Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 V 86



97 V 86

20. Auszug aus dem Urteil vom 8. September 1971 i.S. William und
Irène Ellacott gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und
Versicherungsgericht des Kantons Luzern Regeste

    Art. 67 Abs. 3 KUVG: Begriff des Wagnisses als Unfallursache.  Die
Besteigung der Aiguille de la Mule des Mont Salève (Schwierigkeitsgrad II,
zum Teil III) ist an sich kein Wagnis; in casu jedoch Wagnis im Hinblick
auf die fehlende Kletterausbildung und -erfahrung sowie die schlechte
Ausrüstung des zu Tode Gestürzten bejaht (Bestätigung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- William Ellacott, geboren am 1. September 1942 in
Polynesien, französischer Staatsangehöriger und wohnhaft gewesen in
Collonges-sous-Salève (Hochsavoyen), verunfallte am 27. August 1966 am
Mont Salève bei Genf tödlich. Er war im Begriffe, zusammen mit seinen
zwei Kameraden P. und M. bei schönem Wetter die "Aiguille de la Mule"
des Mont Salève von Collonges aus zu ersteigen. Als sich die Gruppe
ungefähr 40 Meter unter dem Gipfel befand und William Ellacott, der an der
Spitze ging, begonnen hatte, eine vier Meter hohe, senkrechte Felswand
zu erklettern, stürzte er aus unbekannten Gründen ab und blieb rund
100 Meter weiter unten tot liegen. Der Verunfallte arbeitete damals
bei den Genfer Verkehrsbetrieben und war daher bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen Betriebs- und Nichtbetriebsunfälle
versichert.

    Mit Verfügung vom 29. September 1966 lehnte die SUVA ihre
Leistungspflicht gestützt auf Art. 67 Abs. 3 KUVG ab. Die Verfügung wurde
den in Polynesien lebenden Eltern des Verunfallten eröffnet.

    B.- Die Eltern Ellacott, denen das Versicherungsgericht des Kantons
Luzern die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung bewilligte,
begehrten Aufhebung der ablehnenden Verfügung und Zusprechung der
gesetzlichen Versicherungsleistungen, nämlich eine lebenslängliche Rente
von jährlich 3143 Franken nebst der Bestattungsentschädigung.

    Die Anstalt schloss mit Rechtsantwort vom 21. Juli 1967 auf Abweisung
der Klage.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Luzern wies mit Entscheid vom 27.
Februar 1970 die Klage ab.

    C.- Gegen diesen Entscheid führt Rechtsanwalt Dr. X. namens der
Eltern Ellacott Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt Aufhebung
des angefochtenen Entscheides und Zusprechung der bereits vor erster
Instanz verlangten gesetzlichen Versicherungsleistungen; gleichzeitig
wird um Bewilligung des prozessualen Armenrechts nachgesucht. Zum Beweis
beantragen die Beschwerdeführer eventuell einen Augenschein des Gerichts
am Mont Salève.

    Die SUVA trägt auf Abweisung der Beschwerde an.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- ... (Kognition).

Erwägung 2

    2.- Für die rechtlichen Erwägungen vgl. das vorn publizierte Urteil
vom 21. Juni 1971 i.S. Leeser (Nr. 19).

Erwägung 3

    3.- Die bei den Akten liegenden Photographien vermitteln einen guten
Überblick über das von William Ellacott und seinen zwei Begleitern am
Unfalltag begangene Gelände. Ferner wird dieses im Unfallrapport der
Polizei wie folgt umschrieben:

    "Il se présente sous la forme d'une paroi rocheuse haute de 200 mètres
environ, dont le haut est vertical. La roche est friable. La paroi est
parsemée de petits arbustes."

    Der sachverständige Zeuge Z., Tourenchef der Sektion Genf des Schweizer
Alpen-Clubs (SAC), hat ausgesagt:

    "Ce passage n'est pas difficile... Il faut savoir varapper pour faire
ce passage... Pour faire ce passage, il suffit d'être un varappeur moyen."

    In einem Schreiben vom 15. April 1967 hat A., Chef der "Sauveteurs
volontaires du Salève", der gemäss Polizeirapport die Leiche des
Verunfallten geborgen hatte, dem klägerischen Anwalt unter anderem
mitgeteilt:

    "... ces passages sont classés 2e et 3e degrés donc assez faciles."

    Da sich der begangene Berghang aus diesen aktenmässigen Angaben für die
Entscheidung des vorliegenden Verfahrens mit hinreichender Zuverlässigkeit
beurteilen lässt, ist von einem Augenschein abzusehen.

