Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 V 45



97 V 45

11. Auszug aus dem Urteil vom 12. März 1971 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen Ursprung und Rekurskommission des Kantons
Zug Regeste

    Art. 12 IVG und 2 Abs. 1 und 2 IVV. Auch bei Lähmungen sind die zur
Eingliederung geeigneten medizinischen Massnahmen, namentlich diejenigen
physiotherapeutischer Natur, so lange zu gewähren, bis der angestrebte
Zustand wesentlich und dauerhaft verbesserter Erwerbsfähigkeit eingetreten
ist. Medizinischen Vorkehren, deren Erfolg nicht dauerhaft ist und die
der steten Wiederholung bedürfen, um das erreichte Optimum zu erhalten,
fehlt der überwiegende Eingliederungscharakter. (Präzisierung der Praxis.)

Sachverhalt

    A.- Der Handelsreisende Franz Ursprung erlitt im Februar 1963 ... eine
linksseitige Hemiplegie. Die Invalidenversicherung gewährte ihm ...
Kostengutsprache für ärztlich verordnete Rehabilitationsmassnahmen,
insbesondere für Heilgymnastik und mehrere Badekuren... Ende
1969 ersuchte der Versicherte für 1970 um eine weitere Badekur im
Lähmungsinstitut Leukerbad mit Nachkur, um Fortsetzung anderweitiger
physiotherapeutischer Vorkehren bis vorläufig 31. Dezember 1970
und um Übernahme der damit zusammenhängenden ärztlichen Kontrollen
zu Lasten der Invalidenversicherung. Gestützt auf den Beschluss
der Invalidenversicherungs-Kommission des Kantons Zug verfügte die
Ausgleichskasse des schweizerischen Gewerbes am 23. Dezember 1969 die
Abweisung dieses Begehrens mit der Begründung, weitere Badekuren und
physikalische Therapie würden den Gesundheitszustand und damit die
Arbeitsfähigkeit nicht mehr verbessern, sondern nur das Fortschreiten
des Leidens verhindern...

    B.- Beschwerdeweise erneuerte Franz Ursprung die erwähnten Begehren...

    Die Rekurskommission des Kantons Zug hat die angefochtene
Verfügung mit Entscheid vom 5. Juni 1970 aufgehoben und die
Invalidenversicherungs-Kommission angewiesen, für das Jahr 1970 die
notwendigen physiotherapeutischen Massnahmen im Rahmen des Art. 12 Abs. 1
IVG festzusetzen...

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Es beantragt die Wiederherstellung der
angefochtenen Kassenverfügung...

    Franz Ursprung trägt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
an. Er verweist auf den Bericht, den der Chefarzt des Lähmungsinstitutes
Leukerbad am 28. August 1970 erstattet hat...

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 12 Abs. 1 IVG hat der Versicherte Anspruch auf
medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an
sich, sondern unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und
geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern
oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Behandlung des
Leidens an sich ist rechtlich insbesondere jede medizinische Vorkehr,
sei sie kausal oder symptomatisch, auf das Grundleiden oder auf dessen
Folgeerscheinungen gerichtet, solange labiles pathologisches Geschehen
vorhanden ist. Demnach gehören jene Vorkehren, welche auf die Heilung
oder Linderung labilen pathologischen Geschehens gerichtet sind, nicht ins
Gebiet der Invalidenversicherung. Erst wenn die Phase des (primären oder
sekundären) labilen pathologischen Geschehens insgesamt abgeschlossen ist,
kann sich - beim volljährigen Versicherten - überhaupt die Frage stellen,
ob eine Vorkehr Eingliederungsmassnahme sei. Dieser Ordnung entspricht es,
dass beispielsweise jene medikamentösen Vorkehren, die beim Diabetiker
zur Regulierung des Stoffwechsels dienen, als Behandlung des Leidens an
sich zu betrachten sind. Solche stabilisierende Vorkehren richten sich
nämlich eindeutig gegen labiles pathologisches Geschehen. Kontinuierliche
Therapie, die notwendig ist, um das Fortschreiten eines Leidens zu
verhindern, muss als Behandlung des Leidens an sich bewertet werden. Im
Anwendungsbereich des Art. 12 IVG besteht zwischen derartigen Vorkehren
und therapeutischen Akten, welche das Fortschreiten irreversibler
Lähmungsfolgen verhindern sollen, kein rechtlicher Unterschied. Unerheblich
ist, ob die Lähmungsfolgen eine Zeitlang als praktisch stabilisiert
gelten konnten oder nicht, denn es kommt weder auf die Pathogenese der
Lähmungen noch darauf an, wie diese sich bisher verhalten haben, sofern
allein mittels medizinischer Vorkehren verhütet werden kann, dass ein
sekundärer pathologischer Prozess ausgelöst wird (vgl. dazu EVGE 1962
S. 311 Erw. 2 und 1965 S. 158 Erw. 2; ferner ZAK 1968 S. 560). Würde
anders entschieden, so widerspräche dies den grundlegenden Kriterien,
nach denen der Aufgabenbereich der Invalidenversicherung von demjenigen
der sozialen Kranken- und Unfallversicherung abzugrenzen ist. Wenn die
Invalidenversicherung nach Art. 12 Abs. 1 IVG unter Umständen medizinische
Massnahmen zu übernehmen hat, die geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit des
Versicherten vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren, so bezieht
sich dies nur auf Fälle, in denen bei relativ stabilisiertem Zustand eine
wesentliche erwerbliche Einbusse droht (EVGE 1969 S. 97 i.S. Münger).
   b) Zur Präzisierung dieser Praxis sei noch folgendes ausgeführt:

