Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 II 294



98 II 294

43. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 3. Oktober 1972
i.S. von Weissenfluh gegen Muri. Regeste

    Erstreckung des Mietverhältnisses bei Verkauf der Mietsache.

    1.  Art. 259 Abs. 1 und 2 OR. Kündigung des Mietverhältnisses durch
den Verkäufer und den Käufer, bevor dieser als Eigentümer im Grundbuch
eingetragen wird; Eintritt des Erwerbers in das Mietverhältnis (Erw. 4).

    2.  Art. 267c lit. c OR. Bei Eintritt des Käufers in das Mietverhältnis
beurteilt sich die Frage des Eigenbedarfs nach den Bedürfnissen des
neuen Vermieters; Beweis. Offen gelassen, ob in analoger Anwendung von
Art. 20 Abs. 2 OR eine Teilerstreckung des Mietverhältnisses möglich wäre
(Erw. 6-8).

Sachverhalt

    A.- Wwe. Stanka und ihre vier Söhne verkauften am 30.  November 1971
das Haus Kramgasse 37 in Bern samt Umschwung dem Arnold Muri, der ihnen
versprach, die Mietverträge in Rechten und Pflichten zu übernehmen.
Nutzen und Schaden sollten am 1. Januar 1972 auf den Käufer übergehen.

    Mit Schreiben vom 22. Dezember 1971, das vom Käufer mitunterzeichnet
wurde, gab Wwe. Stanka im Namen der Verkäufer dem Mieter Adrian
von Weissenfluh Kenntnis vom Verkauf und fügte bei, dass sie ihm den
Mietvertrag über das Ladenlokal, die Werkstatt, die Geschäftsräumlichkeiten
im ersten und zweiten Stock sowie die Schaukasten auf 30. Juni 1972
kündige, "auch im Auftrag des Käufers", da dieser die Räumlichkeiten für
sein Geschäft benötige.

    Am 31. Dezember 1971 wurde Muri als Eigentümer der Liegenschaft in
das Grundbuch eingetragen.

    B.- Das Begehren von Weissenfluhs, das Mietverhältnis um zwei Jahre
zu erstrecken, wurde vom Gerichtspräsidenten III von Bern am 1. März 1972
wegen Eigenbedarfs des Käufers (Art. 267c lit. c OR) abgewiesen.

    Von Weissenfluh appellierte. Er beantragte der oberen Instanz, die
Kündigung vom 22. Dezember 1971 aufzuheben, eventuell festzustellen,
dass sie nichtig und rechtsunwirksam sei, subeventuell das mit den Erben
Stanka oder mit Muri bestehende Mietverhältnis um zwei Jahre zu erstrecken.

    Der Appellationshof des Kantons Bern wies am 20. April 1972 das
Gesuch entsprechend dem Antrage Muris ab. Er erachtete die Kündigung
als durch die Erben Stanka gültig vorgenommen und die Erstreckung des
Mietverhältnisses wegen Eigenbedarfs des Käufers als nicht zulässig.

    C.- Der Gesuchsteller hat die Berufung erklärt. Er beantragt,
das Urteil des Appellationshofes aufzuheben, und wiederholt die vor
dieser Instanz gestellten Begehren. Subsidiär verlangt er, die Sache zu
weiterer Beweisaufnahme und zu neuer Beurteilung an den Appellationshof
zurückzuweisen.

    Der Gesuchsgegener beantragt, die Berufung abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 4

    4.- Es kann offen bleiben, ob der Erwerber der Mietsache, der
von der Möglichkeit der Kündigung auf das nächste ortsübliche Ziel
(Art. 259 Abs. 2 OR) nicht Gebrauch machen will, den Eintritt in das
Mietverhältnis eigenmächtig auf einen beliebigen späteren Zeitpunkt
beschränken darf. Denn der Wille, das Mietverhältnis nicht über den
30. Juni 1972 hinaus fortzusetzen, wurde dem Gesuchsteller am 22. Dezember
1971 nicht nur vom Gesuchsgegner, sondern auch von den Veräusserern
der Mietsache kundgegeben. Die Kündigung seitens der Erben Stanka,
die damals noch Eigentümer der Liegenschaft waren und die Stellung von
Vermietern hatten - und übrigens auch nach dem 31. Dezember 1971 noch
an den Vertrag gebunden blieben (Art. 259 Abs. 1 OR; BGE 82 II 529) -
war gültig. Sie hatte zur Folge, dass der Gesuchsteller am 31. Dezember
1971 beim Übergang der Mietsache auf den Gesuchsgegner nur noch im Genuss
eines auf den 30. Juni 1972 gekündeten Mietverhältnisses stand. Nur in
ein solches ist der Gesuchsgegner eingetreten. Die Beschränkung seines
Eintrittes für die Zeit bis zum 30. Juni 1972 war deshalb gültig.

