollziehenden Freiheitsstrafe
verurteilt worden sei. Die am 14. Oktober 1971 ausgesprochen Strafe von
sechs Wochen Gefängnis sei aber um die Hälfte niedriger als eine solche
von drei Monaten, welche nach der vergleichbaren Bestimmung die Grenze
des leichten Falles für die Rückversetzung eines bedingt Entlassenen bilde.

Erwägung 3

    3.- a) Die vom Obergericht vorgenommene schematische Grenzziehung bei
1 Monat Gefängnis erscheint unbefriedigend. Einerseits lässt sie ausser
Betracht, dass in andern Kantonen nicht wie im Kanton Zürich die Mehrzahl
der ausgefällten Gefängnisstrafen einen Monat nicht übersteigt (SJZ 1972,
S. 143). Anderseits findet die von der Vorinstanz gewählte Richtlinie im
Wortlaut von Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB keine Stütze.

    b) Nach SCHULTZ ist stets ein leichter Fall anzunehmen, wenn die
Freiheitsstrafe 3 Monate nicht übersteigt oder erneut der bedingte
Strafvollzug zugebilligt wurde. Zu diesem Schluss führe der ebenfalls
neu gefasste Art. 38 Ziff. 4 Abs. 1 StGB; denn dieser ermögliche, von der
Rückversetzung eines bedingt aus dem Strafverhaft Entlassenen abzusehen,
wenn dieser während der ihm auferlegten Bewährungsfrist eine Straftat
verübt hat, für die er zu einer drei Monate nicht übersteigenden oder zu
einer bloss bedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe verurteilt worden ist
(SCHULTZ: ZStR 1972, S. 13). Derselben Meinung ist KURT, welcher ebenfalls
ausführt, dass eine unter drei Monaten liegende oder wiederum bedingt
ausgefällte neue Freiheitsstrafe die Annahme eines "leichten Falles" im
Sinne von Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB rechtfertige (KURT: Kriminalistik
1972, S. 158).

    Die von den genannten Autoren gezogene Abgrenzung hat zwar den
Vorteil, ein einfaches Unterscheidungsmerkmal für die Anwendbarkeit von
Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB an die Hand zu geben. Doch verträgt sich
die von ihnen vorgeschlagene Lösung nicht mit der Tatsache, dass die
erneute Gewährung des bedingten Strafvollzugs für sich allein den Fall
nicht unbedingt zum leichten macht. Da nach dem revidierten Art. 41
Ziff. 1 Abs. 1 StGB diese Rechtswohltat für Strafen bis zu 18 Monaten
Zuchthaus oder Gefängnis bewilligt werden kann, lässt sich nämlich nicht
sagen, dass die Zubilligung des bedingten Strafvollzugs Kriterium für die
Geringfügigkeit der Tat sei (BGE 83 IV 3, 93 IV 6/7). Sodann ist, entgegen
der Auffassung der genannten Autoren, auch eine Gefängnisstrafe von
weniger als drei Monaten nicht ohne weiteres ein Indiz für das Vorliegen
eines leichten Falles. Dass Art. 38 Ziff. 4 Abs. 1 StGB den Verzicht
auf eine Rückversetzung des bedingt Entlassenen ermöglicht, wenn er in
der Probezeit eine strafbare Handlung beging, für welche er zu weniger
als drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt wurde, berechtigt deshalb
noch nicht zum Schluss, dass der Gesetzgeber den Begriff des "leichten
Falles" im Sinne des Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB analog jener Vorschrift
habe verstanden wissen wollen. Wäre das wirklich seine Absicht gewesen,
so hätte er dies ohne weiteres im Gesetz deutlich zum Ausdruck gebracht,
zumal Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB gleichzeitig mit Art 38 Ziff. 4 Abs. 1
StGB geändert wurde. Es kann somit nicht gesagt werden, die verschiedene
Regelung der Art. 38 Ziff. 4 Abs. 1 und Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB sei
vom Gesetzgeber etwa übersehen worden.

    c) Ob ein während der Probezeit begangenes neues Verbrechen oder
Vergehen als "leicht" zu bewerten sei, hängt nach dem Gesagten also nicht
allein von der Art und Dauer der erneut ausgesprochenen Freiheitsstrafe
ab. Wenn diesem Kriterium bei der Würdigung des Falles auch Rechnung
zu tragen ist, so sind daneben aber auch alle übrigen objektiven und
subjektiven Umstände des Falles zu berücksichtigen. Mit andern Worten:
Ausschlaggebend für die Beurteilung der Frage, ob es sich um einen leichten
Fall im Sinne von Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB handelt oder nicht, ist die
Gesamtheit der objektiven und subjektiven Umstände. Der Richter wird in
jedem einzelnen Fall also zum Beispiel auch zu prüfen haben, ob der neuen
Tat ein schweres oder ein leicht zu nehmendes Verschulden zugrunde liege;
ferner auch, ob allenfalls aussergewöhnliche Umstände in Betracht gezogen
werden müssen.