Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 III 34



98 III 34

7. Entscheid vom 18. Januar 1972 i.S. B. Regeste

    Art. 93 SchKG.

    Sind Ausgaben des Schuldners im Zusammenhang mit dem Hochschulstudium
seiner volljährigen Kinder bei der Berechnung des Existenzminimums des
Schuldners und seiner Familie zu berücksichtigen? Frage verneint.

Sachverhalt

    A.- In der Betreibung des J. gegen B. pfändete das Betreibungsamt am
10. Juli 1971 unter anderem Fr. 275.-- vom Monatslohn des Betriebenen. Den
Notbedarf setzte es für den Schuldner, dessen Ehefrau und die drei Kinder
im Alter von 16, 20 und 24 Jahren auf Fr. 2'225.-- fest, einschliesslich
Fr. 670.-- für die Kosten des Unterhalts und des auswärtigen Studiums
der beiden volljährigen Söhne.

    B.- Auf Beschwerde des Gläubigers kürzte die untere Aufsichtsbehörde in
Betreibungs- und Konkurssachen zwei kleinere, ebenfalls zum Existenzminimum
hinzugerechnete Posten um zusammen Fr. 46.-, bestätigte aber im übrigen
die Verfügung des Betreibungsamtes und setzte den unpfändbaren Betrag
auf Fr. 2'179.-- fest.

    C.- Hiegegen rekurrierte J. an die Schuldbetreibungs- und
Konkurskommission des Obergerichts. Diese hiess den Rekurs am 1. Dezember
1971 teilweise gut und berechnete den Notbedarf auf Fr. 1'789.--. Sie
begründete die Kürzung damit, dass zwar volljährige Kinder, die das
Wochenende regelmässig bei den Eltern verbringen, nach der Rechtsprechung
des Bundesgerichts (BGE 82 III 22) zur Familie im Sinne von Art. 93
SchKG gehörten, weshalb im vorliegenden Falle zum betreibungsrechtlichen
Existenzminimum des Schuldners für jeden Sohn Fr. 140.-- hinzuzurechnen
seien, dass aber andererseits Aufwendungen für die höhere Ausbildung
dieser Kinder nicht zum Notbedarf gezählt werden dürften.

    D.- Mit Rekurs an das Bundesgericht verlangt der Schuldner Aufhebung
des obergerichtlichen Entscheides und Bestätigung desjenigen der untern
Aufsichtsbehörde.

Auszug aus den Erwägungen:

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Zur Beurteilung steht hier die Frage, ob und in welchem Umfange
Ausgaben im Zusammenhang mit dem Hochschulstudium volljähriger Kinder "für
den Schuldner und seine Familie unumgänglich notwendig" (Art. 93 SchKG)
und deshalb zum unpfändbaren Teil des Lohnes zu zählen seien. Dies ist
eine Frage rechtlicher Natur und nicht bloss eine solche des Ermessens.

    Im Jahre 1914 erklärte das Bundesgericht (BGE 40 III 158), zum
Existenzminimum dürften im allgemeinen nur die Kosten des obligatorischen
Schulunterrichts der Kinder gerechnet werden, nicht auch die Auslagen
für den Besuch höherer Bildungsanstalten (in casu für den Besuch der
Realschule durch einen 17 jährigen Sohn). Mit Unterhalts- und Studienkosten
mehrjähriger Kinder hatte sich das Gericht alsdann in BGE 69 III 42 und in
den beiden nicht veröffentlichten Entscheiden vom 24. April 1944 in Sachen
R. (= besprochen in BlSchK 1944 S. 84) und vom 14. Dezember 1968 in Sachen
M. zu befassen: stets lehnte es die Einbeziehung solcher Auslagen in den
Notbedarf der Familie ab. Im Falle R. handelte es sich um die Beendigung
der Mittelschule, in den andern Fällen offenbar um Universitäts- oder
ähnliche Studien.

