Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 I 309



97 I 309

44. Auszug aus dem Urteil vom 9. Juni 1971 i.S. X. gegen Ernst Sutter AG
und Rekursrichter für Schuldbetreibung und Konkurs des Kantonsgerichtes
St.Gallen. Regeste

    Art. 190 Abs. 1 Ziff. 1 SchKG.

    Eine Konkurseröffnung ohne vorgängige Betreibung wegen betrügerischer
Handlungen setzt voraus, dass schon vor deren Begehung zwischen dem Täter
und dem Geschädigten ein Schuldverhältnis bestanden hat. Ausserdem müssen
die betrügerischen Handlungen geeignet und in der Absicht begangen worden
sein, die Befriedigung der (bestehenden) Forderungsrechte des Gläubigers
zu vereiteln oder zu erschweren.

Sachverhalt

    A.- X. betreibt in St. Gallen eine Metzgerei. Am 12.  November 1970
wurde er beim Diebstahl von Fleischwaren in den Lagerräumlichkeiten
der Fleisch- und Wurstwarenfabrik Ernst Sutter AG in Teufen ertappt
und sofort verhaftet. Er gestand, zusammen mit einem weiteren Täter im
Verlaufe ungefähr eines Jahres wiederholt bei der Firma Ernst Sutter AG
Fleischwaren im Werte von etwa Fr. 20'000.-- und bei der Firma Frigaliment
in St. Margreten solche im Werte von etwa Fr. 30'000.-- gestohlen zu haben.
Die gestohlene Ware hatte er in seiner Metzgerei verkauft.

    B.- Die Firma Ernst Sutter AG stellte wegen der zu ihrem Nachteil
verübten Diebstähle gestützt auf Art. 190 Abs. 1 Ziff. 1 SchKG gegen
X. das Begehren auf Konkurseröffnung ohne vorgängige Betreibung.

    Der Einzelrichter in Konkurssachen des Bezirksgerichtes St. Gallen
entsprach diesem Begehren und eröffnete am 3. Dezember 1970 den Konkurs
über X., weil dieser durch die Diebstähle zum unehrlichen Schuldner
der Firma Ernst Sutter AG im Sinne von Art. 190 Abs. 1 Ziff. 1 SchKG
geworden sei.

    C.- Der Rekursrichter für Schuldbetreibung und Konkurs des
Kantonsgerichtes St. Gallen wies eine hiegegen eingereichte Berufung am
19. Januar 1971 ab. Er begründete seinen Entscheid damit, dass X. zwar -
entgegen der Annahme des erstinstanzlichen Konkursrichters - nicht durch
die zum Nachteil der Gläubigerin, der Ernst Sutter AG, verübten Diebstähle,
jedoch durch die Veräusserung der gestohlenen Ware betrügerische Handlungen
im Sinne von Art. 190 Abs. 1 Ziff. 1 SchKG begangen habe.

    D.- X. führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4
BV durch willkürliche Auslegung von Art. 190 SchKG. Er verlangt, es sei
der Entscheid des Rekursrichters vom 19. Januar 1971 aufzuheben und das
Konkurseröffnungsbegehren abzuweisen.

    E.- Der Rekursrichter hält in seiner Vernehmlassung an seiner Auslegung
des Art. 190 SchKG fest.

    Die Firma Ernst Sutter AG beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Prozessuales).

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 190 Abs. 1 Ziff. 1 SchKG kann ohne vorgängige
Betreibung der Konkurs eröffnet werden u.a. über jeden "Schuldner",
der zum Nachteile der "Gläubiger" betrügerische Handlungen begangen
oder zu begehen versucht hat (nach dem französischen bzw. italienischen
Text: "actes commis en fraude des droits de ses créanciers" bzw. "atti
fraudolenti in pregiudizio dei suoi creditori").

    Schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht hervor, dass der
Täter der betrügerischen Handlung schon vor deren Begehung Schuldner
des durch die Tat Geschädigten gewesen sein muss, dass daher die
Voraussetzungen für eine sofortige Konkurseröffnung nicht erfüllt
sind, wenn das Schuldverhältnis erst als Folge der betrügerischen
Handlung entstanden ist. Der Wortlaut dieser Bestimmung entspricht
auch ihrem Sinn. Art. 190 Abs. 1 Ziff. 1 SchKG dient der sofortigen
Zwangsvollstreckung bestehender Forderungen, falls der Schuldner
die Ansprüche seiner Gläubiger durch bestimmte Handlungen derart
gefährdet, dass ihnen billigerweise die Einschlagung des ordentlichen
schuldbetreibungsrechtlichen Verfahrens nicht mehr zugemutet werden
kann (BLUMENSTEIN, Handbuch des Schweiz. Schuldbetreibungsrechts,
1911, S. 595; LEEMANN, Die Konkursgründe nach dem Bundes-Gesetz über
Schuldbetreibung und Konkurs vom 11. April 1889, Diss. Bern 1904,
S. 44; Botschaft des Bundesrates vom 6. April 1886 zum SchKG, S. 50,
51, 69). Dementsprechend setzen die in dieser Bestimmung genannten
Konkursgründe ein bereits bestehendes Schuldverhältnis voraus. Dies
steht zum vornherein fest inbezug auf die in Art. 190 Abs. 1 Ziff. 1
SchKG zusätzlich erwähnten speziellen Tatbestände der Schuldenflucht
und der Pfandverheimlichung. Es muss aber auch gelten inbezug auf den
allgemeinen Tatbestand der "betrügerischen Handlungen", welcher nur dann
einen Konkursgrund bilden kann, wenn die dadurch Geschädigten bereits zur
Zeit der Begehung Gläubiger des Täters waren, nicht schon, wenn sie es
erst durch die Tat geworden sind (ZBJV Bd. 50 S. 143 und Bd. 76 S. 250;
ZR Bd. 34 Nr. 103). Die gegenteilige Auffassung würde dazu führen, dass
gegen jeden Täter eines Vermögensdeliktes auf Begehren des Geschädigten
allein wegen der durch die Tat entstandenen Deliktsforderung der Konkurs
ohne vorherige Betreibung zu eröffnen wäre. Mit Art. 190 SchKG wäre dies
schlechterdings unvereinbar. Wollte man, wie dies der erstinstanzliche
Richter stillschweigend getan hat, die zum Nachteil der Firma Ernst
Sutter AG begangenen Diebstähle betreibungsrechtlich als eine einheitliche
betrügerische Handlung ansehen, so wäre eine sofortige Konkurseröffnung
gemäss Art. 190 Abs. 1 Ziff. 1 SchKG mangels eines vorbestehenden
Schuldverhältnisses zum vornherein ausgeschlossen.

