Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 I 45



97 I 45

7. Auszug aus dem Urteil vom 17. Februar 1971 i.S. X. gegen
Bezirksanwaltschaft Zürich und Justizdirektion des Kantons Zürich. Regeste

    Persönliche Freiheit; Untersuchungshaft.

    Die durch ungeschriebenes Verfassungsrecht des Bundes gewährleistete
persönliche Freiheit schützt als verfassungsrechtlicher Leitgrundsatz alle
Freiheiten, welche elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung
des Menschen darstellen. Sie bietet auf diese Weise einen umfassenden
Grundrechtsschutz, der sich auf den Inhalt und Umfang der übrigen
verfassungsmässig gewährleisteten Freiheitsrechte entscheidend auswirkt;
sie gilt als notwendige Voraussetzung für deren Ausübung und wirkt überdies
als unmittelbar anwendbares Verfassungsrecht in dem Sinne komplementär,
als sich der Bürger in Fällen, in denen kein dem geschriebenen oder
ungeschriebenen Verfassungsrecht angehörendes Freiheitsrecht in Frage
steht, zum Schutz seiner Persönlichkeit und Menschenwürde auf sie
berufen kann.

    Der Untersuchungsgefangene darf in seiner individuellen Freiheit
nicht weiter beschränkt werden, als es der Zweck der Untersuchung und
die Gefängnisordnung erfordern; er darf während der Untersuchungshaft
insbesondere nicht zur Arbeit verpflichtet werden.

Sachverhalt

    A.- § 76 der zürcherischen Strafprozessordnung (StPO) lautet wie folgt:

    "Die Untersuchungsverhafteten werden, wenn nicht besondere Gründe
entgegenstehen, in Einzelhaft verwahrt.

    Sie werden bezüglich Nahrung und Kleidung wie die zu Haft Verurteilten
gehalten.

    Im übrigen dürfen sie in ihrer Freiheit nicht mehr beschränkt werden,
als der Zweck des Verhaftes es erfordert.

    Ordnungswidriges Betragen des Verhafteten wird mit Ordnungsbusse
oder mit den in der Hausordnung für die Bezirksgefängnisse vorgesehenen
Disziplinarstrafen geahndet, und zwar während der Untersuchung vom
Untersuchungsbeamten und nach Überweisung an das Gericht durch das
letztere".

    Die zürchereische Verordnung über die Bezirksgefängnisse vom 7. Februar
1963 (GefängnisVO) enthält hiezu folgende ergän zende Bestimmungen:

    § 60

    "Untersuchungsgefangene können sich gemäss § 33 Absatz 2 selbst
beschäftigen.

    Die Untersuchungs- oder Anklagebehörde kann die Zuweisung von Arbeit
schriftlich untersagen."

    § 33 Abs. 2 und 3

    "Gefangene, die berechtigt sind, sich selbst Arbeit zu beschaffen...,
können dies nur im Rahmen der Gefängnisordnung tun (insbesondere Einhaltung
der Tagesordnung, Beschränkung hinsichtlich der Besuche und Briefe). Die
Arbeit nach eigener Wahl ist in Einzelhaft auszuführen. Arbeiten, welche
die Sicherheit des Gefängnisses oder den Zweck der Inhaftierung gefährden
oder die der Verwaltung erhebliche zusätzliche Umtriebe verursachen,
sind unzulässig.

    Beschäftigt sich der hiezu berechtigte Gefangene nicht selber, so
hat er die ihm zugewiesene Arbeit zu verrichten".