Erwägung 4

    4.- Zunächst ist für die rechtliche Beurteilung der folgenschweren
Kletterei davon auszugehen, dass die Besteigung der "Aiguille de la Mule"
des Mont Salève auf der benützten Route ohne jeden Zweifel nicht zu
jenen extrem gefährlichen und verwegenen Unternehmen gehört, welche an
sich und zum voraus als Wagnis anzusehen sind, wer sie auch immer unter
noch so günstigen Umständen in Angriffnehmen mag. Demnach ist unter
Berücksichtigung der besonderen Umstände des konkreten Falles ... zu
beurteilen, ob sich die Anstalt und die Vorinstanz zu Recht auf Art. 67
Abs. 3 KUVG gestützt haben.

    a) Die zur Veranschaulichung des begangenen Geländes den Akten
entnommenen Angaben (Erw. 3) zeigen deutlich, dass William Ellacott und
seine Kameraden nicht eine harmlose Bergwanderung, sondern eindeutig
eine Kletterpartie, und zwar eine recht anspruchsvolle, unternommen
haben. A. nennt die Schwierigkeitsgrade II und III und bezeichnet
diese - aus seiner Sicht und Erfahrung - als "assez faciles". Für die
objektive Einstufung dieser Schwierigkeitsgrade ist jedoch nicht auf
diese subjektive und mehr beiläufig abgegebene Aeusserung abzustellen;
massgebend dafür ist vielmehr die allgemeine Umschreibung der insgesamt
sechs Schwierigkeitsgrade umfassenden und international gültigen
Klassierungsskala, sogenannte "Alpenskala" (vereinbart 1947 in Chamonix
auf Grund einer älteren Skala), in der alpinistischen Literatur, wonach
Schwierigkeitsgrad II "mittelschwer" oder "mässig schwierig" und Grad
III "schwierig" bedeutet. OTTO EIDENSCHINK beispielsweise beschreibt die
beiden Grade (in "Richtiges Bergsteigen", Die Technik im Fels, München, 4.
Auflage, 1963, S. 49) wie folgt:

    "II. Mittelschwer: Die Hände werden zur Erhaltung des Gleichgewichtes
benötigt, man beginnt bereits zu klettern. Das Seil kommt meistens schon
zur Anwendung.

    III. Schwierig: Dieses Felsgelände erfordert eine gewisse Technik
und Erfahrung. Einwandfreie Seilbedienung ist erforderlich."

    Weiter sei verwiesen auf die Behandlung der Schwierigkeitsgrade
in: SCHATZ/REISS, "Bergsteigen, Technik in Fels und Eis", Verlag SAC,
1967, S. 112/113; MAESTRI, "Kletter-Schule", Zürich 1967, S. 33;
NIEBERL/HIEBELER, "Das Klettern im Fels", München, 10. Auflage, 1960,
S. 46 ff.

    b) Mit der Feststellung des klettertechnischen Schwierigkeitsgrades
des Aufstieges ist nun aber die Rechtsfrage nach dem Wagnischarakter des
Unternehmens noch nicht entschieden, liefe dies doch eindeutig der in der
neueren Rechtsprechung zum Ausdruck kommenden Konkretisierung zuwider.
Klettertechnische Schwierigkeiten sind - namentlich in der untern Hälfte
der "Alpenskala" - durch richtige Kletterausbildung, angemessenes Training,
zutreffende Ausrüstung und technisch einwandfreien Einsatz des Materials
verhältnismässig gefahrlos zu überwinden. Massgebend für den Ausgang des
vorliegenden Verfahrens ist demzufolge, ob William Ellacott und seine
Kameraden ihrem Unternehmen, Erklettern einer Wand der Schwierigkeitsgrade
II und III, auf Grund ihrer körperlichen und technischen Voraussetzungen
überhaupt gewachsen gewesen und nach allen Regeln der alpinistischen
Kunst zu Werke gegangen seien.

