Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 II 109



98 II 109

16. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 24. Mai 1972
i.S. Ed. F. Kossova gegen Institut auf dem Rosenberg AG Regeste

    Dienstvertrag.

    Art. 5 OR. Überlegungsfrist für die Annahme eines Angebotes im
internationalen Verkehr. Berücksichtigung der konkreten Umstände.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Mit schriftlichem Vertrag vom 13. Mai 1969 stellte das Institut
auf dem Rosenberg AG, St. Gallen, den amerikanischen Staatsangehörigen
Ed. F. Kossova mit Antritt auf den 1. September 1969 als Gymnasiallehrer
und Erzieher an. Das Monatsgehalt Kossovas wurde auf Fr. 1501.95
festgesetzt. Ende Dezember 1969 kehrte Kossova für die Weihnachtsferien
nach den Vereinigten Staaten zurück. Mit einem mit "Washington,
den 4.1.1970" datierten, am 5. Januar 1970 in Tacoma, Washington,
aufgegebenen Luftpost-Expressbrief teilte Kossova seiner Arbeitgeberin
mit, dass er wegen Grippeerkrankung den Dienst nicht am 7. Januar,
sondern erst nächste Woche wieder antreten könne. Er fügte u.a. bei:

    "Sollten Sie aber leicht (leicht) einen Ersatz für mich finden, bitte
lassen Sie mich telegraphisch verständigen, weil ich in dem Falle gerne in
den USA bleiben würde; ich will aber meine Pflicht tun und wieder kommen."
(Unterschrift)

    Dieser Brief traf am 8. Januar 1970 um 08.30 Uhr bei der Adressatin
ein. Am 9. Januar 1970 sandte Kossova seiner Arbeitgeberin einen
Luftpostbrief, worin er ankündigte, er werde am 14. Januar abreisen und
am 15. Januar die Arbeit wieder aufnehmen.

    Das Institut auf dem Rosenberg AG fand noch am 8. Januar 1970 einen
Ersatz für Kossova in der amerikanischen Staatsangehörigen Helge Fischer,
welche zu jenem Zeitpunkt probeweise in einem Hotel in Liestal angestellt
war. Es schloss mit ihr gleichentags einen schriftlichen Dienstvertrag
ab und reichte ein Gesuch um Bewilligung des Stellenwechsels ein. Am
13. Januar 1970 schickte das Institut auf dem Rosenberg AG dem Kossova ein
Telegramm folgenden Inhalts an die von ihm angegebene Adresse in New York:

    "Ersatz gefunden, Vertrag aufgelöst, Rückkehr nicht mehr erforderlich,
Grüsse Gademann."

    Kossova trat nach seiner Darstellung am 11. Januar 1970 die Rückreise
von der amerikanischen Westküste an und erhielt am 14. Januar auf
dem Flugplatz von New York telefonisch Kenntnis vom Telegramm seiner
Arbeitgeberin. Da er nach seiner Darstellung das Billet nach Kloten bereits
besass, vor dem Rückflug stand und keine Möglichkeit mehr hatte, für das
laufende Schuljahr in den Vereinigten Staaten noch einen Unterrichtsauftrag
zu erhalten, kehrte er gleichwohl nach St. Gallen zurück. Als er am
15. Januar beim Institut auf dem Rosenberg AG den Dienst wieder antreten
wollte, wurde ihm dies verwehrt.

    B.- Kossova klagte in der Folge gegen das Institut auf dem Rosenberg
AG auf Zahlung des Lohnes für die Zeit vom 1. Januar bis 31. August 1970
im Betrag von Fr. 12'015.60.

    Das Bezirksgericht St. Gallen sprach ihm am 29. Januar 1971 Fr. 751.--
nebst Zins für die erste Hälfte Januar 1970 zu und wies die Mehrforderung
ab.

    Das Kantonsgericht St. Gallen bestätigte am 21. Oktober 1971 dieses
Urteil.

    C.- Das Bundesgericht schützte die Berufung des Klägers, hob das
Urteil des Kantonsgerichts auf und wies die Sache im Sinne der Erwägungen
zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Parteien stimmen auch im Berufungsverfahren darin überein, dass
das am 5. Januar 1970 in Tacoma (Washington) an die Beklagte abgesandte
Luftpostschreiben des Klägers einen Antrag auf vorzeitige Auflösung des
Dienstvertrages enthielt. Der Kläger macht indessen geltend, die Beklagte
habe dieses Angebot nicht rechtzeitig angenommen, weshalb die gegenteilige
Auffassung der Vorinstanz gegen Art. 5 OR verstosse.

    a) Da der Kläger für die Annahme seines Antrages keine Frist gesetzt
hatte, war er solange gebunden, bis die Antwort bei ordnungsgemässer
und rechtzeitiger Absendung (Art. 5 Abs. 1 OR) bei ihm eintraf, wobei er
rechtzeitige Ankunft seiner Offerte voraussetzen durfte (Art. 5 Abs. 2
OR). Der Vorinstanz ist darin beizupflichten, dass der Kläger angesichts
der grossen Entfernung nicht mit einer rascheren Übermittlung seiner
Offerte, die am 8. Januar 1970 um 08.30 Uhr bei der Beklagten eintraf,
rechnen konnte. Auch ist mit dem Kantonsgericht davon auszugehen,
dass die telegrafische Beförderung der Annahmeerklärung im Sinne des
Gesetzes ordnungsgemäss war. Dabei kann offen bleiben, ob der Kläger vom
Fernschreiben, das die Beklagte am 13. Januar, offenbar um 09.58 Uhr,
aufgegeben hatte, erst am folgenden Tag Kenntnis erhielt. Diesen Umstand
hätte der Kläger selber zu vertreten, da die Beklagte an die von ihm
angegebene Adresse telegrafiert hatte.

    b) Zu prüfen ist daher, welche Überlegungszeit der Kläger der Beklagten
einräumen musste.