    B.- Frl. X. steht bei der Bezirksanwaltschaft Zürich in
Strafuntersuchung und befindet sich seit 31. August 1970 in
Untersuchungshaft. Ihr Verteidiger liess der Gefängnisverwaltung mit
Zustimmung des zuständigen Bezirksanwalts Malutensilien zugehen mit
der Bitte, diese der Untersuchungsgefangenen auszuhändigen. Die Wärterin
lehnte dieses Begehren jedoch ab mit der Begründung, Frl. X. weigere sich,
die ihr zugewiesenen Klebearbeiten auszuführen, weshalb ihr auch keine
Freizeitbeschäftigung gestattet werden könne. Der Verteidiger stellte
hierauf beim zuständigen Bezirksanwalt das förmliche Gesuch, es sei
Frl. X. das erwähnte Malzeug auszuhändigen. Dieser wies indessen das Gesuch
am 16. November 1970 ab und verwies zur Begründung auf die Vernehmlassung
der Gefängnisverwaltung, in welcher ausgeführt wurde, dem Begehren könne
mit Rücksicht auf die Gefängnisordnung nicht stattgegeben werden.

    C.- Frl. X. erhob gegen die Verfügung des Bezirksanwalts Rekurs bei der
Justizdirektion mit dem Antrag, die Gefängnisverwaltung sei anzuweisen,
ihr das Malen in der Untersuchungshaft zu gestatten. Die Justizdirektion
wies den Rekurs am 2. Dezember 1970 ab, und zwar im wesentlichen mit
folgender Begründung: Der angefochtene Entscheid des Bezirksanwalts
stelle eine Disziplinarmassnahme dar. Der Rekurrentin werde das Malzeug
vorenthalten, weil sie sich weigere, die ihr zugewiesene Arbeit zu
verrichten. Hinsichtlich der Arbeitspflicht der Untersuchungsgefangenen
gälten grundsätzlich die gleichen Vorschriften wie für die Strafgefangenen,
mit der Ausnahme, dass sich jene selbst eine Beschäftigung verschaffen
könnten (§§ 33 und 60 GefängnisVO). Die Rekurrentin mache zu Unrecht
geltend, die Arbeitspflicht der Untersuchungsgefangenen verstosse gegen
die verfassungsmässig gewährleistete persönliche Freiheit. Wohl dürften
die Untersuchungshäftlinge in ihrer Freiheit nicht mehr beschränkt werden,
als es der Zweck der Verhaftung erfordere (§ 76 Abs. 3 StPO); ebenso sei
richtig, dass diese Bestimmung bezwecke, den Untersuchungsgefangenen eine
dem Leben ausserhalb der Anstalt möglichst angenäherte Lebensführung
zu ermöglichen. Da jedoch die grosse Mehrheit der Bevölkerung einer
auf den Erwerb ausgerichteten Arbeit nachgehe, dürften auch die
Untersuchungsgefangenen zur Arbeit verhalten werden, da ihnen § 76 Abs. 3
StPO keine grösseren Freiheiten gewährleiste, als sie der Bürger nach
allgemein herrschender Überzeugung geniesse, zumal es heute noch einer
ethisch begründeten Auffassung entspreche, dass ein gesunder Mensch im
arbeitsfähigen Alter einer geordneten Beschäftigung nachzugehen habe; wer
dies nicht tue, stehe ausserhalb der Gesellschaft. Die resozialisierende
Wirkung der Arbeit solle im übrigen auch dem Untersuchungsgefangenen
zuteil werden; dies gelte insbesondere für die zur Verwahrlosung
neigenden Elemente, die keiner geordneten Arbeit nachgingen. Da mithin
auch Untersuchungsgefangene zur Arbeit angehalten werden dürften, bleibe
lediglich zu prüfen, ob die Rekurrentin ihrer Arbeitspflicht in genügendem
Masse nachkomme, wenn sie sich durch Malen selbst beschäftige. Dies sei zu
verneinen, denn sie habe eine kaufmännische Ausbildung genossen, so dass
in der Malerei lediglich ein Zeitvertreib erblickt werden könne, der einer
Erwerbstätigkeit, wie sie in der Freiheit üblich sei, offensichtlich nicht
entspreche. Die Rekurrentin, welche ihrer Arbeitspflicht nicht nachkomme,
sei daher disziplinarisch zu bestrafen. Die angefochtene Massnahme sei
angemessen und gebe somit keinen Anlass zu Kritik.

