Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 98 IA 250



98 Ia 250

38. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes als staatsrechtlicher Kammer
vom 15. Juni 1972 i.S. Arn gegen Generalprokurator und Obergericht des
Kantons Bern. Regeste

    Art. 4 BV: Materielle Rechtsverweigerung.

    Nicht willkürlich ist die Annahme, die Verweigerung der Unterschrift
eines Einvernahmeprotokolls durch einen vielfach vorbestraften Täter sei
mit seiner forensischen Erfahrung zu erklären (Erw. 1 a).

    Art. 4 BV: Formelle Rechtsverweigerung.

    Abstellen auf ein nicht unterschriebenes polizeiliches
Einvernahmeprotokoll ist keine formelle Rechtsverweigerung, wenn dessen
Inhalt nie bestritten und daneben noch anderes belastendes Material
berücksichtigt wurde (Erw. 1 b-d).

Sachverhalt

    A.- Am 19. Januar 1971 nachmittags begab sich Heinz Arn zusammen
mit seiner bei ihm in Thun wohnenden Freundin Anna Schaller in das
Modegeschäft Spengler in Bern. Beim Eingang holte er auf Anweisung seiner
Freundin bei den Kassen eine grosse Plastik-Tragtasche. Im Beisein ihres
Freundes suchte sich Anna Schaller in der Damenkleiderabteilung des
ersten Stockes vier Kleider aus, die sie hierauf in einer Umkleidekabine,
wohin ihr auch Arn folgte, anprobierte. Zwei der Kleider verstaute sie
dann in der Plastiktasche, die sie Arn zum Tragen übergab. Kurz darauf
verliessen sie die Kabine. Arn wartete in der Geschäftsabteilung noch
ganz kurze Zeit auf Anna Schaller, welche beim Verlassen der Kabine
von einer Verkäuferin gefragt wurde, ob ihr etwas gepasst habe, was sie
verneinte. Gemeinsam fuhren die beiden hierauf die Rolltreppe hinunter ins
Parterre und verliessen das Geschäft, ohne die Kleider zu bezahlen. Zwei
Verkäuferinnen, die das Vorgehen der beiden beobachtet hatten, folgten
ihnen auf die Strasse und stellten sie zur Rede. Arn versetzte der
einen Verkäuferin zuerst eine Ohrfeige und als die zweite ihrer Kollegin
zu Hilfe kam noch einen Stoss, so dass sie zu Boden fiel. Darauf warf
Arn die Plastiktasche mit den gestohlenen Kleidern weg und ergriff die
Flucht. Er und seine Freundin konnten jedoch rasch angehalten werden. Bei
der getrennten Einvernahme durch die Polizei gaben beide an, er heisse
Heinz Bieri und sei aus Münsingen.

    B.- Der Gerichtspräsident VII von Bern verurteilte Anna Schaller
wegen Diebstahl zu einer bedingten Gefängnisstrafe von zehn Tagen, Arn
wegen Gehilfenschaft zu Diebstahl und falscher Namensangabe zu drei Wochen
Gefängnis unbedingt und zu einer Busse von 30 Franken.

    Arn appellierte gegen das erstinstanzliche Urteil an das Obergericht,
zog aber die Berufung in bezug auf den Schuldspruch wegen falscher
Namensangabe wieder zurück. Der Generalprokurator schloss sich der
Appellation an.

    Die I. Strafkammer des Obergerichtes des Kantons Bern bestätigte
am 12. August 1971 die Verurteilung Arns wegen Gehilfenschaft zu
Diebstahl. Hiefür und für die falsche Namensangabe wurde er zu einer
unbedingten Gefängnisstrafe von zwei Monaten und zu einer Busse von 30
Franken verurteilt.

    C.- Arn erhebt hiegegen eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und
staatsrechtliche Beschwerde. Mit der letzteren beantragt er, das Urteil
wegen Verletzung von Art. 4 BV aufzuheben, während die Vorinstanz und
der Generalprokurator Antrag auf Abweisung der Beschwerde stellen.

    Der Kassationshof wies die staatsrechtliche Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz hat den Beschwerdeführer wegen Gehilfenschaft zu
Diebstahl verurteilt. Trotz seiner Bestreitung nahm sie an, er habe beim
Verlassen des Ladens gewusst, dass sich in der Plastiktasche zwei von
seiner Freundin gestohlene Kleider befanden. Die Beschwerde rügt diese
Annahme als willkürlich, weil die Vorinstanz auf ein vom Beschwerdeführer
nicht unterzeichnetes Protokoll einer polizeilichen Einvernahme abgestellt
habe.

    a) Es trifft zu, dass der Beschwerdeführer sich weigerte, bei der
Polizei das Protokoll seiner ersten Einvernahme und das Nachtragsprotokoll
dazu zu unterschreiben. Die Vorinstanz misst diesem Umstand keine besondere
Bedeutung bei, da er leicht mit der forensischen Erfahrung des vielfach
vorbestraften Angeschuldigten zu erklären sei. Der Beschwerdeführer hält
diese Erklärung für widersinnig und daher für willkürlich. Ein forensisch
Erfahrener hätte nicht die Unterschrift, sondern die Aussage verweigert,
zumal er sich einer polizeilichen Befragung gar nicht hätte unterziehen
müssen.