    Nach VON TUHR/SIEGWART, OR I S. 176, ist die Überlegungszeit
nach Inhalt und Tragweite der Offerte sowie nach den persönlichen,
dem Offerenten bekannten Umständen des Adressaten mit Rücksicht auf die
Verkehrssitte zu bemessen. Ferner ist nach BECKER (1. Aufl. N. 3 zu Art. 5
OR) zu beachten, dass die Beantwortung innerhalb der geschäftsüblichen
Zeit erwartet werden kann. Ähnlich äussern sich OSER/SCHÖNENBERGER
(N. 6 ff. zu Art. 5 OR), jedoch mit dem Hinweis, dass der Sonntag in
Geschäftssachen für die Bemessung der Frist ausser Betracht falle.

    Wie die Vorinstanz feststellt, verstrichen zwischen dem Eintreffen
des Angebotes bei der Beklagten - Donnerstag, den 8. Januar 1970, 08.30
Uhr - und der Absendung der fernschriftlichen Annahmeerklärung - Dienstag,
den 13. Januar 1970 - 5 Tage, wovon 2 Tage auf ein Wochenende fielen. Die
Beklagte musste aus dem Schreiben des Klägers vom 5. Januar 1970, obwohl
ihr keine Frist angesetzt wurde, erkennen, dass der Kläger eine rasche
Antwort erwartete. Er stellte darin seine Rückkehr zur Arbeit für die
"nächste Woche", also für Montag, den 12. Januar 1970 in Aussicht. Auf
eine kurze Befristung der Offerte deutete auch die Tatsache hin, dass
er die Auflösung des Dienstvertrages nur für den Fall anbot, dass die
Beklagte "leicht", d.h. ohne zeitraubende Abklärungen, einen Ersatz finden
konnte. Sie durfte demnach das Ergebnis eines Arbeitsbewilligungsverfahrens
nicht abwarten. Das räumt sie in der Berufungsantwort denn auch selber
ein. Ob ihr am 13. Januar 1970 die Erteilung der Arbeitsbewilligung
mündlich zugesichert wurde, ist daher belanglos. Wollte sie mit Helge
Fischer eine Ausländerin anstelle des Klägers beschäftigen, so durfte sie
deswegen mit der Annahme seines Angebotes nicht länger zuwarten, sondern
musste das Risiko, für sie keine Arbeitsbewilligung zu erhalten, auf sich
nehmen. Im übrigen war dieses Risiko nicht gross, da sie Helge Fischer -
wie die Vorinstanz annimmt und in der Berufungsantwort unbestritten ist -
schon am 10. Januar die Arbeit aufnehmen liess und am 13. Januar noch
vor Erhalt der förmlichen Arbeitsbewilligung das Auflösungsangebot
des Klägers annahm. Freilich steht fest, dass der Kläger - wie im
Luftpostbrief vom 9. Januar angekündigt - die Abreise in Washington am
14. Januar antrat und die Arbeit bei der Beklagten am folgenden Tag
aufzunehmen beabsichtigte. Das Kantonsgericht stellt nur fest, dass
die Beklagte diesen Brief erhalten hat. Erst in der Berufungsschrift
behauptet der Kläger, der fragliche Brief sei am 12. Januar bei der
Beklagten eingetroffen. Diese Behauptung ist neu und nach Art. 55 Abs. 1
lit. c OG nicht zulässig. Folglich ist nicht geklärt, wann die Beklagte
den Brief empfangen hat. Das kann indessen offen bleiben. Entscheidend
ist, dass die Beklagte bereits am 8. Januar den Vertrag mit Helge Fischer
abschloss und dass sie ohnehin innert nützlicher Frist mit der Erteilung
einer Arbeitsbewilligung nicht rechnen konnte. Sie hatte somit kein
berechtigtes Interesse, mit der Absendung der telegrafischen Antwort
bis zum 13. Januar zuzuwarten. Zudem wusste sie beim Vertragsschluss
mit Helge Fischer nur, dass der Kläger gemäss Brief vom 5. Januar 1970
die Arbeit am Montag, den 12. Januar wieder aufzunehmen beabsichtigte,
und sie musste daher berücksichtigen, dass er vor seiner Abreise an der
angegebenen Adresse Bescheid erwarten durfte. Die Annahmeerklärung vom
13. Januar war daher verspätet, und der Vertrag bestand weiter.

    Dieses Ergebnis würde auch dann nicht in Frage gestellt, wenn man
annähme, die Beklagte habe den Brief des Klägers vom 9. Januar (Freitag)
am 13. Januar (Dienstag) oder - was eher unwahrscheinlich ist - schon
früher erhalten; denn sie hätte sich jedenfalls sagen müssen, dass der
Kläger, um am 15. Januar die Arbeit antreten zu können, zu Beginn der
Woche vom 12. Januar seine Reisevorbereitungen treffen werde und dass er
am 13. Januar oder später mit der Annahme seines Angebots nicht mehr zu
rechnen brauchte.