    D.- Frl. X. führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der
persönlichen Freiheit (Art. 7 KV). Sie beantragt, der Entscheid vom
2. Dezember 1970 sei aufzuheben und die Justizdirektion sei anzuweisen,
ihr die freie Beschäftigung, namentlich das Malen, in der Untersuchungshaft
zu gestatten. Die Beschwerdebegründung ergibt sich, soweit wesentlich,
aus den nachfolgenden Erwägungen.

    E.- Die Justizdirektion des Kantons Zürich beantragt in ihrer
Vernehmlassung, die Beschwerde sei abzuweisen. Die Bezirksanwaltschaft
Zürich hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Formelles).

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführerin macht geltend, der angefochtene
Entscheid verstosse gegen die in Art. 7 KV gewährleistete persönliche
Freiheit. Dieses Grundrecht gehört nach heute herrschender Auffassung
dem ungeschriebenen Verfassungsrecht des Bundes an (BGE 95 I 359,
90 I 34 Erw. 3, 89 I 98 Erw. 3). Die entsprechenden Garantien in den
Kantonsverfassungen haben demnach keine selbständige Bedeutung, sofern
sie nicht weiter gehen als die bundesrechtliche Gewährleistung. Dass
dies für Art. 7 KV zutreffe, behauptet die Beschwerdeführerin mit Recht
nicht. Zu prüfen bleibt demnach bloss, ob der angefochtene Entscheid vor
dem ungeschriebenen Verfassungsrecht des Bundes standhält.

Erwägung 3

    3.- Das Bundesgericht hat im grundlegenden Entscheid BGE 90 I 36
ausgeführt, dem Grundrecht der persönlichen Freiheit komme insoweit
überragende Bedeutung zu, als es als notwendige Voraussetzung
für die Ausübung der übrigen verfassungsrechtlich gewährleisteten
Freiheitsrechte zu gelten habe; die persönliche Freiheit garantiere
somit nicht bloss das Recht auf freie Bewegung bzw. körperliche
Unversehrtheit, sondern schütze den Bürger vielmehr auch in der
ihm eigenen Fähigkeit, eine bestimmte tatsächliche Begebenheit zu
würdigen und danach zu handeln. Mit dieser Rechtsprechung hat sich das
Bundesgericht zwar nicht die Auffassung GIACOMETTIS zu eigen gemacht,
wonach die Verfassung - unter Vorbehalt ausdrücklicher Ausnahmen -
überhaupt jede individuelle Freiheit gewährleistet, die durch einen
staatlichen Eingriff je verletzt werden könnte (Z. GIACOMETTI, Die
Freiheitsrechtskataloge als Kodifikation der Freiheit, ZSR 74/1955,
S. 149 ff.; vgl. dazu auch Y. HANGARTNER, Die Freiheitsgarantie der
Bundesverfassung, ZBl 70/1969, S. 337 ff.; kritisch JÖRG P. MÜLLER, Die
Grundrechte der Verfassung und der Persönlichkeitsschutz des Privatrechts,
Diss. Bern 1964, S. 134 ff., und P. SALADIN, Grundrechte im Wandel, Bern
1970, S. 289 sowie BGE 96 I 107, 223/4). Es hat sich jedoch im erwähnten
Urteil BGE 90 I 36 in unzweideutiger Weise zu einer Wertordnung bekannt,
die es sich zur Aufgabe macht, "die Menschenwürde und den Eigenwert des
Individuums sicherzustellen" (GIACOMETTI aaO, S. 165). Die in diesem Sinne
institutionell verstandene persönliche Freiheit gewährleistet somit als
verfassungsrechtlicher Leitgrundsatz alle Freiheiten, welche elementare
Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung des Menschen darstellen;
sie bietet auf diese Weise einen umfassenden Grundrechtsschutz, der sich
auf den Inhalt und Umfang der übrigen verfassungsmässig gewährleisteten
Freiheitsrechte entscheidend auswirkt. Die persönliche Freiheit in
diesem Sinne ist zwar mit den andern Freiheitsrechten der Verfassung
nicht identisch und kann deshalb grundsätzlich nicht zum Schutz gegen
Beschränkungen derselben angerufen werden (BGE 88 I 272); sie gilt indessen
als notwendige Voraussetzung für deren Ausübung und wirkt überdies als
unmittelbar anwendbares Verfassungsrecht in dem Sinne komplementär,
als sich der Bürger in Fällen, in denen kein dem geschriebenen oder
ungeschriebenen Verfassungsrecht angehörendes Freiheitsrecht in Frage
steht, zum Schutz seiner Persönlichkeit und Menschenwürde auf sie
berufen kann.

