Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 V 3



97 V 3

2. Auszug aus dem Urteil vom 10. Februar 1971 i.S. Neracher
gegen Schweizerische Kranken- und Unfallkasse Krankenfürsorge und
Versicherungsgericht des Kantons Zürich Regeste

    Art. 12 Abs. 2 Ziff. 2 und 19bis KUVG: Pflichtleistungen der Kasse
bei Aufenthalt des Versicherten in der allgemeinen Abteilung einer
Vertragsheilanstalt.

    Ist im Vertrag zwischen Krankenkasse und Heilanstalt eine die Kosten
für Unterkunft und Verpflegung umfassende Tagespauschale vereinbart,
so darf dem in der Abteilung Krankenpflege versicherten Mitglied ein
Verpflegungskostenabzug für den Aufenthalt in der allgemeinen Abteilung
jedenfalls dann nicht belastet werden, wenn im Vertrag kein solcher
ausgeschieden ist.

    Art. 6bis KUVG: Verhältnis zwischen Pflichtleistungen und regionalen
Prämienabstufungen.

    Die von zahlreichen Kassen befolgte Praxis, Prämienabstufungen
mit Rücksicht auf die regional unterschiedlich hohen Spitaltaxenauf dem
Umwege über obligatorisch erklärte Spitalzusatzversicherungen vorzunehmen,
ist unzulässig.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Streitig ist die Frage, ob die Schweizerische Kranken- und
Unfallkasse Krankenfürsorge, Winterthur, (KFW) berechtigt sei, der
Versicherten Erna Neracher einen Verpflegungskostenbeitrag von 6 Franken
im Tag ab 1. April 1969 bis zu ihrem Austritt aus dem Kantonsspital
Winterthur zu belasten.

    Die Überprüfungsbefugnis des Eidg. Versicherungsgerichts richtet
sich, da Versicherungsleistungen im Streite liegen, nach Art. 132 OG. Es
ist danach an die Feststellung des Sachverhaltes nicht gebunden, kann
die angefochtene Verfügung auch auf Unangemessenheit überprüfen und ist
befugt, über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten
hinauszugehen.

Erwägung 2

    2.- Die vom Bunde anerkannten Krankenkassen sind verpflichtet,
ihren Versicherten die statutarischen Leistungen, mindestens
aber die gesetzlichen Pflichtleistungen für den Fall der Krankheit
auszurichten (Art. 1 und 33 KUVG, Art. 14 Abs. 1 Vo III). Im Bereiche der
Krankenpflegeversicherung ist die minimale Leistung nur ihrer Art nach,
nicht aber kostenmässig begrenzt. So bestimmt Art. 12 Abs. 2 Ziff. 2
KUVG, die Mindestleistung aus der Krankenpflegeversicherung habe bei
Aufenthalt in einer Heilanstalt mindestens zu umfassen: "Die zwischen
dieser und der Kasse vertraglich festgelegten Leistungen, mindestens
aber die ärztliche Behandlung, einschliesslich der wissenschaftlich
anerkannten Heilanwendungen, der Arzneimittel und Analysen nach den Taxen
der allgemeinen Abteilung sowie einen täglichen Mindestbeitrag an die
übrigen Kosten der Krankenpflege." Damit wird zum Ausdruck gebracht,
dass die preismässige Fixierung der zu gewährenden Mindestleistung im
Regelfall durch Vertrag zwischen Heilanstalt und Krankenkasse erfolgen
solle, und gleichzeitig festgelegt, welche Punkte dieser, falls er
die Pflichtleistungen der Kasse gültig umschreiben will, mindestens
zu beschlagen habe. Die solchermassen festgelegte Pflichtleistung
betrifft gemäss Art. 19bis KUVG alle im Einzugsgebiet des Vertragsspitals
wohnhaften Versicherten, unbekümmert darum, ob sie sich in dieses oder in
ein anderes begeben. Ein gewisser Vorrang kommt dabei unter bestimmten
Voraussetzungen den Taxen der von den Kantonsregierungen bezeichneten
öffentlichen Heilanstalten zu. Kommt ein Vertrag nicht zustande, so setzen
die Kantonsregierungen die Tarife der Arzt- und Arzneikosten fest (Art. 22
quater Abs. 3 KUVG), während die Höhe des Mindestbeitrages für die übrigen
Kosten der Pflege ohnehin vom Bundesrat fixiert ist (Art. 24 Abs. 1 Vo
III). Den Kantonsregierungen obliegt auch die Prüfung und Genehmigung
der Verträge zwischen Heilanstalten und Krankenkassen (Art. 22 quater
Abs. 5 KUVG).

