Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 I 604



97 I 604

83. Urteil vom 15. Oktober 1971 i.S. Polizeidepartement des Kantons
Solothurn gegen Hänggi und Eidg. Justiz und Polizeidepartement. Regeste

    Verwaltungsgerichtsbeschwerde: Zulässigkeit (Art. 101 lit. c/Art. 97
f. OG), Beschwerdelegitimation (Art. 103 OG).

    Der Entscheid des EJPD über den Nichtvollzug einer
Administrativmassnahme nach SVG ist keine Vollstreckungsverfügung; er kann
mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden. Die kantonale
Polizeibehörde ist hierzu jedoch nicht legitimiert.

Sachverhalt

    Am 31. Oktober 1969 überholte Hans Peter Hänggi mit seinem Lastenzug
auf der Strasse von Flumenthal nach Solothurn einen Personenwagen
mit Anhänger. Dabei missachtete er die Sicherheitslinie und die
dort zulässige Höchstgeschwindigkeit. Er wuwurde deswegen durch den
Amtsgerichtspräsidenten von Solothurn-Lebern zu einer Busse von Fr. 60.-
verurteilt. Das Polizeidepartement des Kantons Solothurn entzog ihm am
11. Dezember 1969 den Führerausweis für die Dauer eines Monats. Eine
gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht
des Kantons Solothurn am 22. Januar 1970 ab.

    In der Folge gelangte Hänggi an das Eidgenössische Justiz- und
Polizeidepartement (EJPD). Dieses wies mit Entscheid vom 21. Juni 1971
die Beschwerde ab, verfügte jedoch, dass die Administrativmassnahme nicht
mehr vollzogen werde.

    Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 28. Juli 1971
begehrt das Polizeidepartement des Kantons Solothurn, der Entscheid des
EJPD sei insoweit aufzuheben, als er anordne, die Massnahme sei nicht
zu vollziehen.

    Das EJPD beantragt, es sei auf die Beschwerde nicht einzutreten.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gegenstand der Anfechtung ist ein Beschwerdeentscheid
des EJPD, wonach die von der kantonalen Behörde verfügte und
vom EJPD bestätigte Administrativmassnahme nicht mehr vollzogen
wird. Gegen Departementsentscheide ist nach Art. 98 lit. b OG die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde grundsätzlich zulässig. Es kann sich
nur fragen, ob eine der in Art. 99 bis 102 OG aufgeführten Ausnahmen
auf den vorliegenden Fall zutrifft, insbesondere, ob der Entscheid
des EJPD eine Vollstreckungsverfügung darstellt, gegen welche die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nach Art. 101 lit. c OG nicht zulässig ist.

    Dies ist nicht der Fall. Vollstreckungsverfügungen im
Sinne von Art. 101 lit. c OG ändern an der Rechtsstellung des
Betroffenen nichts mehr. Ein schutzwürdiges Interesse, sie mit der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechten zu können, besteht deshalb
nicht, weil damit nur die aus irgendwelchen Gründen unterlassene oder
bereits rechtskräftig abgewiesene Beschwerde in einem späteren Zeitpunkt
nachgeholt bzw. wiederholt würde (BBl. 1965 II 1313). Die angefochtene
Verfügung des EJPD ändert dagegen den Entscheid der kantonalen Behörde
und damit auch die Rechtsstellung des Verfügungsadressaten. Sie stellt
eine neue, selbständige Verfügung dar, auf die keine der in Art. 99
bis 102 OG aufgeführten Ausnahmen zutrifft. Sie kann mithin mit der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden.

Erwägung 2

    2.- Zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist nach Art. 103 OG berechtigt:

    "a) wer durch die angefochtene Verfügung berührt ist und ein
schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat;

    b) das in der Sache zuständige Departement oder, soweit das
Bundesrecht es vorsieht, die in der Sache zuständige Dienstabteilung
der Bundesverwaltung gegen die Verfügung einer eidgenössischen
Rekurskommission, einer eidgenössischen Schiedskommission, einer letzten
kantonalen Instanz oder einer Vorinstanz im Sinne von Artikel 98 Buchstabe
h ...;"

    "c) jede andere Person, Organisation oder Behörde, die das Bundesrecht
zur Beschwerde ermächtigt."