    An sich kann jeder Verdächtige die Aussage verweigern, sei es vor
der Polizei oder vor einer gerichtlichen Instanz (vgl. Art. 79 ff. BStP;
Art. 140 ff., bes. 141 Ziff. 2 BeStV). Das hat Arn nicht getan. Der
Beschwerdeführer hat lediglich die Unterschrift verweigert, ohne jemals zu
behaupten, das Protokoll gebe nicht seine Aussage wieder. Dieses Verhalten
erklärt sich leicht durch die Überlegung, dass er zunächst eine Bestreitung
des Diebstahls selbst für aussichtslos hielt und darum seine Beteiligung
zugab, am Ende der Einvernahme aber neue Hoffnung schöpfte, mit einer
Bestreitung durchzukommen und gestützt auf seine forensische Erfahrung
in vielen Strafprozessen annahm, dass ihm dies gegenüber einem nicht
unterzeichneten Polizeiprotokoll leichter gelingen könnte. Die Überlegung
der Vorinstanz ist durchaus einleuchtend und jedenfalls nicht willkürlich.

    b) Mit Fug hat die Vorinstanz den Umstand hervorgehoben, dass der
Angeklagte das Polizeiprotokoll "nie ausdrücklich" bestritten hat.
Der Hinweis der Beschwerde auf die Offizialmaxime des bernischen
Strafprozessrechts ändert nichts daran. Gewiss ist es Sache der Anklage,
belastende Tatsachen zu beweisen und nicht Sache des Angeklagten, seine
Unschuld darzutun oder auch nur ausdrücklich Vorwürfe zu bestreiten. Hier
geht es aber nicht um seine Mitwirkung am Diebstahl, sondern um das
Zustandekommen und die Bedeutung des Einvernahmeprotokolls und um die
Begründung des Angeschuldigten für die an sich unbestrittene Verweigerung
der Unterschrift. Tatsächlich haben weder der Angeschuldigte noch sein
Verteidiger in irgend einer Phase des kantonalen Verfahrens behauptet,
die Polizei habe durch unlautere Mittel ein Geständnis erwirkt oder
etwas anderes zu Protokoll gebracht, als was der Angeschuldigte wirklich
aussagte. Die Vorinstanz durfte daraus ohne Willkür ableiten, der
Verweigerung der Unterschrift komme keine Bedeutung zu.

    c) Eine willkürliche Verletzung bernischen Prozessrechts erblickt
die Beschwerde in dem Umstand, dass die Vorinstanz entscheidend auf
ein Polizeiprotokoll abstellte, obwohl Art. 91/92 des bernischen
Strafverfahrens (BeStV) vorschreibe, dass die Abhörung durch den
Untersuchungsrichter unter Beizug eines beeidigten Aktuars vorzunehmen sei.

    Die für die Einvernahme von Zeugen und Beschuldigten aufgestellten
Formvorschriften dienen der Rechtssicherheit, insbesondere dem Schutz des
Beschuldigten gegen unzulässige Einvernahmemethoden (Suggestivfragen,
Drohung, Schläge, Beugehaft etc.) und gegenüber ungenauer Wiedergabe
von Aussagen in Protokollen, deren Verfasser keine genügende Gewähr für
qualifizierte und unvoreingenommene Befragung und Niederschrift gewähren.
Protokollen, die diesen Voraussetzungen nicht genügen, kommt daher nicht
der Charakter rechtsgültiger Einvernahmeprotokolle zu. Das gilt auch im
bernischen Verfahrensrecht für blosse Polizeirapporte und für Protokolle
über polizeiliche Einvernahmen. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass solchen
Aktenstücken keine Bedeutung zukomme, wie der Beschwerdeführer anzunehmen
scheint. Nach Art. 249 BStP wie auch nach Art. 254 BeStV würdigt der
Richter die Beweise frei. Weder muss er auf ein ordnungsgemäss erstelltes
Einvernahmeprotokoll abstellen und deshalb zum Beispiel gestützt auf
ein Geständnis oder auf die Einvernahme von zwei Zeugen hin verurteilen,
noch ist es ihm versagt, auf Aussagen des Beschuldigten oder von Zeugen
gegenüber der Polizei oder Dritten abzustellen, soweit sie glaubwürdig
erscheinen und der Richter dabei sein pflichtgemässes Ermessen nicht
überschreitet. Die vom Generalprokurator in der Beschwerdeantwort
vertretene Auffassung, die Verweigerung der Unterschrift bei einem
Einvernahmeprotokoll sei überhaupt bedeutungslos für dessen Beweiskraft,
geht allerdings zu weit. Der Richter wird eine protokollierte aber nicht
unterzeichnete oder nicht gegenüber der zuständigen Behörde abgegebene
Aussage besonders kritisch würdigen und allen Einwänden, die für die
Verweigerung der Unterschrift oder sonstwie gegen die Gültigkeit des
Protokolls vorgebracht werden, sorgfältig nachgehen müssen. Ein Angeklagter
dürfte jedenfalls nicht ausschliesslich gestützt auf einen Polizeirapport
über die Aussage einer nicht spezifizierten Drittperson verurteilt werden
(nicht veröffentlichter Entscheid des Bundesgerichts vom 24. November
1971 i.S. Hulmann gegen Bern).