    Die persönliche Freiheit gehört zum Kreis der unverzichtbaren und
unverjährbaren Rechte (BGE 90 I 37 mit Verweisungen). Daraus folgt
namentlich, dass der Bürger dem Staate gegenüber nicht zum voraus und
endgültig darauf verzichten kann. Das heisst indessen nicht, dass die
persönliche Freiheit keinen Beschränkungen unterliegt. Eingriffe sind
jedoch nur zulässig, wenn sie auf gesetzlicher Grundlage beruhen, im
öffentlichen Interesse liegen und wenn sie das Grundrecht überdies
weder völlig unterdrücken noch seines Gehalts als fundamentale
Institution unserer Rechtsordnung entleeren (BGE 95 I 360 Erw. 2,
91 I 34 Erw. 2, 90 I 36/7). Der Wesenskern der persönlichen Freiheit
geniesst somit einen absoluten Schutz. Welche Beschränkungen vor der
Freiheitsgarantie standhalten, lässt sich jedoch mit Rücksicht auf
die dem Wandel unterworfene ethische Wertordnung und in Anbetracht
der sich verändernden Sozialverhältnisse nicht ein für allemal
verbindlich festsetzen. Ob staatliche Eingriffe mit der persönlichen
Freiheit vereinbar sind, ist vielmehr von Fall zu Fall zu entscheiden
(BGE 90 I 37). Als Leitidee hat dabei die Erhaltung eines Staatswesens
zu gelten, welches dem Bürger in jedem Fall ein bestimmtes Mindestmass an
persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten belässt. Ebenso sind der Entscheidung
je nach den Verhältnissen des konkreten Falles die einer rechtsstaatlichen
Freiheitsidee entsprechenden philosophischen und ethischen Prinzipien
zugrunde zu legen, die jedoch ihrerseits gewissen Wandlungen unterworfen
sein können. Weiter hat der Verfassungsrichter bei der Umschreibung der
geschützten Freiheitssphäre den Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu
beachten und eine Wertung der sich gegenüberstehenden Rechtsgüter und
Interessen vorzunehmen. Nicht zuletzt hat er auch rechtsvergleichende
Überlegungen anzustellen und nötigenfalls Grundsätze zu berücksichtigen,
wie sie den von überstaatlichen Organisationen aufgestellten Normen
innewohnen.

