Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 IV 1



98 IV 1

1. Urteil des Kassationshofes vom 3. März 1972 i.S. Staatsanwaltschaft des
Kantons Luzern gegen Schüpbach. Regeste

    Art. 42 Ziff. 1 Abs. 1 StGB. Zulässigkeit einer erneuten Verwahrung;
Voraussetzungen in zeitlicher Hinsicht.

Sachverhalt

    A.- Der mehrfach vorbestrafte Schüpbach war vom Bezirksgericht
Rheinfelden am 19. März 1969 wegen wiederholten Betruges zu einem
Jahr Zuchthaus verurteilt worden. An die Stelle der ausgesprochenen
Freiheitsstrafe trat Verwahrung auf unbestimmte Zeit nach Art. 42 StGB,
die in der Strafanstalt Lenzburg vollzogen wurde.

    Am 11. Juli 1970 erhielt Schüpbach zum Besuch eines ortsansässigen
Bekannten Urlaub. Diesen benützte er zur Flucht. Am 25. Juli 1970
wurde er in Münsingen/BE verhaftet. In der Zeit vom 11.-25. Juli
1970 hatte Schüpbach mehrere neue Straftaten verübt, für die er vom
Kriminalgericht des Kantons Luzern am 21. Mai 1971 wegen Diebstahls,
fortgesetzter Veruntreuung, gewerbsmässigen Betrugs, fortgesetzter
Urkundenfälschung, fortgesetzter Entwendung zum Gebrauch, fortgesetzten
Fahrens ohne Führerausweis sowie falscher Namensangabe in Gästekontrollen
zu 15 Monaten Zuchthaus und zu einer Busse von Fr. 50.- verurteilt wurde;
an Stelle des Vollzuges der Freiheitsstrafe ordnete das Kriminalgericht
die Verwahrung nach Art. 42 StGB an.

    B.- Auf Appellation des Verwahrten hin hob das Obergericht des Kantons
Luzern mit Urteil vom 12. Oktober 1971 die Verwahrung auf und liess es bei
der Freiheitsstrafe von 15 Monaten Zuchthaus und der Busse von Fr. 50.-
bewenden.

    C.- Gegen dieses Urteil führt die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern
eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der angefochtene
Entscheid sei aufzuheben und die Sache zur Anordnung der Verwahrung gemäss
revidiertem Art. 42 StGB an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Obergericht hält dafür, dass durch den abgeänderten Art. 42
Ziff. 1 Abs. 1 StGB (Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 18. März 1971)
eine 5-jährige Bewährungsfrist eingeführt wurde, welche mit der endgültigen
Entlassung des Gefangenen aus dem Straf- oder Verwahrungsverhaft zu laufen
beginnt. Verübe der Entlassene innert dieser Frist ein vorsätzliches
Verbrechen oder Vergehen, so habe er sich nicht bewährt, und der Richter
könne daher an Stelle einer Freiheitsstrafe erneut die Verwahrung treten
lassen. Begehe der Entlassene hingegen ausserhalb dieser 5-jährigen
Bewährungsfrist, also entweder vor ihrem Beginn oder nach ihrem Ablauf,
ein neues vorsätzliches Delikt, so solle die Anordnung der Verwahrung
ausgeschlossen sein. Im erstern Falle, weil die vom Gesetz hiefür verlangte
"endgültige Entlassung" noch gar nicht stattgefunden habe; im zweiten
Falle, weil der Entlassene die 5-jährige Bewährungsfrist erfolgreich
bestanden habe und damit vom Makel des Gewohnheitsverbrechers befreit
werde.

    Da im vorliegenden Fall Schüpbach während der laufenden Verwahrung,
also noch vor seiner "endgültigen Entlassung" neu delinquiert habe, habe
die 5-jährige Bewährungsfrist gar nicht zu laufen begonnen, weshalb eine
neuerliche Verwahrung nicht in Frage komme. Das führe nicht zu einem
ungerechten Ergebnis; denn einmal müsse Schüpbach für die neu verübten
Delikte die Strafe von 15 Monaten Zuchthaus verbüssen. Zudem werde sich
seine erneute Straffälligkeit auch auf die Dauer der früheren Verwahrung
und auf den Entscheid über die vorzeitig bedingte Entlassung aus dieser
zu seinen Ungunsten auswirken.

Erwägung 2

    2.- Demgegenüber macht die Beschwerdeführerin geltend, mit der Wendung
"und begeht er innert 5 Jahren seit der endgültigen Entlassung ein neues
vorsätzliches Verbrechen oder Vergehen" habe der revidierte Art. 42
StGB entgegen der Auffassung des Obergerichts nicht eine 5-jährige
Bewährungsfrist statuieren wollen, welche erst mit der endgültigen
Entlassung des Straf- oder Verwahrungsgefangenen zu laufen beginne und 5
Jahre später ende, sodass die vor und nach dieser Frist verübten Delikte
eine neuerliche Verwahrung ausschlössen. Vielmehr sei damit ohne jede
Begrenzung nach rückwärts einfach der äusserste Zeitpunkt festgelegt
worden, von dem an nach der endgültigen Entlassung eine neuerliche
Straffälligkeit nicht mehr die Verwahrung zur Folge habe. Der abgeänderte
Art. 42 StGB schreibe also richtig verstanden lediglich vor, dass der
Richter nach Ablauf von 5 Jahren seit der endgültigen Entlassung des
Gefangenen aus der Straf- oder Verwahrungsanstalt keine Verwahrung mehr
anordnen könne, wenn dieser erneut straffällig werde; umgekehrt ermächtige
er den Richter, eine erneute Verwahrung immer dann auszusprechen, wenn
der Straf- oder Verwahrungsgefangene vor diesem äussersten Zeitpunkt,
also entweder noch während der Straf- oder Verwahrungsdauer oder aber
innert 5 Jahren seit der endgültigen Entlassung aus dem Vollzug wiederum
ein vorsätzliches Verbrechen oder Vergehen verübe.

