Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 I 286



97 I 286

41. Urteil vom 19. Februar 1971 i.S. Hew & Co. AG gegen Bau- und
Forstdepartement des Kantons Graubünden Regeste

    Bundesgesetz über die Nationalstrassen; Bauten innerhalb der Baulinien,
Bewilligungspflicht.

    1.  Zuständigkeit für den Entscheid über Baugesuche. Gegen die
Verfügung, mit welcher die untere kantonale Instanz die Bewilligung auf
Grund eines abschlägigen Vorbescheids des Eidg. Departements des Innern
verweigert hat, ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig (Erw. 1).

    2.  Abweisung der Beschwerde, weil die geplante Baute die
Verkehrssicherheit beeinträchtigen und dem künftigen Ausbau der
Nationalstrasse im Wege stehen würde (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- a) Das Bundesgesetz über die Nationalstrassen vom 8. März 1960
(NSG) bestimmt in

    Art. 22: "In den Ausführungsprojekten sind beidseits der projektierten
Strasse Baulinien festzulegen. Bei ihrer Bemessung ist namentlich auf die
Anforderungen der Verkehrssicherheit und der Wohnhygiene sowie auf die
Bedürfnisse eines allfälligen künftigen Ausbaues der Strasse Rücksicht
zu nehmen."

    Art. 23 Abs. 1:

    "Zwischen den Baulinien dürfen ohne Bewilligung weder Neubauten
erstellt noch Umbauten vorgenommen werden, auch wenn diese von der Baulinie
nur angeschnitten werden..."

    Art. 24:

    "Bauliche Massnahmen innerhalb der Baulinien sind unter Vorbehalt
strengerer Bestimmungen des kantonalen Rechtes zu bewilligen, wenn die
gemäss Art. 22 zu wahrenden öffentlichen Interessen nicht verletzt werden.

    Über Baugesuche entscheiden unter Vorbehalt von Absatz 3 die von
den Kantonen bezeichneten Behörden. Die Baubewilligung bedarf zu ihrer
Gültigkeit der Genehmigung des Eidgenössischen Departements des Innern.

    Über Baugesuche von Bundesstellen und Eisenbahnen befindet der
Bundesrat".

    b) Nach Art. 15 der bündnerischen Verordnung über den Vollzug des NSG,
vom 30. Mai 1961, entscheidet "über Baugesuche innerhalb der Baulinien"
das kantonale Bau- und Forstdepartement. Sein Entscheid kann durch
Verwaltungsbeschwerde an den Kleinen Rat weitergezogen werden (Art. 1
und 6 ff. der bündnerischen Verordnung über das Verfahren in Verfassungs-
und Verwaltungsstreitsachen vor dem Kleinen Rat, vom 30. November 1966).

    B.- Die Firma Hew & Co., Ingenieur- und Bauunternehmung AG, in Chur,
will auf ihrem an die Nationalstrasse N 13 angrenzenden Werkplatz Domat-Ems
eine Einstellhalle bauen, die bis um 9 m über die Baulinie längs der
Strasse vorspringen würde. Der Gemeinderat von Domat-Ems erteilte am
10. Februar 1970 die baupolizeiliche Bewilligung für das Vorhaben. Am
20. Februar 1970 suchte die Firma beim Bau- und Forstdepartement des
Kantons Graubünden die ausserdem gemäss Art. 23 NSG erforderliche
Bewilligung für die Überschreitung der Baulinie nach. Die kantonale
Behörde wollte dem Gesuch entsprechen, unterbreitete es aber zunächst
dem Eidg. Departement des Innern. Dieses verweigerte indessen die
Genehmigung der beabsichtigten Bewilligung. Es ersuchte das kantonale
Departement mit Schreiben vom 20. April 1970, diesen "Entscheid"
der Gesuchstellerin bekanntzugeben, und fügte bei, dass "gegen die
vorliegende Verfügung" Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht
geführt werden könne. Darauf wies das kantonale Departement mit Verfügung
vom 15. Mai 1970 das Gesuch der Firma Hew ab, wobei es die Erwägungen
und die Rechtsmittelbelehrung wiedergab, die ihm die Bundesbehörde
mitgeteilt hatte.