    Wie bereits erwähnt, hat der Angeklagte in keinem Stadium des
kantonalen Verfahrens das Vorgehen der Polizei oder auch nur den Inhalt
des Polizeiprotokolls beanstandet oder seine Unterschriftsverweigerung
begründet. Er hat auch nichts zur Begründung des späteren Widerrufs
seines ersten Zugeständnisses vorgebracht. Die Vorinstanz hat trotzdem
von Amtes wegen geprüft, aus welchen Gründen der Angeschuldigte die
Unterzeichnung des Protokolls verweigert haben könnte. Sie ist mit der
bereits erörterten einleuchtenden Begründung zum Schluss gelangt, dass
der Verweigerung keine Bedeutung zukommt.

    Die Vorinstanz hat jedoch nirgends behauptet, das Polizeiprotokoll
sei einem vom Untersuchungsrichter in Gegenwart des Aktuars errichteten
Einvernahmeprotokoll gleichzustellen. Von einer willkürlichen Anwendung
der Art. 91/92 BeStV kann daher keine Rede sein.

    d) Der Beschwerdeführer rügt als willkürliche Verletzung des
bernischen Strafverfahrens ebenfalls den Umstand, dass die Vorinstanz
für die Verurteilung Arns "vor allem" auf dieses nicht unterschriebene
Polizeiprotokoll abgestellt habe. Damit werde die Minimalgarantie,
die Art. 91 BeStV dem unter dem Inquisitionsprinzip ohnehin schon jeder
Verteidigungsrechte beraubten Angeschuldigten gibt, vollständig aus den
Angeln gehoben.

    Dem ist nicht so. Zunächst muss festgehalten werden, dass es im
angefochtenen Entscheid heisst, "allem voran" spreche die Erklärung Arns
vor der Polizei für seine Schuld. Das kann als Gewichtung gemeint sein,
eher aber bezieht sich diese Ausdrucksweise, die mit der von Arn zitierten
nicht identisch ist, auf den zeitlichen und verfahrensmässigen Ablauf
des Falles. Selbst wenn man nach der Ansicht des Beschwerdeführers
das Urteil dahin auslegt, dass das Obergericht jenem Geständnis das
Hauptgewicht beigemessen habe, ist festzustellen, dass es sich bei
weitem nicht damit begnügt hat. Es zählt vielmehr noch andere gewichtige
Indizien für die Richtigkeit der ersten Darstellung Arns auf: Einmal
ist der Zeuge Polizeigfr. Gugger einvernommen worden, der für die
sinngetreue Protokollierung der ersten Aussage des Beschwerdeführers
einsteht. Weder Arn noch sein Anwalt haben bei der Einvernahme Guggers
hiegegen irgendwelche Einwendungen erhoben, sondern sie stellten nur
belanglose Ergänzungsfragen. Nach dem erstinstanzlichen Urteil äusserte
sich die Verteidigung ausführlich zur Zeugenqualität der Verkäuferinnen,
hatte jedoch gegenüber der Person oder Zeugenaussage des Polizisten
nichts einzuwenden. Ebensowenig war davon im Plädoyer der Verteidigung
vor Obergericht die Rede. Sodann nimmt die Vorinstanz Bezug auf die
noch unbeeinflusste erste Deposition Anna Schallers, die den Ablauf des
Vorfalles, wie er von Arn der Polizei geschildert wurde, bestätigt. Damit
stimmen schliesslich überein die gleichlautenden Depositionen der als
glaubwürdig betrachteten Verkäuferinnen als Zeuginnen. Die rabiate Abwehr
des Beschwerdeführers, als er von den Verkäuferinnen zur Rückkehr ins
Geschäft aufgefordert wurde, und seine Flucht, wobei er die Tragtasche
mit dem Diebesgut fortwarf, lassen für sich allein schon kaum einen
andern Schluss zu. Die Vorinstanz hätte ihr Schulderkenntnis ohne Willkür
allein auf diese weiteren Umstände abstützen können. Dass sie zusammen
mit den vom Polizisten bezeugten Aussagen des Beschwerdeführers für eine
Verurteilung ausreichten, ist offensichtlich. Angesichts dessen durfte
die Vorinstanz, ohne sich einer willkürlichen Ermessensüberschreitung oder
Verletzung des bernischen Strafverfahrens schuldig zu machen, den Inhalt
des nicht unterschriebenen Einvernahmeprotokolls als wahr annehmen und
auch darauf abstellen, zumal der Angeklagte auch an der Hauptverhandlung
nichts vorbrachte, was dieses Protokoll oder die Glaubwürdigkeit der
Zeugenaussage Gugger hätte in Frage stellen können.