    Zur Begründung der Legitimation des Polizeidepartements des
Kantons Solothurn fällt Art. 103 lit. b OG zum vorneherein ausser
Betracht. Diese Bestimmung betrifft nur Behörden des Bundes. Es ist daher
zu prüfen, ob dem kantonalen Polizeidepartement die Legitimation zur
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des EJPD nach lit. a
oder c des Art. 103 OG zukommt.

    a) Aus Art. 103 lit. a OG kann die Legitimation nicht
hergeleitet werden. Die nachfolgenden lit. b und c umschreiben in
bestimmter Weise, wann grundsätzlich eine Behörde zur Erhebung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde legitimiert ist. Ginge man davon aus,
dass eine kantonale Behörde zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde immer auch
dann legitimiert sein soll, wenn sie nach Art. 103 lit. a OG durch die
angefochtene Verfügung berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an
deren Änderung oder Aufhebung hat, so verlöre die systematische Gliederung
des Art. 103 OG völlig ihren Sinn; die lit. c wäre namentlich insoweit
gänzlich überflüssig, ja widersprüchlich, als sie die Legitimation der
nicht unter die lit. b fallenden Behörden von der Ermächtigung durch das
Bundesrecht abhängig macht.

    Aus der systematischen Gliederung und der Formulierung des Art. 103
OG ergibt sich, dass die lit. a grundsätzlich nicht die Legitimation
von Behörden betrifft. Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass eine
kantonale Behörde, wenn sie durch eine Verfügung in ähnlicher oder gleicher
Weise betroffen wird wie Private und sie ein schutzwürdiges Interesse
an der Aufhebung oder Änderung dieser Verfügung hat, ihre Legitimation
zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde aus Art. 103 lit. a OG herleiten kann
(vgl. hierzu BGE 92 I 63; 74 I 50; auch 96 I 328 und 467; 95 I 53;
W. BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, S. 436; F. GYGI, Verwaltungsrechtspflege
und Verwaltungsverfahren im Bund, S. 117 Ziff. 5, 6).

    Diese Auslegung wird durch den Werdegang des Art. 103 OG bestätigt. In
den Beratungen der nationalrätlichen Kommission wurde wohl die Frage
aufgeworfen, ob nicht die Kantone ermächtigt werden sollten, gegen einen
Entscheid einer Bundesstelle Beschwerde zu führen (vgl. Protokoll der
2. Sitzung vom 17./18. Januar 1966, S. 55 f.). Ins Gesetz wurde eine
entsprechende Bestimmung in der Folge jedoch nicht aufgenommen.

    b) Die Legitimation. des Polizeidepartements des Kantons Solothurn
lässt sich auch nicht auf Art. 103 lit. c OG stützen.

    Das Bundesrecht kennt keine Bestimmung, welche die zum Entzug des
Führerausweises zuständige kantonale Behörde ermächtigt, gegen den
Entscheid des EJPD Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu erheben. Art. 24
Abs. 1 zweiter Satz SVG enthält keine solche Bestimmung: Dort ist nur von
der Beschwerde an eine kantonale Oberbehörde die Rede und wird das Recht
dazu nur demjenigen Kanton eingeräumt, der die Administrativmassnahme
beantragt hat (Art. 23 Abs. 2 SVG), nicht aber dem zur Anordnung der
Massnahme zuständigen Kanton. Der Gesetzgeber schliesst damit, dass er
im zweiten Satz des Art. 24 Abs. 1 SVG ausdrücklich bestimmt, welcher
Kanton zur Beschwerde an eine kantonale Oberbehörde legitimiert ist, das
Beschwerderecht eines andern, namentlich des zum Entzug des Führerausweises
zuständigen Kantons aus.

    Art. 24 Abs. 1 zweiter Satz SVG ist im vorliegenden Fall für die
Administrativbehörden des Kantons Solothurn nicht anwendbar, da hier der
Entzug des Führerausweises in ihre Zuständigkeit fällt.

    c) Kann demnach die Legitimation des Polizeidepartements des Kantons
Solothurn zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde aus Art. 103 OG nicht
hergeleitet werden, ist auf die Beschwerde nicht einzutreten.