    Art. 12 Abs. 2 IVG erteilt dem Bundesrat die Befugnis, "die Massnahmen
gemäss Absatz 1 von jenen, die auf die Behandlung des Leidens an sich
gerichtet sind, abzugrenzen. Er kann zu diesem Zweck insbesondere die
von der Versicherung zu gewährenden Massnahmen nach Art und Umfang näher
umschreiben und Beginn und Dauer des Anspruchs regeln". Von dieser Befugnis
hat der Bundesrat in Art. 2 IVV teilweise Gebrauch gemacht. Nach Art. 2
Abs. 1 IVV gelten als medizinische Massnahmen im Sinn des Art. 12 IVG
"namentlich chirurgische, physiotherapeutische und psychotherapeutische
Vorkehren, die eine als Folgezustand eines Geburtsgebrechens,
einer Krankheit oder eines Unfalls eingetretene Beeinträchtigung der
Körperbewegung, der Sinneswahrnehmung oder der Kontaktfähigkeit zu beheben
oder zu mildern trachten, um die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu
verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren...". Gemäss
dieser Bestimmung sind die medizinischen Massnahmen somit beschränkt auf
Folgezustände von Geburtsgebrechen, Krankheit und Unfall, also auf stabile
oder mindestens relativ stabilisierte Folgen von Gesundheitsschäden der
erwähnten Ätiologie, soweit körperliche oder psychische Verhältnisse
überhaupt stabil sein können. Art. 2 Abs. 1 IVV verlangt daher keine
grundsätzliche Änderung in der Grenzziehung zwischen der sozialen Kranken-
und Unfallversicherung einerseits und der Invalidenversicherung anderseits,
wie sie von der geltenden Praxis statuiert wird. Nur stabile Folgen
eines Geburtsgebrechens, einer Krankheit oder eines Unfalles können
Gegenstand medizinischer Massnahmen sein; alle andern gesundheitlichen
Störungen werden als labil betrachtet und gehören ins Gebiet der Kranken-
oder Unfallversicherung.

    Keine stabile Folge von Krankheit, Unfall oder Geburtsgebrechen ist
ein Zustand, der sich nur dank therapeutischer Massnahmen einigermassen
im Gleichgewicht halten lässt, gleichgültig welcher Art die Behandlung
ist. Der nur durch Stütztherapie, Training usw. aufzuhaltende Schwund
des mit medizinischen Massnahmen erreichten Optimums an physischer und
psychischer Leistungsfähigkeit bedeutet Rückfall in die Labilität. Die
Praxis hat ein Nachlassen dieses Optimums nie als medizinischen
Eingliederungsmassnahmen zugänglichen Folgezustand im Sinn des Art. 2
Abs. 1 IVV betrachtet. Dies gilt insbesondere auch für Lähmungsfolgen. Nach
Art. 2 Abs. 2 IVV sind bei Lähmungen und andern motorischen
Funktionsausfällen medizinische Massnahmen von dem Zeitpunkt an zu
gewähren, in dem nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft
im allgemeinen die Behandlung des ursächlichen Gesundheitsschadens
als abgeschlossen gilt oder untergeordnete Bedeutung erlangt hat. Im
Unterschied zu der bis Ende 1967 gültig gewesenen Regelung, welche als
medizinische Massnahmen zu Lasten der Invalidenversicherung einmalige
oder während begrenzter Zeit wiederholte Vorkehren anerkannte, fehlt
jetzt eine nähere Umschreibung der Leistungsdauer. Aus den vorstehenden
Darlegungen ergibt sich jedoch, dass bei Lähmungen medizinische Massnahmen,
insbesondere auch solche physiotherapeutischer Natur, so lange zu
gewähren sind, bis der Zustand wesentlicher und dauerhafter Verbesserung
der Erwerbsfähigkeit eingetreten ist. Medizinischen Vorkehren, deren
Erfolg nicht dauerhaft ist und die der steten Wiederholung bedürfen,
um das erreichte Optimum vor einem Nachlassen zu bewahren, fehlt der
überwiegende Eingliederungscharakter. In diesem Sinn ist Rz. 974 der
IV-Mitteilungen Nr. 122 des Bundesamtes (vgl. auch ZAK 1970 S. 267),
wonach gestützt auf die Rechtsprechung im Fall Münger fortgesetzte oder
periodisch wiederholte physiotherapeutische Massnahmen in Lähmungsfällen
nicht gewährt werden dürfen, zu berichtigen.