Erwägung 3

    3.- Der zwischen der Direktion des Gesundheitswesens des Kantons
Zürich und den zürcherischen Krankenkassen am 6. Juni 1966 abgeschlossene
Vertrag über die Taxen der Kantonsspitäler Zürich und Winterthur bestimmte
in Art. 7 Abs. 1 folgendes:

    "Die Kassen verpflichten sich, für die den Spitälern bezahlten
Tagestaxen auch ihren Mitgliedern gegenüber aus der normalen
Krankenpflegeversicherung voll aufzukommen. Spitalzusatzversicherungen
dürfen nur dazu beansprucht werden, falls sie nach den Statuten der
betreffenden Kasse allgemein obligatorisch sind."

    Der Vertrag vom 14. April 1969 enthält keine derartige
Bestimmung. Daraus zog der Verband der Krankenkassen im Kanton Zürich
in einem Rundschreiben vom 31. März 1969 an die Verbandsmitglieder den
Schluss, es bestehe nur noch den Spitälern gegenüber volle Garantiepflicht;
die Abrechnung zwischen Kasse und Mitglied erfolge hingegen auf Grund der
statutarischen Bestimmungen. Das Bundesamt für Sozialversicherung lässt
die Frage, ob diese Auffassung haltbar sei, ausdrücklich offen. Angesichts
der in Erwägung 2 dargelegten gesetzlichen Ordnung ist die vom Verband
vertretene Auslegung jedoch ohne jeden Zweifel nicht angängig. Die
vertraglich für die allgemeine Abteilung festgelegte Tagespauschale,
umfasse sie nun auch die Gewährung von Unterkunft und Verpflegung oder
nicht, entspricht vielmehr eindeutig gleichzeitig der von der Kasse ihrem
für Krankenpflege versicherten Mitglied zu gewährenden Mindestleistung. Die
Auffassung des Verbandes wäre nur dann zutreffend, wenn im Vertrage
selber die Ausscheidung zwischen der Pauschale für die Mindestleistungen
gemäss Art. 12 Abs. 2 Ziff. 2 KUVG und den übrigen Kosten getroffen
worden wäre. Mit Recht weist auch das Bundesamt für Sozialversicherung
in Ziff. 1 lit. a seines Zirkulars 153 a vom 21. Juli 1970 daraufhin,
dass die Kassen dann, wenn sie sich im Vertrag mit der Heilanstalt zur
Zahlung der Vollpauschale verpflichtet haben, die Mitglieder nicht zur
Beteiligung an den Kosten heranziehen dürfen. Was die in lit. b loc.cit.
vertretene Auffassung des Bundesamtes für Sozialversicherung anbetrifft,
es sei den Kassen freigestellt, den Kostenanteil der Mitglieder dann in
den Statuten pauschal festzulegen, wenn im Vertrag mit der Heilanstalt der
Rückgriff auf die Versicherten für Unterkunft, Verköstigung und allenfalls
für Pflege vorbehalten sei, so ist zu bemerken, dass in einer solchen
Vertragsklausel keinesfalls eine Ermächtigung erblickt werden dürfte,
die Ansätze für Unterkunft und Verpflegung willkürlich festzusetzen.

    Da nach dem unmissverständlichen Wortlaut des im vorliegenden Falle
massgebenden Vertrages vom 14. April 1969 den Kassen ein Rückgriffsrecht
auf ihre Mitglieder für einen bestimmten Kostenanteil nicht zuerkannt
und schon gar nicht dessen Höhe festgelegt worden ist, entspricht
die vereinbarte Tagespauschale von 32 Franken der von der KFW der
Versicherten in jedem Falle aus der Krankenpflegeversicherung zu
erbringenden Pflichtleistung.

