Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 V 99



97 V 99

23. Auszug aus dem Urteil vom 11. Mai 1971 i.S. S. gegen Eidgenössische
Militärversicherung und Versicherungsgericht des Kantons Luzern Regeste

Art. 4 MVG.

    Es genügt die blosse Feststellung irgendwelcher Beschwerden oder
Symptome während des Dienstes, wenn diese Erscheinungen wahrscheinlich
mit der geltend gemachten Gesundheitsschädigung zusammenhängen.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Haftung der Militärversicherung erstreckt sich gemäss
Art. 4 MVG auf jede Gesundheitsschädigung, "die während des Dienstes in
Erscheinung tritt und gemeldet oder sonstwie festgestellt wird". Die
Militärversicherung haftet dann nicht, wenn sie beweist, dass die
Gesundheitsschädigung sicher vordienstlich ist oder sicher nicht durch
Einwirkungen während des Dienstes verursacht werden konnte (Art. 5
Abs. 1 lit. a MVG) und dass die Gesundheitsschädigung sicher durch
Einwirkungen während des Dienstes weder verschlimmert noch in ihrem Ablauf
beschleunigt worden ist (Art. 5 Abs. 1 lit. b MVG). Erbringt sie nur
den Beweis nach lit. a, so haftet sie bloss für die Verschlimmerung der
Gesundheitsschädigung (Art. 5 Abs. 2 Satz 1 MVG). Dies bedeutet, dass die
Haftung der Militärversicherung in diesem Fall erst dann erlischt, wenn
die Verschlimmerung sicher behoben ist (EVGE 1969 S. 198). Schliesslich
statuiert Art. 6 MVG die Haftung der Militärversicherung für eine erst nach
Dienstende ärztlich festgestellte oder ihr gemeldete Gesundheitsschädigung,
wenn diese wahrscheinlich durch dienstliche Einwirkung verursacht worden
ist oder, wenn sie vordienstlich war, wahrscheinlich durch Einwirkungen
während des Dienstes eine Verschlimmerung erfahren hat.

Erwägung 2

    2.- In ihrem eingehenden Gutachten,das sie dem kantonalen
Versicherungsgericht erstattet haben, gelangen Prof. Dr. B. und PD
Dr. E. im wesentlichen zu nachstehenden Ergebnissen: Die geklagten
Rückenschmerzen des Beschwerdeführers hätten vor dem Unfall vom
29. September 1962 nicht bestanden. Die Frage, ob und gegebenenfalls
seit wann die Rückenbeschwerden auch. ohne Unfall eingetreten wären,
lasse sich medizinisch nicht beantworten. Beim Status nach Morbus
Scheuermann könne bei Überanstrengung oder durch Unfall jederzeit der
erste Beschwerdeschub ausgelöst werden. Es gebe auch Fälle, welche trotz
Status nach Morbus Scheuermann lebenslänglich beschwerdefrei seien. Auf
Grund der Akten und der Befunde lasse sich im vorliegenden Fall jedoch
feststellen, dass der Status quo sine bezüglich des dienstlich ausgelösten
Beschwerdeschubes bei vorbestandenem Morbus Scheuermann mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit anlässlich der Begutachtungsuntersuchung
vom 4. Februar 1969, mit grosser Wahrscheinlichkeit aber schon Ende
1965 erreicht gewesen sei. Der Status quo ante werde, der Natur des
Leidens entsprechend, nicht mehr erreicht, was aber mit dem unfall- und
dienstfremden Leiden, dem Status nach Morbus Scheuermann, zusammenhänge.

    Auf diese Ausführungen erfahrener Gutachter, an deren Fachkenntnis
und Zuverlässigkeit nicht zu zweifeln ist, darf abgestellt werden...

Erwägung 3

    3.- Auf der tatbeständlichen Grundlage dieser medizinischen
Beurteilung stellt sich in rechtlicher Hinsicht zunächst die Frage, ob
die Auswirkungen des Unfalles, den der Beschwerdeführer erlitten hat,
in der Sicht der Art. 4 und 5 oder aber nach Art. 6 MVG zu prüfen sind,
m.a.W. ob die Gesundheitsschädigung während des Dienstes in Erscheinung
getreten und gemeldet oder auf andere Weise festgestellt oder ob sie erst
nach Beendigung des Dienstes durch einen eidgenössisch diplomierten Arzt
festgestellt und bei der Militärversicherung angemeldet worden ist. Von
der Beantwortung dieser Frage hängt es ab, welche Beweisregeln (Art. 5
oder 6 MVG) anwendbar sind bei der Beurteilung, ob die geltend gemachten
Rückenbeschwerden weiterhin als adäquat kausale Folgen des Unfalles auf
Kosten der Militärversicherung behandelt werden müssen oder nicht.

    Die Militärversicherung vertritt die Auffassung, dass seinerzeit
bei der Hospitalisierung in Riggisberg von Rückenbeschwerden nicht die
Rede gewesen und die Wirbelsäule des Beschwerdeführers nicht klopf-
oder achsenstossempfindlich gewesen sei. Auch nach der Entlassung aus
dem Spital seien keine Rückenbeschwerden vorgebracht worden...