    Das Begehren des Gesuchstellers, die "Kündigung" vom 22. Dezember
1971 "aufzuheben", eventuell festzustellen, dass sie "nichtig und
rechtsunwirksam" sei, ist daher abzuweisen. Bei diesem Ergebnis braucht
nicht entschieden zu werden, ob der Gesuchsgegner das Mietverhältnis
schon kündigen durfte, bevor er Eigentümer der Liegenschaft war.

Erwägung 6

    6.- Das Mietverhältnis darf nicht erstreckt werden, "bei Eigenbedarf
des Vermieters für sich, nahe Verwandte oder Verschwägerte" (Art. 267c
lit. c OR).

    Der Gesuchsteller macht geltend, ob Eigenbedarf des Vermieters
vorliege, beurteile sich nach den Bedürfnissen der Erben Stanka, nicht
nach den Bedürfnissen des Gesuchsgegners, denn der Inhalt des Mietvertrages
habe nicht gegen den Willen des Gesuchstellers geändert werden können und
sei auch durch Art. 259 OR nicht geändert worden; könnte der Gesuchsgegner
Eigenbedarf anrufen, so wäre die Lage des Gesuchstellers als Vertragspartei
verschlechtert und könnten die Mieterschutzbestimmungen umgangen werden;
der Sinn und Zweck dieser Normen verbiete dem Erwerber der Liegenschaft,
sich auf seine eigenen Bedürfnisse zu berufen.

    Der Anspruch auf Erstreckung des Mietverhältnisses, den Art. 267a
gewährt und Art. 267c OR in gewissen Fällen ausschliesst, beruht nicht auf
einer Vereinbarung zwischen dem Vermieter und dem Mieter, sondern ist die
gesetzliche Folge des Bestehens eines Mietverhältnisses. Im Falle eines
Vertragsüberganges braucht daher der Mieter nicht einverstanden zu sein,
dass sich die Frage des Eigenbedarfes nach den Bedürfnissen des neuen
Vermieters statt wie bisher nach denen des ursprünglichen beurteile. Er
kann nur mit dem Übergang des Mietverhältnisses als Ganzes einverstanden
sein oder ihn als Ganzes ablehnen. Erhebt er gegenüber dem Erwerber
der Mietsache Anspruch auf Fortsetzung des Mietverhältnisses, so hat er
dem Übergang zugestimmt und hat damit den Erwerber als neuen Vermieter
anerkannt.

    Damit hat er gelten zu lassen, dass die Frage der Zulässigkeit
der Erstreckung der Miete nach den Verhältnissen beurteilt werde,
die durch die Beziehungen zum neuen Vermieter geschaffen wurden. Das
Recht des Mieters, einen Mietvertrag erstrecken zu lassen, bringt eine
Beschränkung des Verfügungsrechtes über das Eigentum mit sich (BBl
1968 II 858). Es richtet sich immer gegen den Eigentümer. Die Rechte
eines Dritten, der nicht mehr Eigentümer ist, werden durch dasselbe in
keiner Weise mehr betroffen. Mit der Übertragung der Mietsache auf den
neuen Eigentümer hört der Eigenbedarf des Veräusserers für sich selbst
auf und kann auch für seine nahen Verwandten oder Verschwägerten keine
Rolle mehr spielen. Nur noch die Bedürfnisse des neuen Eigentümers für
sich, seine nahen Verwandten oder Verschwägerten sind massgebend dafür,
ob der Eingriff in das Eigentum, die Erstreckung des Mietverhältnisses,
sich rechtfertige oder nicht. Der Umstand, dass der Veräusserer der Sache
gemäss Art. 259 Abs. 1 OR zur Erfüllung des Vertrages oder zu Schadenersatz
verpflichtet bleibt, ändert nichts. Diese Verpflichtung reicht nicht weiter
als das vertraglich abgegebene Versprechen des Veräusserers. Sie kann
nicht gemäss Art. 267a ff. erstreckt werden, und wenn das Mietverhältnis
gegenüber dem Erwerber der Sache erstreckt wird, haftet der Veräusserer
für die Erfüllung während der Dauer dieser Erstreckung nicht.

