Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 V 42



97 V 42

10. Auszug aus dem Urteil vom 29. März 1971 i.S. Hummel gegen
Schweizerische Ausgleichskasse und Rekurskommission der Schweizerischen
Ausgleichskasse Regeste

    Art. 6 Abs. 1 IVG und 19 Abs. 1 lit. b des Abkommens zwischen der
Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über
Soziale Sicherheit vom 25. Februar 1964: Versicherungsklausel. Deutsche
Staatsangehörige gelten hinsichtlich ihres Anspruches auf eine Rente der
schweizerischen Invalidenversicherung dann als Angehörige der deutschen
Rentenversicherung, wenn sie bei dieser bis unmittelbar vor Eintritt
des nach schweizerischem Recht versicherten Falles Beitragszeiten oder
angerechnete Ausfallzeiten zurückgelegt haben. - Massgeblichkeit von
Bescheinigungen der zuständigen deutschen Stelle.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 29 Abs. 1 IVG entsteht der Rentenanspruch,
sobald der Versicherte mindestens zur Hälfte bleibend erwerbsunfähig
geworden ist (Variante 1) oder während 360 Tagen ohne wesentlichen
Unterbruch durchschnittlich zur Hälfte arbeitsunfähig war und
weiterhin mindestens zur Hälfte erwerbsunfähig ist (Variante 2). Wie
die Vorinstanz zutreffend ausgeführt hat, ist im vorliegenden Fall
diese zweite Variante anwendbar. Da die Beschwerdeführerin erst seit
dem 5. September 1968 ununterbrochen arbeitsunfähig war, ist es richtig,
dass der Versicherungsfall des schweizerischen Rechts frühestens im August
1969 eingetreten sein kann.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 6 Abs. 1 IVG hat Anspruch auf Leistungen
der schweizerischen Invalidenversicherung, wer im Zeitpunkt des
Versicherungsfalles versichert war. Gemäss Art. 19 Abs. 1 lit. b des
schweizerisch-deutschen Abkommens über Soziale Sicherheit vom 25. Februar
1964 gelten deutsche Staatsangehörige in Bezug auf den Anspruch auf
ordentliche Renten der schweizerischen Invalidenversicherung auch
dann als Versicherte im Sinne der schweizerischen Rechtsvorschriften,
wenn sie der deutschen Rentenversicherung angehören. Dieser Begriff der
Versicherungszugehörigkeit ist zunächst ein solcher des Staatsvertrags
und nicht etwa innerstaatlichen Rechts. Bei seiner Auslegung ist davon
auszugehen, dass die Staatsangehörigen der beiden Vertragsparteien laut
Art. 4 des Abkommens in ihren Rechten und Pflichten aus den beiderseitigen
Rechtsvorschriften einander im wesentlichen gleichstehen. Dementsprechend
kann einem deutschen Staatsangehörigen aus der schweizerischen
Sozialversicherung nicht mehr oder anderes zustehen als einem
Schweizerbürger in vergleichbarer Lage. Ein solcher, der früher in der
Schweiz versichert war und infolge Wohnsitzverlegung nach Deutschland aus
der obligatorischen Versicherung ausscheidet, kann seine Anwartschaft auf
Leistungen der schweizerischen Invalidenversicherung nur aufrechterhalten,
wenn er der freiwilligen Versicherung beitritt. Er hat also weiterhin und
regelmässig Beiträge an die schweizerische Versicherung zu entrichten. Auf
der Basis der gegenseitigen Anerkennung von Versicherungszeiten kann ein
früher in der Schweiz versichert gewesener deutscher Staatsangehöriger,
der seinen Wohnsitz nach Deutschland verlegt, das Erfordernis von Art. 19
Abs. 1 lit. b des Abkommens demnach erfüllen, wenn er mindestens bis
unmittelbar vor Eintritt des Versicherungsfalls nach schweizerischem
Recht bei der deutschen Rentenversicherung Beitragszeiten zurückgelegt
hat. Ebenfalls anerkannt werden in diesem Zusammenhang beitragslose Zeiten,
soweit sie sich auf die persönliche Rentenbemessungsgrundlage auswirken und
zweifelsfrei nachgewiesen sind. Diese Auffassung ist schweizerischerseits
dem deutschen Vertragspartner mit folgenden Worten zur Kenntnis gebracht
worden (Niederschrift Freiburg i. Br. vom 31. März 1967):