    C.- Die Firma Hew erhebt "gegen die Verfügung des Eidg.  Departements
des Innern vom 20. April 1970" Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Sie beantragt, die nachgesuchte Baubewilligung sei zu erteilen;
eventuell seien das Eidg. Departement des Innern und das kantonale Bau-
und Forstdepartement anzuweisen, die Bewilligung zu erteilen.

    Es wird geltend gemacht, durch die Bewilligung würden die gemäss
Art. 22 NSG zu wahrenden öffentlichen Interessen in keiner Weise
verletzt. Die Sicherheit des Verkehrs auf der Nationalstrasse würde
nicht beeinträchtigt; denn das Grundstück der Beschwerdeführerin liege
am äusseren Rand einer Kurve der Strasse, so dass die geplante Baute die
Sicht der Fahrzeugführer auf die Strasse in keiner Richtung behindern
würde. Das Bauverbot lasse sich auch nicht mit Rücksicht auf einen
allfälligen künftigen Ausbau der Strasse rechtfertigen. Nach Art. 24
NSG müsse daher dem Baugesuch entsprochen werden.

    D.- Das Eidg. Departement des Innern und das Bau- und Forstdepartement
des Kantons Graubünden beantragen die Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerdeführerin bezeichnet als Gegenstand ihrer
Beschwerde "die Verfügung des Eidg. Departements des Innern vom 20. April
1970". Gemeint ist das Schreiben, das diese Behörde damals dem kantonalen
Bau- und Forstdepartement gesandt hat. Darin heisst es in der Tat, dass
"gegen die vorliegende Verfügung" Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim
Bundesgericht geführt werden könne. Diese Rechtsmittelbelehrung, die
dann das kantonale Departement der Beschwerdeführerin mitgeteilt hat,
ist jedoch unrichtig. Sie träfe zu, wenn die Bundesbehörde einer von der
kantonalen Behörde bereits erteilten Bewilligung die Genehmigung versagt
hätte; wäre dieses dem Wortlaut des Art. 24 Abs. 2 NSG entsprechende
Verfahren gewählt worden, so läge eine mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde
anfechtbare Verfügung eines Departements des Bundesrates vor (Art. 97
Abs. 1, Art. 98 lit. b OG). Das kantonale Departement hat aber die von
der Beschwerdeführerin erbetene Bewilligung nie erteilt. Es hat zwar
ursprünglich dem Gesuch der Beschwerdeführerin entsprechen wollen,
doch hat es zunächst nicht einen Entscheid gefällt, sondern sich
an die Bundesbehörde gewandt, um "die Genehmigung zu erwirken". Das
Eidg. Departement des Innern hatte sich indessen nur darüber auszusprechen,
ob es eine allfällige Bewilligung genehmigen würde oder nicht. Es hat
also nicht eine eigentliche, beschwerdefähige Verfügung erlassen, sondern
lediglich der kantonalen Behörde einen Vorbescheid gegeben. Auf Grund des
erhaltenen abschlägigen Bescheids hat alsdann das kantonale Departement
das Gesuch der Beschwerdeführerin abgewiesen. Allerdings hat es in der
Begründung einfach die vom Eidg. Departement des Innern angestellten
Erwägungen wiedergegeben. Der Form nach hat aber nicht die Bundesbehörde,
sondern das kantonale Departement die Verfügung getroffen, durch welche
die von der Beschwerdeführerin nachgesuchte Bewilligung verweigert worden
ist. Für einen solchen Entscheid war nach allem, was vorausgegangen war,
auch nur die kantonale Behörde zuständig, wie sich aus Art. 24 Abs. 2
NSG ergibt. Als Gegenstand der erhobenen Verwaltungsgerichtsbeschwerde
muss daher die Verfügung des kantonalen Departements vom 15. Mai 1970
betrachtet werden.