    Zu einer andern Beurteilung gibt auch der Einwand nicht Anlass,
die Mieterschutzbestimmungen könnten umgangen werden, wenn die Frage des
Eigenbedarfes nicht nach den Bedürfnissen des Veräusserers beurteilt würde.
Diese Normen wollen den Art. 259 OR und das Recht des Eigentümers, die
Sache zu veräussern, nicht aufheben. Der Mieter hat die Veräusserung und
ihre Folgen hinzunehmen. Wenn und soweit der Erwerber vertraglich in das
Mietverhältnis eingetreten ist oder den Mieter kraft des Art. 259 Abs. 2 in
der Miete belassen muss, hat der Mieter ihn als neuen Vermieter gelten zu
lassen und kann ihm gegenüber allenfalls die in Art. 267a ff. vorgesehene
Erstreckung verlangen. Darin erschöpft sich sein Schutzrecht, wenn die
Veräusserung der Mietsache gültig ist. In Fällen blosser Simulation ist die
Veräusserung dagegen auch dem Mieter gegenüber als ungültig zu behandeln
und sind folglich dessen Schutzrechte wiederum nicht beeinträchtigt. Im
vorliegenden Falle ist Simulation jedoch weder festgestellt noch behauptet.

    7. Der Gesuchsteller bestreitet den Eigenbedarf des Gesuchsgegners
mit dem Einwand, die kantonalen Instanzen hätten über dessen Behauptung
nicht Beweis geführt.

    Wenn dies zuträfe, wäre Art. 8 ZGB verletzt, der dem Richter verbietet,
die Behauptung einer Partei unbesehen als wahr hinzunehmen (BGE 43 II 559,
46 II 348, 71 II 127, 75 II 103). Die Feststellung des Appellationshofes,
der Gesuchsgegner benötige das Ladenlokal als Kunsthandlung für eigene
Bedürfnisse und den ersten und zweiten Stock wolle er langjährigen
Mitarbeitern zur Verfügung stellen, auf deren Dienste er angewiesen
sei, beruht jedoch nicht auf blosser Hinnahme einer unüberprüften
Parteibehauptung, sondern auf einer Beweisführung, nämlich auf Aussagen
des Gesuchsgegners im Parteiverhör, das vom kantonalen Prozessrecht auch im
summarischen Verfahren als Beweismittel anerkannt wird (Art. 212, 273 ff.,
306 ZPO). Da das Bundesgericht als Berufungsinstanz an die Feststellungen
des kantonalen Richters über tatsächliche Verhältnisse gebunden ist, wenn
sie nicht in Verletzung bundesrechtlicher Beweisvorschriften zustande
gekommen sind oder offensichtlich auf Versehen beruhen (Art. 43 Abs. 3,
55 Abs. 1 lit. c, 63 Abs. 2 OG), hat es diese Aussagen nicht auf ihre
Glaubwürdigkeit hin zu prüfen.

Erwägung 8

    8.- Dass der Appellationshof den Rechtsbegriff des Eigenbedarfs des
Gesuchsgegners verkannt habe, macht der Gesuchsteller nicht geltend. Er
verlangt auch nicht, dass das Mietverhältnis wenigstens in bezug auf den
ersten und zweiten Stock zu erstrecken sei, weil der Gesuchsgegner diese
Teile der Liegenschaft nicht persönlich benützen, sondern langjährigen
Mitarbeitern, auf deren Dienste er angewiesen ist, zur Verfügung stellen
will. Nach den Akten ist vielmehr anzunehmen, dass er das Mietverhältnis
nur in bezug auf die ganze Mietsache oder dann überhaupt nicht erstreckt
wissen will, weil er vor allem am Ladenlokal interessiert und eine
Aufteilung der Räumlichkeiten, wie der Appellationshof feststellt, nicht
möglich ist. Das Bundesgericht hat daher nicht zu entscheiden, ob in
analoger Anwendung von Art. 20 Abs. 2 OR eine Teilerstreckung möglich wäre.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Appellationshofes
des Kantons Bern vom 20. April 1972 bestätigt.