Erwägung 4

    4.- Wohl obliegt die Mehrzahl der gesunden und arbeitsfähigen Bürger
einer Erwerbstätigkeit, um daraus den Lebensunterhalt bestreiten zu können.
Eine Rechtspflicht hiezu besteht indessen grundsätzlich nicht (vgl. Art. 1
des Internationalen Übereinkommens von Genf über Zwangs- und Pflichtarbeit
vom 28. Juni 1930; BS 14, S. 38 ff.). In der Tat entspricht es einer
freiheitlichen abendländischen Rechtsauffassung, dass ein freier Bürger,
dessen Einkommens- und Vermögensverhältnisse es ihm gestatten, auf eine
Erwerbstätigkeit zu verzichten, grundsätzlich nicht zur Arbeit gezwungen
werden darf (vgl. dazu auch Art. 4 Ziff. 2 der Europäischen Konvention
zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950
(abgedruckt in BBl 1968, S. 1147 ff.), der die Schweiz allerdings noch
nicht beigetreten ist; vgl. die entsprechende Botschaft des Bundesrats
vom 9. Dezember 1968, BBl 1968, S. 1057). Dieser Grundsatz, der seine
Rechtfertigung unmittelbar in der soeben umschriebenen persönlichen
Freiheit (Erw. 3) findet, gilt indessen nicht schrankenlos. In den
erwähnten internationalen Konventionen werden denn auch Verpflichtungen
zu gewissen Arbeitsleistungen (namentlich solche der rechtskräftig
verurteilten Strafgefangenen) ausdrücklich vorbehalten (Art. 2 Ziff. 2
des Übereinkommens vom 28. Juni 1930, BS 14, S. 39; Art. 4 Ziff. 3 der
Europäischen Menschenrechtskonvention, BBl 1968, S. 1148). Derartige
Beschränkungen der persönlichen Freiheit halten indessen vor der
Bundesverfassung nur stand, wenn sie auf gesetzlicher Grundlage beruhen, im
öffentlichen Interesse liegen bzw. verhältnismässig sind und den Wesenskern
der individuellen Freiheit unangetastet lassen. Nach diesen Grundsätzen
ist somit im vorliegenden Fall zu prüfen, ob der Untersuchungsgefangene
während der Untersuchungshaft zu Arbeitsleistungen verhalten werden darf.

    a) Die Beschwerdeführerin steht als Untersuchungsgefangene in einem
sog. besonderen Gewaltverhältnis zum Staat. Wohl bedarf die zwangsweise
Begründung eines solchen Gewaltverhältnisses (z.B. Eintritt in den
Militärdienst, Anstaltsversorgung, Einweisung in eine Strafanstalt) als
Beschränkung der individuellen Freiheit in jedem Fall einer hinreichenden
gesetzlichen Grundlage, welche das Bundesgericht frei prüft, wenn die
Freiheitsbeschränkung - was für den vorliegenden Fall offensichtlich
zutrifft - besonders schwer wiegt (vgl. BGE 90 I 39 Erw. 4 a.E.). Das
Bundesgericht hat jedoch stets davon abgesehen, für jede einzelne
Beschränkung der persönlichen Freiheit, die sich aus der Natur des in
Frage stehenden besonderen Gewaltverhältnisses ergibt, eine entsprechende
explizite gesetzliche Grundlage zu verlangen. Die Gewaltunterworfenen
haben die sich aus dem Gewaltverhältnis notwendigerweise ergebenden
Eingriffe in ihre individuelle Freiheit auf sich zu nehmen, unbekümmert
darum, ob sie in einer Norm ausdrücklich vorgesehen sind (vgl. A.
GRISEL, Droit administratif suisse, p. 166). Selbst wenn davon
auszugehen wäre, es sei in diesem Fall zum mindesten eine gesetzliche
Generalklausel erforderlich, welche es dem Gewaltinhaber erlauben würde,
die Freiheitssphäre des Gewaltunterworfenen angemessen zu beschränken
(vgl. G. KÖHL, Die besonderen Gewaltverhältnisse im öffentlichen Recht,
Diss. Zürich 1955, S. 92), so wäre im vorliegenden Fall eine hinreichende
gesetzliche Grundlage vorhanden, denn § 76 Abs. 3 StPO sieht vor, dass der
Untersuchungsgefangene in seiner Freiheit beschränkt werden darf, soweit
es der Zweck der Haft erfordert. Es braucht daher nicht geprüft zu werden,
ob sich der umstrittene Arbeitszwang allenfalls unmittelbar auf die von
der Justizdirektion angerufenen Bestimmungen der Gefängnisverordnung (§
60 Abs. 1 in Verbindung mit § 33 Abs. 2 und 3) stützen liesse.