Erwägung 4

    4.- Im Ergebnis zur gleichen Lösung führt die Auslegung der Statuten
der KFW in der hier massgebenden Fassung. Laut deren Art. 54 Ziff. 2
lit. a richtet die Kasse unter dem Titel Krankenpflege bei Aufenthalt in
Heilanstalten die in Art. 12 Abs. 2 Ziff. 2 KUVG umschriebenen Leistungen
bis zur Höhe der vertraglichen Taxen der dem Wohnort der Mitglieder
nächstgelegenen Heilanstalt des gleichen Kantons aus. Unter lit. d Abs. 1
ist ein Maximalansatz von 20 Franken vorgesehen, der jedoch gemäss Abs. 2
von lit. d der Übernahme der nach lit. a berechneten höheren Kosten nicht
entgegensteht. Das Korrelat dieser Bestimmung findet sich in lit. g, wonach
die Kasse berechtigt ist, Spitalkostenzusatz oder Spitalbehandlungskosten
dann, wenn besondere kantonale oder regionale Verhältnisse vorliegen, wie
z.B. vertragliche oder gesetzliche Verpflichtungen zu grösseren Leistungen,
als sie statutarisch festgelegt sind, bei den betroffenen Mitgliedern in
der Höhe des Bedürfnisses gegen entsprechende Beitragserhebung in die
Krankenpflegeversicherung einzubauen. Aus dieser Regelung ergibt sich,
dass die KFW ihren Mitgliedern in jedem Falle die Pflichtleistungen
gemäss der in Erwägung 2 dargelegten gesetzlichen Ordnung garantiert,
dass sie sich aber vorbehält, die dafür zu entrichtenden Prämien je
nach den örtlichen Gegebenheiten verschieden zu bemessen. In diesem
Sinne versteht die KFW auch selber ihre statutarischen Bestimmungen,
führt sie doch in der Beantwortung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
aus, infolge der kantonal recht unterschiedlichen Spitalverträge habe
sie es vorgezogen, die Spitalleistungen auf eine Grundpauschale von 20
Franken im Tag festzusetzen, um dann je nach Spitalvertrag nötigenfalls
die fehlenden Beträge durch einen obligatorischen Spitalzusatz in die
Krankenpflegeversicherung einzubauen. Derartige Zusatzversicherungen seien
ein integrierender Bestandteil der Versicherungsabteilung A. Diese von der
KFW wie anscheinend auch von zahlreichen weiteren Krankenkassen befolgte
Praxis, welche darin besteht, die risikogerechte Prämienabstufung auf
dem Umwege über obligatorisch erklärte Zusatzversicherungen vorzunehmen,
ist vom Bundesamt für Sozialversicherung in seinem Zirkular Nr. 153
vom 22. September 1969 mit Recht als unzulässig bezeichnet worden. Die
Heranziehung von dem Grundsatze nach für andere Versicherungsabteilungen
bestimmten Prämien für die Grundversicherung ist zumindest geeignet,
die Kassenmitglieder über die Höhe der ihnen zustehenden Leistungen
in Unklarheit zu versetzen. Dass das Bundesamt für Sozialversicherung
diese Praxis des Prämienbezuges zunächst tolerierte und den Kassen
alsdann eine Frist zur Anpassung ihrer Statuten bis Ende 1970 einräumte,
vermag im vorliegenden Fall am Anspruch der Beschwerdeführerin nichts zu
ändern. Die Duldung hat bloss zur Folge, dass die KFW die Prämien für
die Spitalzusatzversicherung bis zur Höhe des obligatorisch erklärten
Betrages für die Bezahlung der Grundleistung heranziehen darf.

    Nach den eindeutigen statutarischen Bestimmungen, die einen
Rückbehalt für Verpflegungskosten nicht ausdrücklich vorsehen,
hat die KFW die vertragliche Tagespauschale in voller Höhe aus der
Krankenpflegeversicherung zu übernehmen, unbekümmert um die Form, in
welcher die Versicherten die Prämien für diese Abteilung zu entrichten
haben.

Erwägung 5

    5.- Wie vorzugehen wäre, falls ein in den Statuten nicht vorgesehener
Verpflegungskostenabzug im Vertrag mit der Heilanstalt ausdrücklich
vereinbart würde, braucht im vorliegenden Falle nicht untersucht zu werden.

    Ebenfalls kann offenbleiben, ob die KFW befugt sei, der
Beschwerdeführerin für die ihr ab 1. April 1969 zustehende frankenmässig
höhere Leistung rückwirkend auch eine höhere Prämie für die Abteilung
Krankenpflege zu belasten. Zu bemerken ist bloss, dass jedenfalls
zunächst untersucht werden müsste, ob eine solche Anpassung dem Gebote
der rechtsgleichen Behandlung aller Mitglieder standzuhalten vermöchte.

    Was die Meinung des kantonalen Richters anbetrifft, angesichts der
zwar unzulässigen, einstweilen aber noch tolerierten Praxis der Kassen
würde eine Gutheissung der Beschwerde zu Rechtsungleichheit führen, so ist
nach dem Gesagten klar, dass diese Auffassung schon allein darum nicht
Stich hält, weil die Duldung sich nur auf die Art des Prämienbezuges,
nicht aber auf den Leistungsanspruch der Versicherten bezieht. Selbst
wenn aber letzteres der Fall wäre, dann dürfte dies der Richter doch
nicht hinnehmen. Es würde vielmehr der Kasse obliegen, durch eine
generelle Änderung ihrer Praxis dem Gebote der Rechtsgleichheit Genüge
zu tun. Keinen Einfluss darauf hätte auch eine allfällige Genehmigung
gesetzwidriger Statuten durch das Bundesamt für Sozialversicherung
(vgl. EVGE 1968 S. 171 f.).