    Gegen kantonale Verfügungen ist jedoch die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde grundsätzlich nur zulässig, wenn sie von
letzten Instanzen der Kantone ausgehen (Art. 98 lit. g OG). Entscheide,
die das Bau- und Forstdepartement des Kantons Graubünden nach Art. 15
der kantonalen Verordnung über den Vollzug des NSG trifft, können
aber gemäss der kantonalen Verordnung vom 30. November 1966 über das
Verfahren in Verfassungs- und Verwaltungsstreitsachen vor dem Kleinen
Rat an diesen weitergezogen werden. Träte demzufolge das Bundesgericht
auf die vorliegende Beschwerde nicht ein, so würde sie damit allerdings
nicht hinfällig. Vielmehr hätte das Gericht sie dem Kleinen Rat
zur Beurteilung zu überweisen (vgl. BGE 94 I 285); denn Art. 50 des
bündnerischen Verwaltungsgerichtsgesetzes vom 9. April 1967, der nach
Art. 2 der zitierten kantonalen Verordnung vom 30. November 1966 auch
für das Verfahren vor dem Kleinen Rat gilt, bestimmt gleich wie Art. 107
Abs. 3 OG, dass aus unrichtiger Rechtsmittelbelehrung dem Betroffenen
keine Nachteile erwachsen dürfen. Es ist aber nicht damit zu rechnen,
dass der Kleine Rat die Beschwerde schützen und die Bewilligung erteilen
würde; das ist schon deshalb nicht anzunehmen, weil das Eidg. Departement
des Innern voraussichtlich einen solchen Entscheid nicht genehmigen
würde. Die Überweisung der Beschwerde an den Kleinen Rat würde daher zu
einem Leerlauf führen, so dass es sich rechtfertigt, vom Erfordernis der
Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges abzusehen (vgl. BGE 93 I 21
E. 2b). Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist somit einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführerin beantragt, es sei ein Augenschein
vorzunehmen. Damit soll offenbar die Behauptung bewiesen werden, dass die
geplante Baute die Sicht der Fahrzeugführer auf die Nationalstrasse nicht
behindern würde. Zur Feststellung, wie es sich damit verhalte, genügt
jedoch die von der Beschwerdeführerin aufgelegte Photomontage. Auch
lässt sich aus diesem Beleg, der die projektierte Halle zeigt, ein
klarer Eindruck von der Gesamtsituation gewinnen. Ein Augenschein ist
nicht notwendig.

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerdeführerin ist der Meinung, nach Art. 24 NSG seien
Bauten innerhalb der Baulinien "grundsätzlich zulässig" und dürften nur
dann untersagt werden, wenn dies zur Wahrung der in Art. 22 umschriebenen
Interessen erforderlich sei.

    Dieser Auffassung kann nicht zugestimmt werden. Sie lässt sich nur
scheinbar aus dem Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 NSG ableiten. Durch die
Baulinien, deren Festlegung Art. 22 vorschreibt, soll der Strassenraum in
bestimmten Grenzen grundsätzlich freigehalten werden (vgl. den Randtitel
zu Art. 22-25: "Freihaltung des Strassenraumes"). Art. 23, der von den
Wirkungen der Baulinien handelt, bestimmt klar, dass zwischen diesen
weder Neubauten erstellt noch Umbauten vorgenommen werden dürfen, es sei
denn, es liege eine Bewilligung vor. Das Bauverbot ist also die Regel,
die Bewilligung die Ausnahme. Dieser Ausnahmefall ist es, der in Art. 24
geordnet wird. Nach Abs. 1 daselbst darf eine Bewilligung nur erteilt
werden, wenn die gemäss Art. 22 zu wahrenden öffentlichen Interessen
nicht verletzt werden.

    Art. 22 erwähnt u.a. "die Anforderungen der Verkehrssicherheit" und
"die Bedürfnisse eines allfälligen künftigen Ausbaues der Strasse". Im
vorliegenden Fall kommen diese beiden Gesichtspunkte in Betracht.

    a) Mit den Anforderungen der Verkehrssicherheit ist es streng zu
nehmen, da das Interesse der Öffentlichkeit an ihr von grosser Bedeutung
ist. Strenge ist umsomehr am Platz, als die Baulinienabstände an den
schweizerischen Nationalstrassen, verglichen mit den Verhältnissen im
Ausland, bescheiden sind.