    b) Die Zulässigkeit der angefochtenen Freiheitsbeschränkung hängt nach
dem Gesagten entscheidend davon ab, ob sie als verhältnismässig bezeichnet
werden kann, d.h. ob das öffentliche Interesse an der Durchführung
einer auf die Erforschung der materiellen Wahrheit ausgerichteten
Strafuntersuchung eine Beschränkung der sich unmittelbar aus dem Grundrecht
der persönlichen Freiheit ergebenden elementaren Befugnis auf freie
Beschäftigung erheischt. Diese Frage prüft das Bundesgericht frei.

    Die Untersuchungshaft bezweckt, die ordnungsgemässe Durchführung
einer Strafuntersuchung sicherzustellen; sie soll verhindern, dass der
Angeschuldigte sich dem Verfahren durch Flucht entzieht oder dass er die
Spuren seiner Straftat verwischen und damit die Abklärung des Sachverhalts
vereiteln kann (BGE 96 IV 46; vgl. auch V. SCHWANDER, Das schweizerische
Strafgesetzbuch, 2. Aufl., S. 236 ff.; F. CLERC, La détention avant
jugement, in: Recueil de travaux suisses présentés au VIIIe Congrès
international de droit comparé, Bâle 1970, p. 396 ss.; MARKUS MEYER,
Der Schutz der persönlichen Freiheit im rechtsstaatlichen Strafprozess,
Diss. Zürich 1962, S. 94). Die Anordnung der Untersuchungshaft ist an
bestimmte Voraussetzungen geknüpft (Bestehen hinreichender Verdachtsgründe,
Flucht- oder Kollusionsgefahr) und darf den Betroffenen in seiner
individuellen Freiheit nicht weiter beschränken, als es der Zweck der
Untersuchung bzw. die Aufrechterhaltung einer vernünftigen Gefängnisordnung
erfordert (§ 49 Abs. 1 und § 76 Abs. 3 StPO; vgl. auch Art. 48 Abs. 1
BStP und die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts zu
Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes, z.B. Entscheidungen Bd. 27 S. 219, Bd. 20
S. 49 und 147, Bd. 19 S. 347). Die Untersuchungshaft ist von der Strafhaft,
d.h. vom Vollzug einer vom Richter ausgesprochenen Freiheitsstrafe i.S. von
Art. 35 ff. StGB streng zu trennen, denn sie bezweckt nach dem Gesagten
nicht das gleiche wie diese (vgl. Art. 37 StGB und V. SCHWANDER, aaO,
S. 168 ff.). Dass die Untersuchungshaft unter bestimmten Voraussetzungen
auf die Freiheitsstrafe anzurechnen ist (Art. 69 StGB), ändert daran
nichts. Für resozialisierende Massnahmen zum Zwecke der Arbeitserziehung
bleibt somit während der Untersuchungshaft kein Raum, denn es kann nicht
ernstlich behauptet werden, der Untersuchungsgefangene müsse im Interesse
der Strafuntersuchung zur Arbeit verhalten werden. Das Grundrecht der
persönlichen Freiheit garantiert vielmehr auch dem Untersuchungsgefangenen
das Recht auf freie Beschäftigung, soweit dadurch die Anstaltsordnung nicht
gefährdet wird. Die schweizerische Lehre geht denn auch einhellig davon
aus, dass der Untersuchungshäftling nicht zur Arbeit gezwungen werden
darf (F. CLERC, aaO, S. 405; derselbe, Réflexions sur la détention
préventive, in: Etudes pénologiques dédiées à la mémoire de Sir Lionel
Fox, La Haye, 1964, p.60; MARKUS MEYER aaO, S. 138; M. SANDMEIER,
Die Untersuchungshaft im Schweiz. Strafprozessrecht, Diss. Bern 1909,
S. 178). Zum gleichen Ergebnis gelangen auch die französische Doktrin
(vgl. H. DONNEDIEU DE VABRES, Traité de droit criminel, 3e éd. no 1311 p.
752; BOUZAT-PINATEL, Traité de droit pénal et de criminologie, Tome II,
Procédure pénale, 1970, no 1282 p. 1224) und die deutsche Lehre (vgl. H.
GERLAND, Der deutsche Strafprozess, Leipzig 1927, S. 262; EBERHARDT
SCHMIDT, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung, Teil II, 1957, N. 8 zu §
116 StPO, S. 304; LÖWE-ROSENBERG-DÜNNEBIER, Die Strafprozessordnung,
21. Aufl., Ergänzungsband 1967, S. 209 unten; BRUN-HAGEN HENNERKES,
Die Grundrechte des Untersuchungsgefangenen, Diss. Freiburg i.Br. 1966,
S. 116). Ebenso wird die Arbeitspflicht der Untersuchungsgefangenen in
Art. 2 Ziff. 2 lit. c des zitierten Genfer Übereinkommens über Zwangs-
oder Pflichtarbeit vom 28. Juni 1930 sinngemäss verpönt (vgl. Rapport
de la trentehuitième session (1968) de la Commission d'experts pour
l'application des conventions et recommendations; Bureau International du
Travail, Genève 1968, S. 222). Schliesslich sieht Ziff. 89 der "Règles
minima pour le traitement des détenus", wie sie vom "Premier Congrès des
Nations Unies pour la Prévention du Crime et le Traitement des Délinquants"
(Genève, 22 août - 3 septembre 1955) aufgestellt (vgl. Rapport, New York,
1956, S. 79) und vom Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinigten Nationen
am 31. Juli 1957 genehmigt worden sind (Doc. E/3048, p. 12), ausdrücklich
vor, dass Untersuchungsgefangene nicht zur Arbeit verhalten werden dürfen.