    Weder der Verunfallte noch einer seiner Begleiter war ein erfahrener
Alpinist. Das ist unbestritten. Nach den Aussagen des Sachverständigen
Z. hätte es für die Ersteigung der "Aiguille de la Mule" auf der fraglichen
Route aber auch keinen erfahrenen Alpinisten gebraucht, sondern bloss einen
"varappeur moyen", einen Durchschnittskletterer. Doch William Ellacott
war auch das nicht, er war - wie die Vorinstanz zutreffend festgestellt
hat - weniger als ein Durchschnittskletterer; denn er hat nie auch
nur die elementarste Kletterausbildung genossen oder sich sonstwie eine
hinreichende alpinistische oder klettertechnische Erfahrung erworben. Dass
er ausgebildet oder zureichend erfahren gewesen sei, wird denn auch zu
Recht nicht behauptet. Von seinen zwei Begleitern war P. schon zwei-
bis dreimal in ähnlichen Hängen geklettert, M. aber war "un novice";
dieser Umstand ist zwar für den Unfall nicht kausal, dokumentiert aber,
mit welcher Sorglosigkeit ans Werk gegangen worden ist. Die wiederholt
angerufene Tatsache, der Verunfallte habe früher den Salève auf der
am Unglückstag begangenen Route schon mehrmals ohne Zwischenfälle
bestiegen, erklärt zwar bis zu einem gewissen Grad seinen Leichtsinn
und lässt annehmen, er habe eine gewisse Geländekenntnis besessen; sie
vermag dagegen am gewagten Charakter des hier zu beurteilenden Aufstieges
nichts zu ändern. Denn die Tatsache, dass jemand ein Wagnis schon mehrmals
schadlos überstanden hat, hebt den Wagnischarakter an sich nicht auf.
Überdies ist nicht bewiesen, dass William Ellacott bei allen seinen
Aufstiegen stets die gleiche Route gewählt hat. Hingegen hätten ihm
seine Kenntnisse des Geländes gerade das Bewusstsein vermitteln müssen,
dass er den Anforderungen eines Kletterers, welcher den Mont Salève auf
jener Route ersteigen will, nicht zu genügen vermochte.

    Hinzu kommt weiter, dass keine besonderen Vorsichtsmassnahmen
getroffen wurden, die unter Umständen geeignet gewesen wären, den Mangel
an persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten wettzumachen. Eine solche
Massnahme wäre namentlich das Anseilen gewesen, allerdings nur, sofern
die Beteiligten mit der Handhabung eines Kletterseils vertraut gewesen
wären. Doch diese Sicherung wurde unterlassen. Die Sachverständigen
A. und Z. sagten aus, es sei zwar möglich - wohl für geübte Alpinisten
wie die Sachverständigen -, den Aufstieg ohne Seil zu bewältigen, jedoch
sei es üblich, sich anzuseilen, "même pour faire un tel passage". Diese
Aussagen über den Einsatz des Seils stimmen auch mit der Klassierung des
Aufstieges in die Grade II und III durchaus überein; im zweiten Grad
kommt das Seil "meistens schon zur Anwendung" und im dritten Grad ist
"einwandfreie Seilbedienung... erforderlich" (EIDENSCHINK, aaO, S. 49).
Daraus ergibt sich, dass eine Kletterpartie, wie sie William Ellacott
unternommen hat, niemals ohne Seil und von Berggängern, die das Seil
nicht zu gebrauchen verstehen, in Angriff genommen werden darf.

    Endlich ist an die völlig unzulängliche Ausrüstung des Verunfallten -
und der ganzen Gruppe - zu erinnern, wobei von einer Ausrüstung keine
Rede sein kann im Vergleich zu dem, was im Alpinismus für derartige
Touren als zweckmässig empfohlen und teilweise als unerlässlich gefordert
wird. William Ellacott trug Tennisschuhe und kurze Hosen. Was davon zu
halten ist, lässt sich namentlich im Monatsbulletin des SAC - "Die Alpen"
- im Kommentar zur Statistik der Bergunfälle nachlesen:

    "Beim Sturz im Fels ist in mehreren Berichten ausdrücklich
erwähnt, am Unfall sei ungenügende Ausrüstung schuld gewesen. Es ist
einfach verantwortungslos, Bergklettereien in Sandalen, Halbschuhen
oder Turnschuhen zu unternehmen und sich gar nicht oder locker
anzuseilen. Mindestens sieben Kletterer sind im Jahre 1968 derartigen
Nachlässigkeiten zum Opfer gefallen.

    Namentlich aber bei den Stürzen in wenig gefahrvollem Gelände wird
in den Berichten vielfach ungenügende Ausrüstung, Unvorsichtigkeit und
Unerfahrenheit als mitbestimmend erwähnt." (GRÜTTER, Die Bergunfälle in
der Schweiz im Jahre 1968, Die Alpen, 45/1969, S. 205.)

    c) Aus dem Gesagten folgt, dass der Aufstieg William Ellacotts
vom 27. August 1966 zur "Aiguille de la Mule" am Mont Salève unter den
konkreten Verumständungen, unter denen er ausgeführt wurde, im Lichte der
dargelegten Rechtsprechung ein Wagnis darstellt, welches unter Ziffer II
des geltenden Verwaltungsratsbeschlusses der SUVA fällt und daher gemäss
Art. 67 Abs. 3 KUVG von der Versicherung gegen Nichtbetriebsunfälle
ausgeschlossen ist. Die Verfügung der Anstalt vom 29. September 1966
und der angefochtene kantonale Entscheid sind daher zu Recht ergangen;
die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist abzuweisen.

Erwägung 5

    5.- ... (Unentgeltliche Rechtspflege)

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.