Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 V 35



97 V 35

9. Auszug aus dem Urteil vom 22. Januar 1971 i.S. Schmitt gegen
Schweizerische Ausgleichskasse und Rekurskommission der Schweizerischen
Ausgleichskasse Regeste

    Über die Auslegung von Staatsverträgen, insbesondere von
Meistbegünstigungs- und Gleichbehandlungsklauseln. Zwischen der Schweiz
und Frankreich besteht kein Staatsvertrag, der den Bestimmungen von Art. 6
Abs. 2 IVG derogiert.

Sachverhalt

    A.- Jean-Marc Schmitt, geboren 1939, französischer Staatsangehöriger,
entrichtete ab Juni 1965 bis und mit März 1968 als Hilfsarbeiter bei
der X AG, Basel, die obligatorischen Beiträge an die schweizerische
Sozialversicherung. Er hatte jedoch nie in der Schweiz Wohnsitz.
Am 23. November 1965 erlitt er einen Arbeitsunfall, der in der Folge
u.a. zu organischer Wesensveränderung und Hirnleistungsschwäche führte. Mit
Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Luzern vom 27. Februar 1970
wurde ihm eine Rente der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt
auf Grund einer Invalidität von 70% zugesprochen. Am 24. Oktober
1969 verlangte Schmitt bei der Schweizerischen Ausgleichskasse eine
Invalidenrente. Dieses Gesuch wurde mit Verfügung vom 3. November 1969
wegen Fehlens der versicherungsmässigen Voraussetzungen abgewiesen.

    B.- Gegen das diese Verfügung bestätigende Urteil der Rekurskommission
der Schweizerischen Ausgleichskasse vom 10. April 1970 lässt Schmitt
rechtzeitig Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben. Er verlangt im
wesentlichen Zusprechung einer ganzen Rente der Invalidenversicherung.

    Die Schweizerische Ausgleichskasse und das Bundesamt
für Sozialversicherung beantragen Abweisung der
Verwaltungs-. gerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- In der Hauptsache ist streitig, ob der Beschwerdeführer
hinsichtlich eines allfälligen Anspruchs auf Invalidenrente als in der
Schweiz versichert gelten könne. Ist Art. 6 Abs. 2 IVG anwendbar,
wie Ausgleichskasse und Rekurskommission annehmen, so hat der
Beschwerdeführer keinen Anspruch auf Leistungen der schweizerischen
Invalidenversicherung. Er hat weder Wohnsitz in der Schweiz noch Beitrags
leistungen während mindestens 10 Jahren erbracht.

Erwägung 3

    3.- Gestützt auf Bestimmungen der nachfolgend in Erwägung 4
aufgezählten Staatsverträge glaubt der Beschwerdeführer jedoch, Art. 6
Abs. 2 IVG finde in seinem Fall keine Anwendung.

    Zunächst ist daher allgemein nach den im Gebiete des
Staatsvertragsrechts geltenden Auslegungsgrundsätzen zu fragen. Als solche
sind in BGE 94 I S. 673 Erw. 4 zusammenfassend folgende festgehalten:

    "Ist der Wortlaut des Staatsvertrages nicht eindeutig oder erscheint
die durch den klaren Wortlaut vermittelte Bedeutung sinnwidrig, so ist
der Staatsvertrag auszulegen ... Verhandlungen, die zum Abschluss des
Vertrages geführt haben, sind als Quelle zur Auslegung des Staatsvertrages
heranzuziehen, soweit sie den Willen der vertragsschliessenden Staaten
klar erkennen lassen ... Staatsverträge sind so auszulegen, dass der von
beiden Parteien angestrebte Vertragszweck erreicht wird ... Eine über
den Wortlaut hinausgehende, ausdehnende Auslegung einer Bestimmung des
Staatsvertrages kommt nur in Frage, wenn aus dem Zusammenhang oder der
Entstehungsgeschichte mit Sicherheit auf eine vom Wortlaut abweichende,
darin versehentlich ungenau zum Ausdruck gebrachte Willensmeinung zu
schliessen ist ... Die Staatsverträge sind ihrer Natur nach "bonae fidei
negotia" ...; für die Auslegung gilt allgemein die Vertrauenstheorie ..."

    Guggenheim (Traité de droit international public, Bd. 1, 1967,
S. 246 ff.) nennt unter dem Titel "Hiérarchie des règles d'interprétation"
(S. 248) die Absicht der Vertragsparteien, den klaren Sinn und schliesslich
den verfolgten Zweck als Auslegungsmaximen.