Erwägung 3

    3.- Man könnte allerdings ohne Willkür die während mindestens eines
Jahres verübten Diebstähle als eine Mehrzahl einzelner betrügerischer
Handlungen ansehen und, da der Beschwerdeführer bereits mit Begehung
des ersten Diebstahls aufgrund von Art. 41 OR Schuldner der Firma
Ernst Sutter AG geworden war, das Erfordernis des vorbestehenden
Schuldverhältnisses wenigstens inbezug auf alle späteren Handlungen
als erfüllt erachten. Aber auch bei dieser Betrachtungsweise, welche
offenbar dem Entscheid des Rekursrichters zugrunde liegt, wäre eine
Konkurseröffnung ohne vorherige Betreibung willkürlich. Denn Art. 190
Abs. 1 Ziff. 1 SchKG verlangt überdies, dass die betrügerischen Handlungen
"zum Nachteil der Gläubiger" begangen oder zu begehen versucht worden
sind. Dies wird von Lehre und Rechtsprechung dahin ausgelegt, dass die
betrügerischen Handlungen geeignet und in der Absicht begangen worden
sein müssen, die Befriedigung der Forderungsrechte aller oder einzelner
Gläubiger zu vereiteln oder zu erschweren (LEEMANN, aaO, S. 70 ff.;
BLUMENSTEIN, aaO, S. 598/99; JAEGER/DAENIKER, Komm. SchKG, 3. A., N.
8 zu Art. 190; FRITZSCHE, Schuldbetreibung und Konkurs, 2. A., Bd. II,
S. 30; BGE 78 I 123; ZR Bd. 34 Nr. 103; ZBJV Bd. 76 S. 250).

    Auch im Entscheid des Rekursrichters wird nicht behauptet, dass die
vom Beschwerdeführer begangenen Diebstähle schon an sich geeignet gewesen
seien, die Befriedigung der bereits bestehenden Forderungsrechte der
Firma Ernst Sutter AG zu gefährden. Der Rekursrichter nimmt jedoch an,
eine Beeinträchtigung der Gläubigerrechte liege im nachträglichen Verkauf
der gestohlenen Ware. Diese Auffassung ist unhaltbar. Im angefochtenen
Entscheid wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer die gestohlenen
Fleischwaren zusammen mit rechtmässig erworbener Ware in seiner Metzgerei
zum Verkauf angeboten und an gutgläubige Kunden zum normalen Preis
veräussert hat. Weshalb dadurch die Zahlungsfähigkeit des Beschwerdeführers
beeinträchtigt worden sein soll, ist nicht erfindlich. Denn an die Stelle
der verkauften Ware trat im Vermögen des Beschwerdeführers als Gegenwert
der Detailverkaufserlös. Im nachträglichen Verkauf der gestohlenen Ware
könnte höchstens dann eine Beeinträchtigung der Gläubigerrechte der
Firma Ernst Sutter AG erblickt werden, wenn der Beschwerdeführer den
Erlös heimlich beiseite geschafft oder auf der Stelle verschwenderisch
ausgegeben hätte, was indessen nie behauptet worden ist. Dazu kommt,
dass es sich bei den gestohlenen Fleischwaren zumindest zum Teil um rasch
verderbliches Gut handelte, das bei Aufbewahrung wohl wertlos geworden
wäre. Die Auffassung des Rekursrichters, der Verkauf der gestohlenen
Fleischwaren stelle eine betrügerische Handlung im Sinne von Art. 190
Abs. 1 Ziff. 1 SchKG dar, lässt sich somit nicht mit sachlichen Gründen
vertreten. Die Beschwerde ist daher gutzuheissen und der Rekursentscheid,
welcher die vom erstinstanzlichen Richter ausgesprochene Konkurseröffnung
ohne vorherige Betreibung bestätigt, aufzuheben.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird, soweit darauf eingetreten werden kann,
gutgeheissen und das Urteil des Rekursrichters für Schuldbetreibung und
Konkurs des Kantonsgerichtes St Gallen vom 19. Januar 1971 aufgehoben.