Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 I 7



97 I 7

3. Auszug aus dem Urteil vom 3. Februar 1971 i.S. Zwicky & Co und Erben
Zwicky gegen Gemeinde Dübendorf und Regierungsrat des Kantons Zürich.
Regeste

    Kantonales Verwaltungsrecht, Aufsichtsgewalt der obern über die untern
Verwaltungsbehörden, Willkür.

    Unter welchen Voraussetzungen kann eine obere Verwaltungsbehörde einen
formell rechtskräftigen Rekursentscheid einer unteren Verwaltungsbehörde
aufheben? (Erw. 1 und 2). Anwendung auf die durch den Regierungsrat des
Kantons Zürich erfolgte Aufhebung des Entscheids eines Bezirksrates,
der einer Gemeinde die Befugnis zur Festsetzung von Gewässerabständen
abspricht (Erw. 3 und 4).

Sachverhalt

    A.- Das zürcherische Gesetz über die Gewässer und den Gewässerschutz
(Wassergesetz) vom 15. Dezember 1901 (WG) bestimmt in § 100 (Fassung vom
2. Juli 1967):

    "Neue Gebäude dürfen in der Regel nicht näher als fünf Meter von der
Grenze eines öffentlichen Gewässers erstellt werden.

    Die Direktion der öffentlichen Bauten kann an Gewässerstrecken,
für die ein öffentliches Interesse es rechtfertigt, grössere Abstände
festsetzen. Vor der Beschlussfassung sind die beteiligten Gemeinden
anzuhören und hernach die Pläne öffentlich aufzulegen unter Mitteilung
an die betroffenen Grundeigentümer, die im Inland wohnen, und unter
Ansetzung einer Frist von zwanzig Tagen zur Einreichung von Einsprachen
an die Direktion der öffentlichen Bauten. Gegen deren Entscheid ist der
Rekurs an den Regierungsrat zulässig; dessen Entscheid ist endgültig.

    Die Direktion der öffentlichen Bauten kann im einzelnen Fall,
wenn besondere Verhältnisse es rechtfertigen, unter den zum Schutz
des Gewässers notwendigen Bedingungen Ausnahmen von diesen Abständen
gestatten. Ausnahmen von Abs. 1 sind jedoch nur zulässig, wenn ihnen
keine wasserbaupolizeilichen Gründe entgegenstehen..."

    B.- Die Firma Zwicky & Co., die eine Nähseiden- und Nähfadenfabrik mit
Färberei betreibt, und die Erben Zwicky sind Eigentümer eines grösseren
Landkomplexes im Neugut an der Gemeindegrenze zwischen Dübendorf und
Wallisellen, auf dem sich beidseits der Glatt Fabrikgebäude und Wohnbauten
befinden, die sich bis ans Ufer erstrecken.

    Am 25. November 1968 erliess die Gemeindeversammlung Dübendorf eine
neue Bauordnung (Bauo), die in Art. 26 Abs. 2 bestimmt:

    "Gegenüber vermarkten öffentlichen Gewässern ist ein Bauabstand von 12
m einzuhalten. Gegenüber nicht vermarkten öffentlichen Gewässern gilt als
Bauabstand der zonengemässe Grenzabstand, gemessen von der Schnittlinie
des mittleren Wasserstandes mit der Uferböschung".

    Auf Beschwerde der Firma Zwicky & Co., und der Erben Zwicky hob
der Bezirksrat Uster Art. 26 Abs. 2 Bauo auf mit der Begründung,
§100 WG enthalte eine abschliessende Ordnung und lasse für eine
abweichende kommunale Regelung keinen Raum; der angefochtenen kommunalen
Eigentumsbeschränkung fehle daher die gesetzliche Grundlage.

    Die Gemeinde Dübendorf gelangte hierauf an den Regierungsrat des
Kantons Zürich mit dem Begehren, den Beschluss des Bezirksrates aufzuheben
und Art. 26 Abs. 2 BO wiederherzustellen. Der Regierungsrat stellte fest,
dass der Rekurs der Gemeinde mangels Zustimmung der Gemeindeversammlung
ungültig sei, beschloss jedoch, den Entscheid des Bezirksrates
"aufsichtsrechtlich" aufzuheben und Art. 26 Abs. 2 Bauo wiederherzustellen.