Erwägung 2

    2.- Den zahlreichen Arztberichten ... kann entnommen werden, dass die
seit 1964 von der Invalidenversicherung gewährten physiotherapeutischen
Massnahmen die Funktionstüchtigkeit der noch gelähmten linksseitigen
Extremitäten des Franz Ursprung stetig verbesserten. Im März 1965 teilte
der behandelnde Arzt der Invalidenversicherungs-Kommission mit, die
bisherigen Vorkehren zur Eingliederung seien bemerkenswert erfolgreich
gewesen. Die Arbeitsfähigkeit und damit die Verdienstmöglichkeiten
des Versicherten seien durch den Einsatz im Aussendienst gesteigert
worden. Nach der im Juni 1965 durchgeführten Badekur berichtete
das Lähmungsinstitut dem behandelnden Arzt, der Beschwerdegegner
habe mit einer bedeutend weniger spastischen Hand entlassen werden
können. Die Arbeitgeberfirma äusserte sich im Oktober 1965 gegenüber der
Invalidenversicherungs-Kommission dahin, dass die Tätigkeit im Aussendienst
von bisher zwei bis drei Tagen auf drei bis vier Tage habe ausgedehnt
werden können. "In Anbetracht der Tatsache, dass der Endzustand immer noch
nicht erreicht ist, der Patient aber voll arbeitet", schlug der Chefarzt
des Lähmungsinstitutes im August 1965 dem behandelnden Arzt vor, 1967 und
1968 nochmals eine Badekur zu verordnen, um einerseits "eine Zäsur in der
beruflichen Belastung zu schaffen und andererseits um die noch mögliche
Funktionsverbesserung jeweils zu realisieren". Im Jahre 1968 begab sich
der Versicherte dann zu einer weitern Badekur nach Leukerbad.

    Auf Anfrage hin liess sich nun der Chefarzt des Lähmungsinstitutes
gegenüber der Rekurskommission im Dezember 1968 wie folgt vernehmen: Durch
die Therapie in Leukerbad und die ambulante heilgymnastische Behandlung
habe der Zustand des Invaliden in den letzten Jahren deutlich verbessert
werden können. Die Erwerbsfähigkeit könne aber nur aufrechterhalten werden,
wenn die auch heute noch als mittel bis schwer zu bewertende Behinderung
regelmässig behandelt werde. Dadurch lasse sich der Lähmungszustand
aber nur noch relativ wenig beeinflussen. Anderseits könne mit ziemlich
grosser Sicherheit verhindert werden, dass sich der Zustand allmählich
wieder derart verschlimmere, dass der Versicherte seine Arbeit nicht
mehr auszuüben vermöchte. Liesse man nämlich Franz Ursprung ohne jegliche
Behandlung, so verschlimmerte sich sein Zustand in verhältnismässig kurzer
Zeit bis zum Verlust der Arbeitsfähigkeit. Damit stimmen die eigenen
Äusserungen des Versicherten in der vorinstanzlichen Beschwerde überein. -
Dies bedeutet, dass die bisherigen physiotherapeutischen Vorkehren den
Zustand des Beschwerdegegners bereits optimal verbessert haben und eine
Fortsetzung dieser Behandlungen lediglich dazu dienen könnte, den heutigen
Zustand im Gleichgewicht zu halten und dadurch einen Rückfall in die
Labilität zu verhindern. Die vom Beschwerdegegner verlangten Vorkehren
fallen daher nicht unter Art. 12 Abs. 1 IVG...

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid der
Rekurskommission des Kantons Zug vom 5. Juni 1970 aufgehoben und die
Kassenverfügung vom 23. Dezember 1969 wiederhergestellt.