Erwägung 5

    5.- Da die Beschwerdeführerin nicht zur Arbeit verpflichtet werden
kann, erweist sich die gegen sie verhängte Disziplinarmassnahme als
verfassungswidrig. Das Grundrecht der persönlichen Freiheit erheischt,
der Beschwerdeführerin während der Untersuchungshaft wie den übrigen
Untersuchungsgefangenen das Recht auf freie Beschäftigung zuzuerkennen, wie
es der zürcherische Gesetzgeber im übrigen in § 60 Abs. 1 in Verbindung mit
§ 33 Abs. 2 GefängnisVO ausdrücklich vorgesehen hat. Dabei ist unerheblich,
ob die von der Beschwerdeführerin gewählte Beschäftigung als eigentliche
Erwerbstätigkeit bezeichnet werden kann oder als blosser Zeitvertreib
anzusehen ist. Dass das Malen in der Zelle die Gefängnisordnung in
unzulässiger Weise beeinträchtige oder den Zweck der Untersuchung
gefährde, wird im übrigen weder von der Gefängnisverwaltung noch von
der Justizdirektion behauptet, so dass einer entsprechenden Erlaubnis
grundsätzlich nichts entgegensteht. Die Gefängnisverwaltung hat freilich
das Recht, der Beschwerdeführerin bestimmte, sich aus den räumlichen
Verhältnissen ergebende Beschränkungen aufzuerlegen. Mit Rücksicht darauf
ist davon abzusehen, die kantonalen Behörden im Dispositiv des vorliegenden
Entscheids in der von der Beschwerdeführerin begehrten allgemeinen Form
anzuweisen, ihr das Malen zu gestatten (vgl. oben Erw. 1). Das ändert
indessen nichts daran, dass die Gefängnisverwaltung gehalten ist,
dem Begehren der Beschwerdeführerin in einem mit der Gefängnisordnung
vereinbaren Mass zu entsprechen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid der
Justizdirektion des Kantons Zürich vom 2. Dezember 1970 aufgehoben.