    C.- Gegen diesen Entscheid haben die Firma Zwicky & Co, und F. Zwickys
Erben staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV und der
Eigentumsgarantie erhoben. Die Begründung der Beschwerde ergibt sich,
soweit erforderlich, aus den nachstehenden Erwägungen.

    D.- Der Regierungsrat des Kantons Zürich und die Gemeinde Dübendorf
beantragen Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerdeführer rügen als Verletzung des Art. 4 BV,
dass der Regierungsrat den Entscheid des Bezirksrates kraft seines
Oberaufsichtsrechts aufgehoben habe, obwohl dagegen kein gültiger Rekurs
erhoben worden, der Entscheid also rechtskräftig geworden sei.

    Wäre der Bezirksrat ein Organ der Administrativjustiz, so
hätte der Regierungsrat dessen Entscheid nicht aufheben können,
da verwaltungsgerichtliche Entscheide auch nach zürcherischem Recht
formell und materiell rechtskräftig werden (BOSSHART, Komm. zum zürch.
Verwaltungsrechtspflegegesetz N. 4 zu § 65). Der Bezirksrat ist
indessen keine Gerichtsinstanz, sondern eine Verwaltungsbehörde, die dem
Regierungsrat untergeordnet ist. Diesem steht das Oberaufsichtsrecht
auch im Gebiete des Gemeindewesens zu, wo die unmittelbare Aufsicht
vom Bezirksrat ausgeübt wird (vgl. METTLER, Das Zürcher Gemeindegesetz
S. 363/64). Die Beschwerdeführer wenden freilich ein, in Bausachen könne
nach § 147 BauG nur die Baudirektion als Aufsichtsbehörde einschreiten
und es stehe dem Regierungsrat kein Aufsichtsrecht zu. Sie tun aber nicht
dar, dass die auch vom Zürcher Verwaltungsgericht (Rechenschaftsbericht
= RB 1963 Nr. 39) vertretene Auffassung, das in § 147 BauG der
Baudirektion zugewiesene Aufsichtsrecht schliesse die Oberaufsicht des
Regierungsrates über das gesamte Gemeindewesen (§ 149 GG) nicht aus,
unhaltbar sei. Unbehelflich ist auch ihr Einwand, dass Art. 26 Abs. 2
der Dübendorfer Bauo mit dem Eintritt der Rechtskraft des Entscheids des
Bezirksrates dahingefallen sei und der Regierungsrat nicht befugt gewesen
sei, diese rechtskräftig aufgehobene Vorschrift neu zu dekretieren. Der
Regierungsrat hat sich nicht angemasst, anstelle der Gemeindebehörde
eine Norm der Gemeindebauordnung zu schaffen. Er hat den Entscheid
des Bezirksrates aufgehoben, womit Art. 26 Abs. 2 Bauo, wie er von der
Gemeindebehörde erlassen worden war, wieder Geltung erhielt. Es kann sich
daher nur fragen, ob der Regierungsrat den Entscheid des Bezirksrates
aufheben durfte, ohne damit gegen Art. 4 BV zu verstossen.

Erwägung 2

    2.- Das erscheint deshalb als zweifelhaft, weil es sich nicht um eine
gewöhnliche Verwaltungsverfügung handelte, sondern um einen Entscheid,
den der Bezirksrat ordnungsgemäss in einem unter Beteiligung der Parteien
durchgeführten Rekursverfahren getroffen hat und der nicht (gültig)
angefochten worden ist. Dass ein solcher Entscheid soll aufgehoben werden
können, nachdem er formell rechtskräftig geworden ist, erscheint unter
dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit als nicht unbedenklich. Immerhin
lässt die aargauische Praxis eine Aufhebung derartiger Rekursentscheide
wegen "eklatanter Rechtsverletzung und Verfahrensmängel" zu (vgl. BGE
90 I 230). Ob Rekursentscheide, die formell rechtskräftig sind, auch
nach Zürcher Recht vom Regierungsrat aufgehoben werden können, kann
dahingestellt bleiben, da, wie sich aus den weiteren Ausführungen ergibt,
hier jedenfalls die materiellen Voraussetzungen dafür fehlen.