    "Die schweizerische Delegation bringt der deutschen Delegation
unter Hinweis auf die von den deutschen Verbindungsstellen für die
Rentenversicherung zu Artikel 19, Absatz 1, Buchstabe b des Abkommens
aufgeworfenen Fragen zur Kenntnis, dass die schweizerischen Träger für
die Anwendung der genannten Bestimmung vorbehältlich der Rechtsprechung
darauf abstellen, ob der Gesuchsteller unmittelbar vor Eintritt des
Versicherungsfalles bei der deutschen Rentenversicherung Beitragszeiten
oder Ausfallzeiten zurückgelegt hat."

    Ob die genannten Voraussetzungen bestehen, ist zunächst ausschliesslich
eine Frage des deutschen Rechts. Die schweizerischen Behörden sind
daher auf entsprechende Bescheinigungen der deutschen Verbindungsstelle
angewiesen. Schweizerischerseits ist nur zu prüfen, ob eine derartige
Bescheinigung tatsächlich Aufschluss über die Versicherungszugehörigkeit
gibt und ob sie im Rahmen der staatsvertraglichen Zugeständnisse die
Bedingungen für ihre Anerkennung erfüllt (vgl. das die analoge Rechtslage
im Verhältnis mit Italien behandelnde nicht publizierte Urteil Sticotti
vom 20. Oktober 1970).

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall hat die Landesversicherungsanstalt Baden am
26. August 1969 bescheinigt, nach ihren Feststellungen habe Ruth Hummel
zuletzt bis zum 3. September 1968 Beitragszeiten oder Ausfallzeiten bei
der deutschen Rentenversicherung zurückgelegt. Dass die Beschwerdeführerin
auch noch im August 1969 im Sinne von Art. 19 Abs. 1 lit. b des Abkommens
in Deutschland versichert gewesen sei, wird nicht behauptet, und es
ergibt sich auch sonst aus den Akten kein Anhaltspunkt für eine derartige
Annahme. Es braucht daher nicht entschieden zu werden, wie andernfalls
vorzugehen wäre.

    Der Hinweis der Verbindungsstelle auf den Zeitpunkt des
Eintrittes des Versicherungsfalles nach deutschem Recht vermag der
Beschwerdeführerin ebenfalls nicht zu helfen. Bei der Anwendung der
erwähnten Abkommensbestimmung ist einzig nach tatsächlich zurückgelegten
Beitrags- und Ausfallzeiten zu fragen. Jedenfalls ist ein Gleichziehen
bei der Rentengewährung im Staatsvertrag nicht vorgesehen, ganz abgesehen
davon, dass ein derartiges Zugeständnis an den deutschen Vertragspartner
wohl nur in Ausnahmefällen mit dem Prinzip der Gleichbehandlung
(vgl. Erwägung 2 hievor) vereinbar sein dürfte.

Erwägung 4

    4.- Dem Gericht entgeht die Problematik der gegenwärtigen Rechtslage
nicht. Diese stellt aber, wie das Ergebnis jeder zwischenstaatlichen
Vereinbarung auch sozialversicherungsrechtlicher Natur, ein parteimässig
ausgehandeltes Gefüge mit eigenem inneren Gleichgewicht dar, das die
Verwaltungsjustiz als Ausdruck des übereinstimmenden Willens beider
Vertragspartner zu beachten hat, solange sie nichts anderes abmachen.