    Grundsätzlich gilt, dass jeder Staatsvertrag ein geschlossenes
Gefüge von gegenseitig ausgehandelten Zugeständnissen mit einem inneren
Gleichgewicht darstellt. Daher gelten Meistbegünstigungsklauseln "in der
Regel nur für die Rechtsbeziehungen, die den Gegenstand des eine solche
Klausel enthaltenden Staatsvertrages bilden" (BGE 80 III 165).

Erwägung 4

    4.- Zu den einzelnen, vom Beschwerdeführer angerufenen Staatsverträgen
ist folgendes zu bemerken:

    a) Niederlassungsvertrag zwischen der Schweiz und Frankreich vom
23. Februar 1882 (BS 11 S. 629):

    Der Beschwerdeführer macht geltend, dass das
Sozialversicherungsabkommen mit Italien für die Italiener grundsätzliche
Gleichstellung mit den Schweizern ergebe. Auf ordentliche Renten der
AHV/IV bestehe demnach Anspruch, sobald während eines vollen Jahres
Beiträge bezahlt worden seien (Art. 8 lit. b pacti). Gemäss der
Meistbegünstigungsklausel in Art. 6 des Niederlassungsvertrages mit
Frankreich müsse dies nun auch für die französischen Staatsangehörigen
gelten. Bei der beanspruchten Invalidenrente gehe es nicht um die
in SJK Nr. 662 von Guggenheim erwähnte, nach Heimatrecht orientierte
Sozialfürsorge, die von der Meistbegünstigungsklausel ausgeschlossen sei,
sondern um die auf das Arbeitsverhältnis abgestützte Sozialversicherung,
für welche schliesslich vom Versicherten auch Beiträge geleistet worden
seien.

    Guggenheim erwähnt jedoch im zitierten Aufsatz bezüglich der
Niederlassungsverträge (SJK Nr. 662 S. 6 ff. VIII) den Grundsatz,
dass die Gleichbehandlung der Ausländer eine Grenze finde in den
Auslegungsgrundsätzen, die auf völkerrechtlicher Gewohnheit beruhen. Als
Ausgangspunkt nennt er die Tatsache, dass die Niederlassungsvertragspolitik
die Abschaffung jener Beschränkungen herbeiführen wolle, welchen die
Ausländer in der ständischen Wirtschaftsordnung, vor dem Aufkommen der
Freizügigkeit im liberalen Zeitalter, unterworfen gewesen seien. Die
Gleichbehandlungs- und Meistbegünstigungsklauseln bezweckten somit, die
von der staatlichen Gesetzgebung gewährleisteten Rechte in persönlicher
und vermögensrechtlicher Beziehung bei an sich gleichen Verhältnissen
auch den Ausländern zu garantieren. Die Gleichbehandlungsklausel vermöge
jedoch die Befugnis der Vertragsmächte nicht einzuschränken, Rechtssätze
zu erlassen, die nur den eigenen Bürgern zugute kommen sollen, wenn es
Gründe der nationalen Wohlfahrt und politische Motive verlangen.

    Der Niederlassungsvertrag mit Frankreich ist nach seiner Präambel
darauf gerichtet, "die Bedingungen für die Niederlassung der Franzosen in
der Schweiz und der Schweizer in Frankreich in beidseitigem Einverständnis
zu regeln".

    Was unter den "Bedingungen der Niederlassung" zu verstehen ist,
ergibt sich aus Art. 1, wo es heisst:

    "Die Franzosen sind in jedem Kantone der Eidgenossenschaft in bezug
auf ihre Personen und ihr Eigentum auf dem nämlichen Fusse und auf die
gleiche Weise aufzunehmen und zu behandeln, wie es die Angehörigen der
andern Kantone sind oder noch werden sollten. Sie können daher in der
Schweiz ab- und zugehen und sich daselbst zeitweilig aufhalten, wenn sie
den Gesetzen und Polizeiverordnungen nachleben. Jede Art von Gewerbe und
Handel, welche den Angehörigen der verschiedenen Kantone erlaubt ist,
wird es auf gleiche Weise auch den Franzosen sein, und zwar ohne dass
ihnen eine pekuniäre oder sonstige Mehrleistung überbunden werden darf."