    Indessen kann ein Gesundheitsschaden oder die Verschlimmerung eines
bestehenden Vorzustandes im Sinn von Art. 4 MVG auch in Erscheinung
treten, ohne dass schon während des Dienstes die richtige Diagnose
gestellt wird. Es genügt die blosse Feststellung von irgendwelchen
Beschwerden oder Symptomen während des Dienstes, wenn diese Erscheinungen
wahrscheinlich mit der Gesundheitsschädigung zusammenhängen (SCHATZ,
Kommentar zum Militärversicherungsgesetz, zu Art. 4 S. 59). Im vorliegenden
Fall ist davon auszugehen, dass schon der Unfallhergang (mehrfaches
Überschlagen des Jeeps auf dem etwa 100 m abfallenden Abhang) die
Wahrscheinlichkeit schwerster Verletzungen in sich schloss. Angesichts
der zu befürchtenden innern Verletzungen musste somit selbst relativ
geringfügigen Symptomen erhöhte Bedeutung zukommen. Unter derartigen
Umständen können innere Verletzungen, auch wenn sie als solche nicht schon
im Dienst diagnostiziert werden, durch Schmerzverursachung in Erscheinung
treten. Obschon der Spitalarzt angibt, die Wirbelsäule sei weder klopf-
noch achsenstossempfindlich gewesen, so hat er anderseits doch auch
"Schmerzhaftigkeit auf Druck zwischen Thorakalsäule und Ik. Schulterblatt"
festgestellt und in weitern Attesten von "Rückenkontusion" gesprochen. In
allen Arztberichten und insbesondere in dem vom Aussendienst der
Militärversicherung aufgenommenen Protokoll kommt übereinstimmend zum
Ausdruck, dass der Versicherte stets geltend machte, er habe seit dem
Spitalaufenthalt in Riggisberg Rückenschmerzen gespürt. Da zudem der
betreffende Aussendienstbeamte selber bescheinigt hat, dass S. einen
glaubwürdigen Eindruck erwecke, darf dem Beschwerdeführer ohne konkreten
Anhaltspunkt nicht einfach unterstellt werden, es handle sich um eine
bloss nachträgliche zweckbedingte Behauptung. Da er schon während des
Spitalaufenthaltes über Schmerzen im Bereich der Brustwirbelsäule geklagt
hat, darf dieses Symptom als im Dienst gemeldet gelten, weil ja die
Hospitalisierung vom Truppenarzt während des Dienstes angeordnet worden
war und der Versicherte in der Folge nicht vorzeitig entlassen wurde,
sondern zur Truppe zurückgekehrt ist.

    Wenn gemäss Kommentar SCHATZ angenommen wird, dass die Beurteilung
des Zusammenhangs zwischen den während des Dienstes festgestellten
Erscheinungen und der erst nachher diagnostizierten Gesundheitsschädigung
in erster Linie Sache des Mediziners sei, so ist mit dem Gutachten von
Prof. C./Dr.W. und der vorinstanzlichen Expertise auch dieses Erfordernis
dem Sinne nach als erfüllt zu betrachten, ganz abgesehen davon, dass
im vorliegenden Fall selbst ohne Expertise die Rückenschmerzen mit dem
durch den schweren Unfall ausgelösten Schub des Morbus Scheuermann in
Verbindung gebracht werden dürften. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die
Militärversicherung für die geltend gemachten Unfallfolgen im Zeitraum
vom 19. Januar 1966 bis 4. Februar 1969 nach Art. 5 MVG nur dann nicht
haftet, wenn sie die mangelnde Kausalität des Unfalls für die geklagten
Beschwerden mit Sicherheit zu beweisen vermag.

Erwägung 4

    4.- Dieser Beweis ist durch das vorinstanzliche Gutachten für die Zeit
ab Ende Februar 1969 geleistet. Der Beschwerdeführer macht denn auch ab
diesem Datum keine Ansprüche mehr geltend.

    Im Anschluss an die Feststellung der Gerichtsexperten
in ihrer Begründung, dass "der Status quo sine anlässlich der
Begutachtungsuntersuchung (vom 4. Februar 1969) mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit erreicht gewesen" sei, wird noch ausgeführt:
"Dies dürfte nach den Akten schon viel früher der Fall gewesen sein." In
den Schlussfolgerungen wird dann aber immerhin nur noch erklärt, dass
dieser Status "mit grosser Wahrscheinlichkeit" schon Ende 1965 erreicht
gewesen sei...

    Das schon im November 1965 erstattete Administrativgutachten
Prof. C./Dr. W. enthält u.a. nachstehende Ergebnisse: "Die jetzt geklagten
Beschwerden sind Folge der alten Scheuermann'schen Erkrankung... Sollten
bei Hrn. S. weitere Schmerzschübe, die eine Behandlung erforderlich machen,
auftreten, so sind die Kosten dieser Behandlung nicht der Eidgenössischen
Militärversicherung zur Last zu legen, da sie nicht wegen der Folgen des
angeschuldigten Unfallereignisses vom 29. September 1962 erfolgt ..." Dem
ist aber beizufügen, dass die Fragestellung bloss darauf gerichtet war, ob
noch ein dienstlicher Schaden bestehe oder ob dieser mit Wahrscheinlichkeit
behoben sei.

    Vorweg ist zu den beiden im wesentlichen übereinstimmenden Expertisen
zu bemerken, dass für das Gericht selbstverständlich nur die medizinischen
Feststellungen und nicht die juristischen Folgerungen der Gutachter
erheblich sind. Bei der rechtlichen Würdigung des medizinischen
Sachverhalts darf wohl nahezu von einem sichern Beweis zugunsten der
Militärversicherung gesprochen werden, aber der ausreichend sichere Beweis
im strengen Sinn des Gesetzes, dass der vordienstliche Zustand schon vor
Februar 1969 erreicht war, ist eben doch nicht erbracht.

Erwägung 5

    5.- Die grundsätzliche Haftung der Militärversicherung für die
Unfallfolgen ist somit für den Zeitabschnitt vom 19. Januar 1966 bis Ende
Februar 1969 zu bejahen...