    Im vorliegenden Falle habe Schüpbach sich nicht einmal bis zum Beginn
der 5-jährigen Bewährungsfrist nach seiner Entlassung aus der Verwahrung zu
halten vermocht, sondern sei bereits während des Vollzugs dieser Massnahme
erneut straffällig geworden. Damit erfülle er die Voraussetzungen für eine
neue Verwahrung. Denn es wäre ungerecht, wenn derjenige erneut verwahrt
werden könnte, welcher sich während des ganzen Verwahrungsvollzugs
und noch während eines guten Teils der auf die endgültige Entlassung
folgenden 5-jährigen Bewährungsfrist straflos halte, hingegen demjenigen
Gefangenen, welcher sich nicht einmal während der Verwahrung straflos zu
halten vermöge, eine erneute Verwahrung erspart bliebe.

Erwägung 3

    3.- Nach dem Wortlaut des revidierten Art. 42 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
kann u.a. neu verwahrt werden, wer "innert 5 Jahren seit der endgültigen
Entlassung" aus der Verwahrung als Gewohnheitsverbrecher wiederum ein
vorsätzliches Verbrechen oder Vergehen begeht. Eine neue Verwahrung kommt
somit nur dann in Frage, wenn der Täter die ihm wegen einer früheren
strafbaren Handlung auferlegte Strafe oder Massnahme verbüsst hat und
aus der Anstalt endgültig entlassen wurde, sofern das neue Verbrechen
oder Vergehen innert 5 Jahren seit der endgültigen Entlassung begangen
wurde. Verübt der Verurteilte ein solches Verbrechen oder Vergehen hingegen
schon vor seiner endgültigen Entlassung aus der Anstalt oder erst nach
Ablauf der auf diese folgenden 5-jährigen Frist, so bleibt ihm nach dem
klaren Wortlaut der genannten Bestimmung eine erneute Verwahrung erspart.

    Der Sinn dieser Regelung liegt darin, dass von einem Häftling, der
die in der Strafe oder Massnahme liegende erzieherische und bessernde
Beeinflussung in vollem Masse erfahren hat, erwartet werden darf, er werde
sich von der endgültigen Entlassung hinweg während mindestens 5 Jahren
klaglos halten und befreie sich damit vom Makel des Gewohnheitsverbrechers
(Sten. Bulletin des Ständerates 1967, S. 59). Enttäuscht er hingegen
diese Erwartung durch neuerliche Verübung eines vorsätzlichen Verbrechens
oder Vergehens innert dieser 5-jährigen Bewährungsfrist, dann soll er
der erneuten Verwahrung nicht entgehen. Eine solche Erwartung kann
dagegen an denjenigen Verurteilten nicht gestellt werden, der sich
noch im Straf- oder Verwahrungsvollzug befindet; denn in diesem Falle
ist der erzieherische und bessernde Zweck der Strafe oder der Massnahme
noch nicht erreicht. Deshalb erscheint es - entgegen der Beschwerde -
durchaus sinnvoll, wenn der Gesetzgeber in Art. 42 Ziff. 1 Abs. 1 StGB
die Begehung eines neuen vorsätzlichen Verbrechens oder Vergehens nur dann
als Grund für die Anordnung der Verwahrung gelten lässt, wenn diese in eine
mit der endgültigen Entlassung beginnende 5-jährige Bewährungsfrist fällt.

    Dem während der Verwahrung ein vorsätzliches Verbrechen oder Vergehen
verübenden Täter bleibt bei dieser gesetzlichen Regelung keineswegs jede
Sanktion erspart. Vielmehr bekommt er die Folgen der neuen Strafhandlung
in der Weise zu spüren, dass die Dauer der früher über ihn verhängten
Massnahme entsprechend verlängert (vgl. 42 Ziff. 4 Abs. 2 StGB) und der
künftige Entscheid über die vorzeitig-bedingte Entlassung aus der Anstalt
zu seinen Ungunsten beeinflusst wird. Die Regelung von Art. 42 Ziff. 1
Abs. 1 StGB führt auch in dieser Hinsicht also nicht zu einem ungerechten
oder gar widersinnigen Ergebnis.

Erwägung 4

    4.- Im vorliegenden Fall hat Schüpbach die neuen Straftaten begangen,
als er noch in der Verwahrung stand. Diese Delikte wurden also nicht
während der 5-jährigen Bewährungsfrist, welche nach der endgültigen
Entlassung aus der Verwahrung zu laufen begonnen hätte, verübt; hatte diese
Frist doch überhaupt noch nicht zu laufen begonnen. Es fehlt demnach an
einer gesetzlichen Grundvoraussetzung, um Schüpbach erneut zu verwahren.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.