    Hieraus ergibt sich eindeutig, dass der Vertrag seinem wirklichen
Sinne nach die Sozialversicherung ebensowenig beschlägt wie die soziale
Fürsorge. Er bezieht sich ausschliesslich auf die Niederlassung und die
erwerbliche Tätigkeit (vgl. auch die Vernehmlassung des Eidgenössischen
Justiz- und Polizeidepartements über die Wiedergutmachungsansprüche
kriegsgeschädigter Schweizer und die Niederlassungsverträge vom
13. Dezember 1930: BBl 1932 S. 914 ff.). In diesem begrenzten Rahmen muss
auch die Meistbegünstigungsklausel von Art. 6 des Niederlassungsvertrages
ausgelegt werden.

    b) Internationales Übereinkommen über die Gleichbehandlung
einheimischer und ausländischer Arbeitnehmer in der Entschädigung bei
Betriebsunfällen vom 5. Juni 1925 (BS 14 S. 63):

    Die Behauptung des Beschwerdeführers, dass sich dieses
Abkommen nicht auf die Ansprüche aus KUVG beschränke, sondern alle
Sozialversicherungsleistungen umfasse, welche ein Betriebsunfall nach
sich ziehen könne, fusst ebenfalls auf einer allzu extensiven und damit
sinnwidrigen Auslegung. Anknüpfungspunkt ist nach dem klaren Wortlaut
dieses Abkommens der Betriebsunfall im Gegensatz zum Nichtbetriebsunfall
bzw. zu all jenen Beeinträchtigungen der Gesundheit, die nicht auf
Betriebsunfall zurückzuführen sind. Die Gleichbehandlung kann sich also
nur auf solche Leistungen beziehen, welche speziell für den Betriebsunfall
als solchen ausgerichtet werden. AHV- und IV-Leistungen fallen nicht unter
dieses Abkommen, denn sie sind gegebenenfalls zusätzliche Leistungen,
welche wohl faktisch durch den Betriebsunfall ausgelöst werden können,
diesen aber begrifflich nicht zur Voraussetzung haben. Wieso aus dem
vom Beschwerdeführer zitierten Generalprotokoll zum Abkommen zwischen
der Schweiz und Frankreich über die AHV (AS 1950 S. 1140) das Gegenteil
hervorgehen sollte, ist unerfindlich. Dieses Protokoll beschlägt andere
Zusammenhänge. Es erübrigt sich daher auch, auf die vom Beschwerdeführer
ebenfalls angeschnittene Frage des Unfall- bzw. Arbeitsortes im
Sinne des Übereinkommens über die Gleichbehandlung einerseits und des
schweizerisch-französischen Staatsvertrages vom 9. Juli 1949 anderseits
einzutreten.

    c) Abkommen zwischen der Schweiz und Frankreich über die Alters-
und Hinterlassenenversicherung vom 9. Juli 1949 (AS 1950 S. 1133):

    Dieses Abkommen bezieht sich schweizerischerseits gemäss seinem Art. 2
§ 1 Ziff. 1 ausdrücklich auf die AHV und nur auf diese, jedenfalls nicht
auf die IV, die bei Abschluss des Abkommens im Jahre 1949 noch nicht
geschaffen war. Seitens Frankreichs standen offenbar schon damals
gewisse Invalidenrenten in Frage, wie sich insbesondere aus der vom
Beschwerdeführer zitierten Verwaltungsvereinbarung betreffend Durchführung
der AHV (AS 1950 S. 1155) ergibt. Man hat es also bewusst in Kauf genommen,
dass schweizerischerseits noch keine Invalidenversicherung bestand. Dieses
Abkommen bietet somit keine, mindestens keine direkte Handhabe für
die Ansprüche des Beschwerdeführers. In diesem Zusammenhang darf wohl
auf die Mitteilung des Bundesamtes für Sozialversicherung abgestellt
werden, dass auch nach französischer Auffassung die eidgenössische
Invalidenversicherung vom fraglichen Abkommen ausgeklammert sei. Diese
Auffassung der beiderseitigen Verwaltungsbehörden ist ein weiteres,
wesentliches Indiz für den von den Vertragsparteien mit diesem Abkommen
verfolgten Zweck und für den beiderseitigen Vertragswillen. Das gleiche
gilt für die Feststellung des Bundesamtes für Sozialversicherung,
dass Bestrebungen für eine Revision des Abkommens im Gange seien,
die insbesondere auf einen Einbezug der Invalidenversicherung in die
staatsvertragliche Regelung abzielten.