    Nach der schweizerischen Rechtsprechung und Lehre können
Verwaltungsverfügungen allgemein von einer obern Aufsichtsbehörde
kraft ihres Aufsichtsrechts nur aufgehoben werden, wenn klares Recht,
wesentliche Verfahrensvorschriften oder öffentliche Interessen
offensichtlich missachtet worden sind (Urteil des Bundesgerichts
vom 7. Februar 1962, abgedruckt in ZBl 63/1962 S. 465 ff.; FLEINER,
Institutionen 8. Aufl. S. 229/30; GIACOMETTI, Allgemeine Lehren des
Verwaltungsrechts S. 475 Anm. 25). Das entspricht auch der zürcherischen
Praxis und Lehre (RB des Verwaltungsgerichts 1963 Nr. 39; METTLER aaO S.
377, welcher unter Hinweis auf zahlreiche Entscheide des Regierungsrates
beifügt, für aufsichtsrechtliches Einschreiten genüge es nicht, dass die
Aufsichtsbehörde selbst gegenüber einer mit guten Gründen vertretbaren
Rechtsauffassung oder Sachverhaltswürdigung einer andern Auslegung
des Gesetzes den Vorzug geben würde oder vom Tatbestandsermessen einen
abweichenden Gebrauch machen möchte). Ist es aber ganz allgemein nur unter
den genannten besonderen Voraussetzungen zulässig, aufsichtsrechtlich von
Amtes wegen den Entscheid einer untern Verwaltungsbehörde aufzuheben, so
muss dies erst recht gelten, wenn es sich um die Aufhebung eines formell
rechtskräftigen Rekursentscheides handelt. Da eine Verletzung wesentlicher
Verfahrensvorschriften im vorliegenden Falle nicht in Frage steht, würde
der angefochtene Entscheid, mit dem der Regierungsrat den Rekursentscheid
des Bezirksrates aufgehoben hat, dem Vorwurfe der Willkür somit nur dann
standhalten, wenn die dem Bezirksrat zugeschriebene Verletzung materiellen
Rechts geradezu in die Augen spränge oder wenn gewichtige öffentliche
Interessen missachtet worden wären.

Erwägung 3

    3.- Im Kanton Zürich kommt die Gesetzgebungsbefugnis auf dem Gebiete
des öffentlichen Baurechts zwar dem Kanton zu (vgl. BGE 93 I 160 Erw. 6
und dort angeführte frühere Urteile), doch sind die Gemeinden nach §§ 68
und 68 a BauG berechtigt und für gewisse Gebiete sogar verpflichtet zum
Erlass von Bauordnungen, deren Bestimmungen im allgemeinen nicht hinter den
Anforderungen des kantonalen Rechts (BauG oder EG/ZGB) zurückstehen dürfen.
Die im kantonalen Recht enthaltenen Regeln über Grenz- und Gebäudeabstände
(vgl. §§ 55 ff. BauG) stellen somit Minimalvorschriften dar, von denen
die Gemeinden durch Festsetzung grösserer Abstände abweichen können,
während die kantonalen Verwaltungsbehörden nicht befugt sind, ihrerseits
solche Abstände festzusetzen.

    Anders ist die Ordnung des Gewässerabstandes im WG. Aus § 100 Abs. 2
WG lässt sich mit guten Gründen ableiten, dass ausschliesslich die
Baudirektion einen grösseren Abstand als die in Abs. 1 vorgeschriebenen 5
m festsetzen könne, denn das WG erklärt nicht nur allein die Baudirektion
für die Anordnung eines grösseren als des normalen Abstandes zuständig,
sondern regelt auch das dabei einzuschlagende Verfahren klar und
eingehend. Ferner kann aus § 100 Abs. 3 WG wohl geschlossen werden,
dass in diesem Bereich die Regelung des kantonalen Rechts abschliessend
ist und abweichendem Gemeinderecht keinen Raum lässt, ist doch darin von
Ausnahmen von "diesen Abständen" d.h. von den in Abs. 1 und 2 genannten,
die Rede, was dafür spricht, dass es nach der Meinung des Gesetzgebers
keine andern Abstandsvorschriften gibt. Es verhält sich auch nicht so,
dass in § 100 WG ausschliesslich die wasserbaupolizeilichen Belange in
Betracht gezogen und alle andern Gesichtspunkte ausser acht geblieben
wären. Die Baudirektion kann an Gewässerstrecken immer dann grössere als
die normalen Abstände festsetzen, wenn es "ein öffentliches Interesse"
rechtfertigt, und das kann, wie der Regierungsrat im angefochtenen
Entscheid selbst ausführt, nicht nur ein wasserbauliches, sondern auch ein
anderes öffentliches Interesse sein, wobei nach dem Beleuchtenden Bericht
des Regierungsrates vor allem an die Erhaltung schutzwürdiger Uferpartien
gedacht wurde. Es lässt sich somit nicht sagen, § 100 WG enthalte eine rein
wasserbaupolizeiliche Ordnung und behalte zum Schutze weiterer öffentlicher
Interessen andere Normen vor, auch wenn er dies nicht ausdrücklich sage...