    Der Rekurrent bezeichnet diese Rechtsprechung als nicht mehr
zeitgemäss. Sie wird auch von ELMER und LEUPIN kritisiert (vgl. BlSchK
1959 S. 14 und 1960 S. 72/73). Letzterer schlägt mit Hinweis auf einen
Berner Entscheid (vgl. BlSchK 1937 S. 138 Nr. 122) vor, es sollten
mindestens die Unterhaltskosten minder- oder volljähriger studierender
Kinder in den Zwangsbedarf einbezogen werden.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Falle hat die Vorinstanz für jeden Sohn
einen Betrag von Fr. 140.-- zum betreibungsrechtlichen Existenzminimum
hinzugerechnet, was dem normalen Zuschlag für ein Kind von 16-20 Jahren
bei drei und mehr Kindern in der selben Familie entspricht. Da der
Betreibungsgläubiger diese Berechnungsweise nicht angefochten hat,
ist lediglich zu prüfen, ob die kantonale Aufsichtsbehörde richtig
handelte, als sie es ablehnte, auch die diesen Zuschlag übersteigenden
Aufwendungen des Rekurrenten für das auswärtige Studium seiner Söhne zu
berücksichtigen. Das ist zu bejahen.

    Zwar kann das Studium eines hiefür geeigneten Jugendlichen heute
nicht mehr als ein Luxus betrachtet werden, den sich nur Kinder aus
wirtschaftlich besser gestellten Bevölkerungsschichten sollen leisten
können, liegt doch eine solche Weiterbildung zweifellos auch im Interesse
der Allgemeinheit. Indessen darf man nach der ratio des Art. 93 SchKG
nicht so weit gehen, die mit dem Studium volljähriger Kinder verbundenen
Auslagen als zum Leben des Schuldners und seiner Familie unbedingt
notwendig zu bezeichnen. Es kann nicht der Sinn des Gesetzes sein, dass
das Studium volljähriger Kinder eines betriebenen Schuldners zulasten
von dessen Gläubigern ermöglicht werde. Das hätte sonst zur Folge, dass
unter Umständen ein Gläubiger seine Kinder nicht studieren lassen könnte,
weil ihm der Zugriff auf den Lohn seines Schuldners mit Rücksicht auf
die höhere Ausbildung von dessen Kindern verwehrt wäre. Das Interesse der
Allgemeinheit an der Ausschöpfung der Begabtenreserven kann nicht auf dem
Wege über Art. 93 SchKG gewahrt werden; es muss seinen Ausdruck in anderer
Weise finden, z.B. darin, dass öffentliche und private Institutionen dafür
sorgen, dass der Zugang zum Universitätsstudium auch Minderbemittelten
offensteht.

Erwägung 3

    3.- Auch materiell-rechtliche Überlegungen führen zu keinem andern
Ergebnis. Zwar kann nach heute wohl herrschender Auffassung der sich
aus Art. 272 Abs. 1, 275 Abs. 2 und 276 ZGB ergebende Unterhalts- und
Ausbildungsanspruch des Kindes gegenüber seinen Eltern unter Umständen so
weit gehen, dass die Eltern für die Studienkosten des Kindes auch noch nach
dessen Volljährigkeit aufzukommen haben (vgl. HEGNAUER, Kommentar, N 71 ff.
zu Art. 272 ZGB). Dieser Anspruch findet jedoch seine Grenzen in den
wirtschaftlichen Verhältnissen und Möglichkeiten der Eltern (HEGNAUER, N
32 zu Art. 275 und N 12, 14 und 16 zu Art. 276 ZGB). Vermindert sich deren
Leistungsfähigkeit unvorhergesehenerweise erheblich, wie das hier nach der
Darstellung des Rekurrenten der Fall sein soll, so entfällt ein solcher
Anspruch (HEGNAUER, N 73 zu Art. 272 ZGB). Eine betreibungsrechtliche
Privilegierung des volljährigen Kindes durch Hinzurechnen der Studienkosten
zum Existenzminimum der Eltern erscheint daher - jedenfalls unter den
vorliegenden Umständen - auch aus diesem Grunde nicht gerechtfertigt.

Entscheid:

Demnach erkennt die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer:

    Der Rekurs wird abgewiesen.