    d) Französisch-schweizerischer Staatsvertrag über den Bau und Betrieb
des Flughafens Basel-Mülhausen in Blotzheim vom 4. Juli 1949 (AS 1950
S. 1299) und Änderung des Pflichtenheftes (Anhang II des Staatsvertrages)
vom 25. September 1961 (AS 1961 S. 831):

    Der Staatsvertrag von 1961 bzw. dessen Anhang II Art. 14bis
sieht vor, dass die beiden Regierungen gemeinsam die Bedingungen
festlegen können, unter denen gewisse Abweichungen von den französischen
Rechtsvorschriften u.a. über die Soziale Sicherheit erfolgen können. Der
Beschwerdeführer verweist auf ein Protokoll vom 11./12. April 1961
und macht geltend, damit sei ein Ergänzungsabkommen geschlossen worden
in dem Sinne, dass die Angestellten von Lufttransportunternehmen mit
Sitz in der Schweiz der schweizerischen Gesetzgebung über die Soziale
Sicherheit unterstehen. Publiziert ist dieses Protokoll nicht, und der
Beschwerdeführer vermag es bloss in Abschrift zu produzieren. Aus dieser
geht aber nur hervor, dass es sich um einen Vorschlag der beiderseitigen
Delegationen an ihre Regierungen handelt. Zudem lässt sich aus diesem
Text nichts zu Gunsten des Beschwerdeführers ableiten.

    Wohl sieht der Staatsvertrag von 1961 die Möglichkeit vor,
dass die beiden Regierungen ganz allgemein Abweichungen von den
französischen Rechtsvorschriften über die Soziale Sicherheit vereinbaren
können. Gestützt hierauf sind die (französischen und schweizerischen)
Angestellten der Lufttransportunternehmungen mit Sitz in der Schweiz
der schweizerischen sozialen Gesetzgebung unterstellt worden. Das heisst
aber offensichtlich nur, dass auf diese Personen u.a. das IVG anwendbar
ist. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies lediglich soviel, dass der
Beschwerdeführer mangels entgegenstehender staatsvertraglicher Abmachungen
gemäss Art. 6 Abs. 2 IVG zu behandeln ist. Dass diese Bestimmung des IVG
wegbedungen und die französischen Staatsangehörigen unter den erwähnten
Voraussetzungen den Schweizern gleichgestellt werden sollten, geht aus
dem Wortlaut des Protokolls in keiner Weise hervor. Auch wenn dies, wie
der Beschwerdeführer behauptet, für ihn eine stossende Härte sein sollte,
so vermöchte es an der klaren Rechtslage nichts zu ändern. Nach den vorne
erwähnten Auslegungsgrundsätzen darf nichts aus den zwischenstaatlichen
Abkommen herausgelesen werden, was dem Wortlaut ihrer Bestimmungen und
dem eindeutig bekundeten Willen der Vertragsparteien widerspricht.

    Schliesslich beruft sich der Beschwerdeführer noch auf Ziff. 2
lit. d des erwähnten Protokolls, wo es heisst, dass das Bundesamt für
Sozialversicherung und die zuständigen französischen Ministerien in
gemeinsamer Übereinkunft weitere Sonderabmachungen treffen könnten. Für
den Fall der Ablehnung seiner bisherigen Argumentation schlägt der
Beschwerdeführer vor, das Eidg. Versicherungsgericht möge das Bundesamt
für Sozialversicherung auffordern, mit dem kompetenten französischen
Ministerium eine solche Sonderabmachung zu treffen, damit französische
Staatsangehörige, die im Dienste schweizerischer Firmen invalid würden,
auch unter Beibehaltung des französischen Wohnsitzes in den Genuss der
schweizerischen Invalidenversicherungsleistungen gelangen könnten. Indessen
sind gemäss Mitteilung des Bundesamtes für Sozialversicherung, welches
das Problem kennt, ohnehin bereits Vertragshandlungen m dieser Materie im
Gange. Einstweilen wird sich der Beschwerdeführer damit abfinden müssen,
dass französischerseits die derzeitige Rechtslage bei Vertragsabschluss
in Kauf genommen worden ist.

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde erweist sich somit als unbegründet.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten
werden kann.