    Der Regierungsrat weist darauf hin, dass den Gemeinden nach einem
Entscheid des Verwaltungsgerichts (RB 1969 Nr. 60) gestattet sei,
aufgrund der §§ 68 ff. BauG ohne Sonderermächtigung einen Waldrandabstand
festzusetzen. Hieraus lässt sich zugunsten einer entsprechenden Befugnis
zur Festsetzung eines Gewässerabstandes indessen deshalb nichts ableiten,
weil das kantonale Recht überhaupt keine Waldabstandsvorschrift enthält,
während sich in § 100 WG eine eingehende Regelung des Gewässerabstandes
findet, die zudem in ihrer jetzigen Gestalt zeitlich nach den
entsprechenden Vorschriften des BauG entstanden ist. Diese Regelung
aber konnte der Bezirksrat, wie dargelegt wurde, mit guten Gründen als
abschliessend betrachten, und es kann daher nicht davon die Rede sein,
dass er offensichtlich das Recht verletzt hätte.

Erwägung 4

    4.- Der angefochtene Entscheid liesse sich somit nach dem in Erw. 2
Gesagten vor Art. 4 BV nur halten, wenn der Regierungsrat mit sachlichen
Gründen annehmen konnte, der Bezirksrat habe bei seinem Entscheid
offensichtlich öffentliche Interessen missachtet.

    Nach § 100 Abs. 2 WG kann die Baudirektion an Gewässerstrecken,
für die ein öffentliches Interesse es rechtfertigt, grössere Abstände
festsetzen. Die Gemeinde Dübendorf wendet in der Beschwerdeantwort
ein, die Initiative dazu liege ausschliesslich bei der Baudirektion;
die Gemeinde sei nicht befugt, die Anordnung erweiterter Abstände zu
verlangen. Die Baudirektion wird indessen ein entsprechendes Gesuch
der Gemeinde prüfen und ihm stattgeben müssen, wenn das öffentliche
Interesse eine Abstandserweiterung erfordert. Mit der vom Bezirksrat
angeordneten Aufhebung von Art. 26 Abs. 2 Bauo werden demnach die
öffentlichen Interessen, die allenfalls eine Erweiterung des gesetzlichen
Gewässerabstandes erheischen, nicht schutzlos preisgegeben; vielmehr kann
die Baudirektion von sich aus oder auf Ersuchen der Gemeinde jederzeit
einen grösseren Abstand festsetzen. Diese Lösung hat den Vorteil, dass
die Erweiterungen nach einheitlichen Kriterien erfolgen, wogegen sich,
falls jede Gemeinde den Abstand nach ihrem eigenen Ermessen erweitern
dürfte, von Gemeinde zu Gemeinde Unterschiede ergeben könnten, die nicht
durch tatsächlich verschiedene Verhältnisse gerechtfertigt wären... Es
bestehen demnach keine ernsthaften sachlichen Gründe für die Annahme,
der Bezirksrat habe bei seinem Entscheid die öffentlichen Interessen
offensichtlich missachtet, weshalb es gegen Art. 4 BV verstösst, dass der
Regierungsrat den formell rechtskräftigen Rekursentscheid des Bezirksrates
aufgehoben hat.

Erwägung 5

    5.- Ist der Entscheid des Regierungsrates wegen Verletzung des
Art. 4 BV aufzuheben, so braucht nicht geprüft zu werden, ob auch die
in der Beschwerde erhobene Rüge der Verletzung der Eigentumsgarantie
begründet sei.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Beschluss des Regierungsrates
des Kantons Zürich vom 23. April 1970 aufgehoben.