    Die Beschwerdeführerin macht geltend, die geplante Einstellhalle am
äusseren Rand einer Kurve der N 13 würde die Sicht der Fahrzeugführer
auf die Fahrbahn in keiner Richtung beeinträchtigen. Dies wird von
niemandem bestritten und ergibt sich auch aus der Photomontage. Die
Verkehrssicherheit ist aber damit, dass die Verkehrsteilnehmer die Fahrbahn
ungehindert überblicken können, noch nicht genügend gewährleistet. Es
ist zu beachten, dass die von der Beschwerdeführerin projektierte
Halle in ihrer ganzen Länge von fast 80 m die Baulinie überschreiten
würde, und zwar an einer Ecke um 9 m, so dass sie bis auf 3 m an den
Abstellstreifen der auf vier Fahrspuren ausgebauten Autobahn herankäme.
Solche Bauten können den Fahrzeugführer ablenken und verwirren, besonders
wenn sie am äusseren Rand einer Biegung der Strasse stehen. Namentlich
bei Nacht können sie verkehrsgefährdende Reaktionen auslösen, wenn sie
plötzlich im Scheinwerferlicht auftauchen. Dazu kommt die Gefahr, dass
ein Motorfahrzeug, das aus der Fahrbahn getragen wird, an der Hausmauer
zerschellt. Unter diesen Umständen ist die Annahme der Verwaltungsbehörden,
dass die Bewilligung des Bauvorhabens der Beschwerdeführerin mit den
Anforderungen der Verkehrssicherheit nicht vereinbar wäre, nicht zu
beanstanden.

    Die Beschwerdeführerin wendet ein, dass einige auf ihrem Werkplatz
in Domat-Ems bereits stehende Bauten - eine Reparaturwerkstatt, eine
Schmiede, ein Magazin und ein Wohn- und Bürogebäude - die Baulinie
auch überschreiten und dass die Behörden diesen Zustand unter Vorbehalt
gewisser Anpassungsarbeiten weiterhin dulden. Das ist jedoch kein Grund,
den geplanten Neubau, durch den die störende Gebäudefront um rund 80 m
verlängert würde, ebenfalls zuzulassen.

    b) Der Bewilligung des Neubaus stehen auch die Bedürfnisse eines
allfälligen künftigen Ausbaus der N 13 entgegen. Der Verkehr auf den
Autobahnen mit zwei Fahrspuren in beiden Richtungen ist heute schon
zeitweilig so dicht, dass er sich vielfach nicht mehr flüssig abwickeln
kann, und es ist vorauszusehen, dass er weiter zunehmen wird. Seine mit
Bestimmtheit zu erwartende Entwicklung lässt es als hinlänglich geboten
erscheinen, Raum für eine dritte Fahrspur freizuhalten. Der hier in Frage
stehende Baulinienabstand ermöglicht dies. Die von der Beschwerdeführerin
geplante Halle würde aber dem Ausbau der Strasse auf eine dritte Spur im
Wege stehen.

    c) Schliesslich macht die Beschwerdeführerin geltend, das ihr
entgegengehaltene öffentliche Interesse wäre, wenn es wirklich bestände, so
gering, dass es hinter ihrem privaten Interesse zurücktreten müsste. Wäre
eine Interessenabwägung vorzunehmen, so könnte sie aber nicht zugunsten
der Beschwerdeführerin ausfallen. Den öffentlichen Interessen, die hier zu
wahren sind, ist grosses Gewicht beizumessen. Dazu kommt, dass sie durch
die bescheidene Bemessung des Baulinienabstandes recht schwach geschützt
sind. Daher könnte das Gesuch der Beschwerdeführerin nur durchdringen,
wenn ihre privaten Interessen an der Bewilligung eindeutig überwögen. Das
ist offensichtlich nicht der Fall. Vorbehalten bleibt die Frage, ob
die Verweigerung der Bewilligung einen Anspruch der Beschwerdeführerin
auf Entschädigung begründe (Art. 25 NSG). Darüber ist in diesem Urteil
nicht zu befinden.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen.